Chancen und Grenzen des neuen Bundeskinderschutzgesetzes im Bezug auf die "Frühen Hilfen"


Thèse de Bachelor, 2012

73 Pages


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Einleitung

Kapitel 1 Vorgeschichte zum neuen Bundeskinder-schutzgesetz
1.1 Kindeswohl in der UN-Kinderrechtskonvention
1.2 Kindeswohl aus verfassungsrechtlicher Sicht
1.3 Zur Herstellung eines politischen Handlungsbedarfes
1.4 Politische Reaktionen
1.5 Zur Finanzierung der Gesetzesumsetzung

Kapitel 2 Wissenschaftliche Erkenntnisse als Grundlage für "Frühe Hilfen"
2.1 Einfluss der Sozialisationssysteme auf die kindliche Entwicklung
2.2 Besonderheiten der frühen Kindheit
2.3 Annäherung an den Begriff der Kindeswohlgefährdung
2.3.1 Vernachlässigung
2.3.2 Körperliche Misshandlung
2.3.3 Seelische Misshandlung
2.3.4 Sexueller Missbrauch
2.4 Zur Bedeutung der Feinfühligkeit

Kapitel 3 Anforderungen und Stolpersteine bei der Umsetzung
3.1 Eckpunkte des Gesetzes
3.2 Information der Eltern über Unterstützungsangebote in Fragen der Kindesentwicklung
3.3 Verbindliche Netzwerkstrukturen im Kinderschutz
3.4 Kooperation einer Vielzahl von Akteuren
3.5 Erfassung von Misshandlungen
3.6 Befugnisnorm der Berufsgeheimnisträger
3.7 Der einseitige Fokus auf die “Frühen Hilfen”
3.8 Niederschwelligkeit der “Frühen Hilfen”

Kapitel 4 Analyse von Chancen und Grenzen

Kapitel 5 Fazit

Literaturverzeichnis

Vorwort

Diese Arbeit möchte ich meinen Eltern und insbesondere meiner im Vorfeld dieser Arbeit verstorbenen Mutter widmen, die mir neben einem gesunden Glauben an mich selbst vor allen das unerschütterliche Vertrauen an das Gute im Menschen als ein zutiefst soziales Wesen mit auf meinen Lebensweg gegeben haben und das Wissen, dass Krisen und Hindernisse keine unüberwindbaren Barrieren sind, sondern Herausforderungen, die es zu überwinden gilt um zu neuen Perspektiven zu gelangen.

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1

Studie von Arno Görgen und Sebastian Kessler Präsenz des Themas Kindeswohlgefährdung in den Medien und der "Konjunktur" der entsprechenden Gesetzesvorlagen.

Abbildung 2

Reinhardt Wolff: Kindeswohlgefährdung und Vernächlässigung. Systemqualität und Systemkongruenz.

Einleitung

„ Vor ihren Augen verhungerte ihre f ü nfj ä hrige Tochter Lea-Sophie, doch Stefan T. und Nicole G. sahen tatenlos zu “ - „ Bremer Polizisten entdeckten im Oktober 2006 den toten Kevin im K ü hlschrank seines drogenabh ä ngigen Ziehvaters “ - „ Die Katze bekam zu essen und konnte sich frei bewegen, Jessica aus Hamburg verhungerte und war eingesperrt. “ *Quellen s. Literaturverzeichnis S. 72

Diese und viele weitere dramatische Fälle von Vernachlässigung und Misshandlung an schutzbedürftigen Kindern, teils sogar mit Todesfolge, finden sich regelmäßig in den Medien und nachvollziehbarerweise dann auch im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses oft genug mit der je nach Pressemedium mehr oder minder unterschwellig transportierten Zusatzbotschaft, dass diese Fälle nicht zuletzt auch Ausdruck einer sich wandelnden Gesellschaft sind bzw. der Problematik bestimmter sozialer Gruppen.

Mangelnde Fürsorge, physische, psychische oder gar sexuelle Misshandlung sind nach allen einschlägigen Erfahrungen nicht einem wie auch immer gearteten Strukturwandel geschuldet, sondern gehören unbestritten in manchen Familien bedauerlicherweise zum Alltag. Außenstehende sehen sich in solchen Fällen regelmäßig nicht nur mit der Frage konfrontiert, wie “so etwas” geschehen konnte, sondern auch mit der Frage nach den Verantwortlichkeiten. Schwierig wird es, wenn wir persönlich, sei es als Fachkraft oder Privatperson Kenntnis erlangen von Situationen, oder Handlungen beobachten, die dem Bereich der Kindeswohlgefährdung zuzuordnen sind. Zumeist handeln die Eltern nämlich nicht aus Überzeugung, sondern reagieren inadäquat auf Lebensumstände, die sie zu diesem Zeitpunkt überfordern. Diese Sicht der Dinge ist auch Ausfluss der Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts, wonach, Eltern grundsätzlich am besten zur Pflege und Erziehung und damit auch zum Schutz ihrer Kinder geeignet sind.

Das neue Gesetz zur Stärkung eines aktiven Schutzes von Kindern und Jugendlichen (BKiSchG), das am 01.01.2012 in Kraft trat, soll nun die Rahmenbedingungen schaffen, dass Familien eine umfassende Unterstützung erfahren mit dem Ziel, eventuelle Grenzsituationen gar nicht erst entstehen zu lassen bzw. durch entsprechend genutzte Hilfsangebote abzumildern.

Während meiner Hospitation im Jugendamt Lindau hatte ich die Möglichkeit, die ersten Schritte zur Umsetzung des BKiSchG begleiten zu können. Die vielen damit verbundenen Unsicherheiten, die in Fragen münden wie die nach

- den geeigneten Wegen und Methoden wie die in Frage kommenden Akteure für eine Zusammenarbeit gewonnen werden können
- der richtigen und sinnvollen Ausgestaltung des Rechtsanspruchs auf Beratung durch eine insoweit erfahrenen Fachkräfte
- der Information wirklich aller Eltern
- dem Transport geeigneter Hilfen ohne tatsächliche oder vermeintliche Kontrollaspekte
- und nicht zuletzt der Frage, nach der Finanzierung, weckten mein Interesse, den Gesetzestext genauer anzuschauen.

Im Rahmen meiner Literarturarbeit werde ich mich bei der Beantwortung dieser Fragen auf den Kernbereich des BKiSchG, die “Frühen Hilfen”, konzentrieren. Zentrale Frage ist, ob das BKiSchG tatsächlich der “große Wurf” und geeignet ist, den Kinderschutz nachhaltig zu verbessern oder ob es sich hier nicht möglicherweise um einen “Schnellschuss” handelt, der in erster Linie darauf abzielt, mit einem gewissen Aktionismus die angesichts der drastischen Fälle von Kindstötungen irritierten Öffentlichkeit zu beruhigen und die Handlungsfähigkeit der Legislative zu demonstrieren. In meiner Arbeit werde ich deshalb die großen Chancen, aber auch die Grenzen des BKiSchG im Bezug auf die “Frühen Hilfen” aufzeigen.

Im ersten Kapitel werde ich das Augenmerk auf die Vorgeschichte des neuen Bundeskinderschutzgesetzes richten und der Frage nach den Ursachen und Beweggründen dieser Gesetzesänderung nachgehen und damit auch der Frage, ob die Fälle von Kindeswohlgefährdung tatsächlich zunehmen oder mit dem neuen Gesetz doch eher der medialen Präsenz dieses Themas Rechnung getragen wird.

Im zweiten Kapitel werden die Eckpunkte des neuen Gesetzes näher beleuchtet und mit ihnen die Absichten des Gesetzgebers und mögliche Schwierigkeiten in der praktischen Umsetzung. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage zu stellen sein, warum der Gesetzgeber seinen Hauptfokus zwar auf die “Frühen Hilfen” gerichtet hat, bei der Schaffung der nötigen Rahmenbedingungen aber offenbar mit einer gewissen Zögerlichkeit zu Werke ging.

Im dritten Kapitel werden die angesprochenen Akteure sowie ihre Möglichkeiten und Grenzen näher erläutert. Die abschließende Analyse fasst die Chancen und Grenzen des neuen Bundeskinderschutzgesetzes zusammen.

Anmerkung: Die von mir in der vorliegenden Bachelorarbeit verwendete ausschließliche männliche Form dient einzig der Vereinfachung des Leseflusses und schließt auch die weibliche Form mit ein.

Kapitel 1 Vorgeschichte zum neuen Bundeskinder- schutzgesetz

1.1 Kindeswohl in der UN-Kinderrechtskonvention

Nach der Annahme der UN-Kinderrechtskonventionen 1989 durch die UN- Generalversammlung unterzeichneten die Länder der UN die Konventionen, ausgenommen Somalia und die USA. Einige weitere Länder, darunter auch Deutschland, machten Vorbehalte geltend. So führte insbesondere Art. 3 Abs.1 der UN-KRK zu Problemen „ bei allen Ma ß nahmen, die Kinder betreffen, gleichwohl ob sie von ö ffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen F ü rsorge, Gerichte, Verwaltungsbeh ö rden oder Gesetzgebungsorgan getroffen werden, [ist … ] das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu ber ü cksichtigen ist “ (BMFSFJ 2006). Ziel dieser Intervention war es, die unmittelbare Anwendbarkeit auf die deutsche Rechtsprechung auszuschließen. Aus diesem Grund wurden die UN-Konventionen dahingehend interpretiert, dass diese allgemeinen Bestimmungen lediglich zwischenstaatlichen Charakter haben könnten und deshalb keine Rechtsgrundlage für die Geltendmachung individueller Ansprüche darstellen. Dementsprechend gab es in den folgenden zwanzig Jahren auch keinerlei Umsetzung in die Rechtspraxis. Erst im Juli 2010 erfolgte die Rücknahme der Einschränkung mit der Folge, dass die Bestimmungen der Konvention nun umgesetzt werden mussten (CREMER 2011: 3).

Bereits 2008 legte die damalige Große Koalition ein Bundeskinderschutzgesetz vor, das jedoch an der darin enthaltenen Regelverpflichtung zum Hausbesuch bei Verdacht einer Kindeswohlgefährdung scheiterte. Insbesondere die Fachwelt führte seinerzeit große Bedenken an. Sie befürchtete den Rückfall in Zeiten, in denen sich das Jugendamt noch als Kontrollinstanz verstand. Nachvollziehbar wird diese Furcht bei einem Blick auf Position und Funktion der sozialen Arbeit im Unrechtsregime des Nationalsozialismus und dem damit einhergehenden institutionalisierten Missbrauch sozialer Arbeit. Diese “Erbschuld” war ausschlaggebend dafür, dass der Teil der nachgehenden Arbeit in der Nachkriegsära immer weiter in den Hintergrund trat und sich die Soziale Arbeit mehr und mehr aus dem privaten Raum zurückzog um sich nicht erneut dem Verdacht auszusetzen, in erster Linie Kontrolle auszuüben. Soziale Arbeit verstand sich in der Folge in erster Linie als reine Dienstleistung, die nur auf Wunsch erbracht wird. Der Zugang zu Familien ohne deren ausdrücklichen Wunsch trägt nach diesem Selbstverständnis den Makel des Zugriffs. Diese selbstauferlegte Zurückhaltung, verbunden mit der Hoffnung, dass Hilfesuchende aus eigenem Antrieb den Kontakt zur Sozialen Arbeit suchen werden, hat sich angesichts der schweren Fälle von Kindesmisshandlungen in der Folge jedoch als sehr problematisch erwiesen (KURZ-ADAM 2011: 108). Das neue BKiSchG impliziert mit dem Ausbau der Frühen Hilfen und den Familienhebammen einen vorsichtigen Richtungswechsel, auf den im späteren Verlauf noch näher eingegangen wird.

1.2 Kindeswohl aus verfassungsrechtlicher Sicht

In Artikel 6 Absatz 2 der Grundgesetzes (GG) wird das verfassungsrechtlich garantierte Elternrecht definiert: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft“. Grundrechte sind historisch als unmittelbarer Ausfluss der Menschenrechte zu sehen und von daher zuvorderst als “Abwehr-” bzw. “Schutzrechte” des Einzelnen gegen die “staatliche Obrigkeit” zu verstehen und beziehen genau aus diesem Verständnis heraus ihren ganz besonderen Schutzstatus.

Von den weiteren, im GG genannten Grundrechten unterscheidet sich das Elternrecht jedoch insofern, als es sich bei diesem Recht der Eltern gleichzeitig auch um ein mit Pflichten gegenüber dem Kind verbundenes Recht handelt (SCHINDLER 2011: 33). Die grundsätzlich angedachte staatliche Neutralität und die Gewährleistung der Autonomie des Einzelnen finden durch die Verpflichtung der Eltern somit ihre natürlichen Grenze. Der Gesetzgeber geht hier davon aus, dass es Situationen geben kann, in denen die individuelle Interpretation von Art und Umfang der in Artikel 6 Absatz 2 GG definierten Elternrechte den davon betroffenen Kindern Schaden zufügen kann. Dem Staat wird also die Funktion eines Wächters eingeräumt und damit in bestimmten Fällen auch die Möglichkeit zur Intervention (HUSTER 2002: 59). Ganz wichtig:

Der Begriff „staatliche Gemeinschaft“ schließt eindeutig die Übertragung dieses Wächteramtes auf Private (beispielsweise freie Träger) aus. Der Staat hat hier also eine eindeutige und nicht übertragbare Überwachungs- und Kontrollfunktion (HEILMANN 2002: 2). Das neue Bundeskinderschutzgesetz hat mit §1 Abs. 3 den beiden hohen Rechtsgütern “Freiheits- und Pflichtenrecht” insofern Rechnung getragen, als der Unterstützung der Eltern durch Information und Beratung eine zentrale Bedeutung zugeschrieben wird. Der Hauptfokus wird demnach auf den präventiven Kinderschutz gelegt (BT-DRUCKS. 17/6256).

1.3 Zur Herstellung eines politischen Handlungsbedarfes

Zunächst ist die Frage zu klären, warum dringender Handlungsbedarf entstanden ist. Tragische Kinderschutzfälle wie Kevin, Lea-Sophie oder Jessica lassen den Eindruck entstehen als nähmen solche Fälle an Häufigkeit zu. Die Datenlage zur Misshandlung von Kindern indes ist sehr ungenau. Es gibt keine verlässliche, empirische Dauerbeobachtung zum Ausmaß der Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern (BUNDESGESUNDHEITSBLATT 2010). Die Dunkelziffer wird als sehr hoch bezeichnet. Entsprechende Datenerhebungen erfolgen zumeist erst dann, wenn Misshandlungen offenkundig werden - im Regelfall also nur in schwereren und von Ärzten, Einrichtungen oder Ämtern angezeigten Fällen (ZIEGLER 1990: 21).

Die polizeiliche Kriminalstatistik weist folgende Daten auf:

Hellfeld

Polizeiliche Kriminalstatistik ( § 225 StGB, Misshandlung von Kindern unter 14 Jahren):

1990: 1345 Kinder 2008: 4102 Kinder 2009: 4126 Kinder

Dieser Anstieg lässt eher auf eine erhöhte Aufmerksamkeit als auf einen tatsächlich höheres Aufkommen schließen.

Dunkelfeld:

10 bis 15 % der Eltern wenden schwerwiegendere und häufigere körperliche Bestrafungen an.

Kindstötungen:

2009: 152 Opfer unter 14 Jahren 2010: 183 Opfer unter 14 Jahren 2009: 123 Kinder unter 6 Jahren 2010: 129 Kinder unter 6 Jahren

Obwohl es schwere und massive Fälle von Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern schon zu allen Zeiten gab und die Statistiken keinen tatsächlichen Anstieg verzeichnen, wird diese Thematik von den Medien immer wieder aufgegriffen. Über die Beweggründe darf spekuliert werden. Der Öffentlichkeit zeigt sich subjektiv ein anderes, möglicherweise verzerrtes Bild. Den Druck, den die Bundesregierung bei der Verabschiedung des BKiSchG offenbart hat, könnte möglicherweise auch an dieser medialen Präsenz liegen. Eine Studie von Arno Görgen und Sebastian Kessler zeigt den Zusammenhang von medialer Präsenz zum Thema „Kindesmisshandlung“ und dem Aktionismus des Gesetzgebers.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 (Quelle: Arno Görgen und Sebastian Kessler)

Die bislang unveröffentlichte Studie zeigt eindeutig den Zusammenhang zwischen der Präsenz des Themas Kindeswohlgefährdung in den Medien und der “Konjunktur” der entsprechenden Gesetzesvorlagen. Die blaue Linie zeigt die Anzahl der gefundenen Berichte in den Medien. Die Berichte über besonders spektakuläre Fälle, löst in der Politik demnach immer Handlungsbedarf aus (der Abschlussbericht der Studie wird voraussichtlich im Herbst 2012 in der Fachpresse erscheinen). Der Vollständigkeit halber soll nicht unerwähnt bleiben, dass diese Korrelation kein ausschließlich auf kinderschutzrechtliche Belange konzentriertes Phänomen ist.

1.4 Politische Reaktionen

Im Oktober 2005 verabschiedete der Bundestag § 8a SGBVIII “Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung” mit dem in der Folge nicht nur eine politische, sondern auch eine fachliche Diskussion zur Verbesserung des Kinderschutzes ausgelöst wurde.

Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD wird das Projekt zur „frühen Förderung gefährdeter Kinder“ vereinbart. Zum ersten Mal sollen Leistungen des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe miteinander verknüpft werden. Dafür werden von 2006 bis 2010 zehn Millionen Euro bereitgestellt (Koalitionsvertrag: Ziele 4789ff). Der Bund richtet dazu das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) als Kompetenzzentrum ein. Hier soll nicht nur das Wissen aus Theorie und Praxis gebündelt, sondern auch standardisierte Hilfestellung an die Jugendämter bereitgestellt werden (MEYSEN/ESCHELBACH 2012: 27).

Aufgrund der starken medialen Präsenz bei dem Fall „Lea Sophie“ lädt die Bundeskanzlerin 2007 die Regierungschefs der Länder zum 1. Kinderschutzgipfel ein. Die SPD Bundestagsfraktion sowie die Regierungschefs der SPD-regierten Bundesländer legen einen 7 Punkte-Aktionsplan vor:

1. Passende Hilfen für Eltern von Anfang an Hier sollen Risiken in Familien durch Hausbesuche von Mitarbeitern der Jugendhilfe bzw. Gesundheitshilfe durch konkrete Hilfestellungen gemindert werden.
2. Starke Netze für Kinder und Eltern Die Vernetzung zwischen Gesundheitswesen, Kinder- und Jugendhilfe, den Sozialämtern, den Familiengerichten und der Polizei soll verbessert werden, damit gegebenenfalls rechtzeitig eingegriffen werden kann.
3. Rechtsanspruch auf Bildung und Betreuung ab Eins
4. Handlungsfähige Jugendämter, verantwortungsvolle Bürger und Bürgerinnen Darunter fallen eine gute und qualifizierte Personalausstattung der Jugendämter und eine stärkere Verpflichtung zu Hausbesuchen. Durch die Initiierung von Netzwerken in den sozialen Räumen soll eine Kultur des „Hinschauens“ geschaffen werden.
5. Verbindliches Einlade-System für Vorsorgeuntersuchungen Jedes Kind soll an den Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen um Entwicklungsverzögerungen, drohende Behinderung und Gesundheitsstörungen frühzeitig erkennen zu können.
6. Vorsorgeuntersuchungen verbessern Die Qualität der medizinischen Vorsorgeuntersuchungen soll verbessert und die Intervalle zwischen den Untersuchungsterminen verkürzt werden.
7. Kinderrechte sollen im Grundgesetz verankert werden. Das hohe Gut des Elternrechts soll dort seine Grenzen finden, wo Kinderrechte verletzt werden (SPD NÜRNBERG 2011).

Bis auf Punkt sieben haben alle Aspekte ihre Umsetzung im neuen Bundeskinderschutzgesetz gefunden. Die Begründung der Bundesregierung, warum Kinderrechte nicht explizit aufgenommen wurden, ist durchaus kritisch zu betrachten.

Darin wird argumentiert, dass Kinder-Grundrechte den Artikeln 2 Abs.1 (Freie Entfaltung der Persönlichkeit), Abs.2 Satz1 (Leben und körperliche Unversehrtheit), Artikel 3 (Gleichheit vor dem Gesetz, insbesondere Gleichbehandlung vor dem Gericht, Artikel 6 und Artikel 103 (Grundrechte vor dem Gericht) bereits zugeordnet sind, da unter dem Begriff „Mensch“ auch Kinder erfasst seien. Formal betrachtet mag das richtig sein, werden Kinder unbeschadet dieser Argumentation jedoch nicht explizit im Grundgesetz berücksichtigt, bleibt es eine “Verfassung für Erwachsene". Eine eigene, rechtliche Positionierung auf Grundgesetzebene würde nicht nur die individuellen Bedürfnisse von Kindern stärker berücksichtigen, sondern sich zudem auch direkt auf das einfache Recht auswirken. Durch die Einbindung ins Grundgesetz könnten für Kinder und Jugendliche zudem bessere finanzielle Ausstattungen gefordert werden (LÜTKES, 2007).

Ein weiteres Argument ist, dass die Beteiligung von Kindern an allen sie betreffenden politischen Entscheidungen durch einen entsprechenden Zusatz umgesetzt werden könnte. Der Verweis auf das Aufgehen des Kindes im Oberbegriff „Mensch“ geht jedoch an den individuellen Bedürfnissen von Kinder und Jugendlichen vorbei. Traditionell werden den Eltern und den staatlichen Institutionen immer noch höhere Rechte eingeräumt (LÜTKES, 2007).

Nach einem Gesetzesentwurf der Bundesregierung und der Regierungschefs der Bundesländer sollten identifizierte gesetzliche Lücken geschlossen werden. Ziel dieser Vorlage war im Wesentlichen die Erhöhung der Rechtssicherheit bei der Abwägung der Schweigepflicht, die Pflicht der Jugendämter, gefährdete Kinder in ihrem häuslichen Umfeld zu begutachten sowie die lückenlose Datenweitergabe an andere Jugendämter bei Wohnortswechseln (MEYSEN/ESCHELBACH 2012: 29).

Dieser Gesetzentwurf fand jedoch keine Mehrheit. Der rein interventionistische Ansatz sowie der Hausbesuch als zentrales Element wurden von der Fachwelt zudem als unzureichend eingestuft. Dieses Gesetz drückte die misstrauische Haltung der damaligen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen gegenüber den Jugendämtern und der Kompetenz der Fachkräfte in den sozialen Diensten aus. Stattdessen forderte sie die Erweiterung der Kontrollmechanismen der Jugendämter, was seinen konkreten Niederschlag in der gesetzlich verankerten Pflicht zu Hausbesuchen finden sollte. Damit sähen sich die Fachkräfte noch größeren Hürden in Bezug auf Vertrauensbildung mit den Klienten gegenüber (MEYSEN/ESCHELBACH 2012: 30).

Anfang 2010 beginnt das BMFSFJ mit der inhaltlichen Auseinandersetzung für einen neuen Gesetzentwurf zum Thema Kinderschutz. Gleichzeitig tagt der „Runde Tisch“ zum Thema „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ und der „Runde Tisch“ zum Thema „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“. Beide legen im Dezember 2011 ihren Abschlussbericht vor; die darin ausgearbeiteten Grundlagen fließen nun in die Konkretisierung des neuen Bundeskinderschutzgesetzes ein. Der politische Wille, eine einheitliche, bundesweite Regelung zu treffen, zeigt sich daran, dass es sich um ein so genanntes Mantel- oder Artikelgesetz handelt.

Kennzeichen eines solchen Gesetzes ist es, mehrere Gesetze und/oder unterschiedliche Inhalte in sich zu vereinen. Voraussetzung ist allerdings, dass die einzelnen Teile des Gesetzes in einem sachlichen Kontext stehen. Mit "Mantelgesetz" werden deshalb i.d.R Änderungsgesetze bezeichnet, die das Ziel haben, eine klar definierte Thematik in einer größeren Anzahl von Fachgesetzen zu ändern. Auf diese Weise können in einem einzigen Rechtsetzungsakt verschiedene Gesetze geändert, aufgehoben oder neu geschaffen werden. Damit soll zum einen verhindert werden, dass die einzelnen Änderungen in den verschiedenen Gesetzbüchern “untergehen”, zum anderen will der Gesetzgeber damit die unterschiedlichen Gesetze in den einzelnen Bundesländern vereinheitlichen (HANDBUCH DER RECHTSFÖRMLICHKEIT).

1.5 Zur Finanzierung der Gesetzesumsetzung

Die angestrebte „Fondlösung“ stößt an die Grenzen der finanzverfassungsrechtlichen Zuständigkeit. Nach Artikel 104a Absatz 1GG gilt der Grundsatz der Konnexität von Aufgabenverantwortung und Ausgabenlast. Die psychosoziale Unterstützung von Familien ist eine geldwerte Sachleistung oder vergleichbare Dienstleistung, für die es nur sehr begrenzte Ausnahmen gibt.

Aufgrund der in diesem Zusammenhang existierenden hierarchischen Zuständigkeitsstruktur zwischen Bund und Ländern kann der Bund die entsprechenden Gelder nicht direkt an die Kommunen verteilen.. Es sind deshalb die einzelnen Bundesländer gefordert, die Vorgaben des Bundes in entsprechende Verwaltungsvereinbarungen umzusetzen. Die vom Bund bereitgestellten und zweckgebundenen Finanzmittel belaufen sich unter dem Vorbehalt der zu Verfügung stehenden Haushaltsmittel wie folgt auf:

Haushaltsjahr 2012: 30 Millionen Euro

Haushaltsjahr 2013: 45 Millionen Euro

Haushaltsjahr 2014: 51 Millionen Euro

Haushaltsjahr 2015: 51 Millionen Euro

Auf die Länder aufgeteilt werden sollen diese Mittel auf Basis des Königsteiner

Schlüssels und unter Berücksichtigung sozialräumlicher Gesichtspunkte. Maßstab dafür ist die Zahl der Kinder im Alter von 0 bis 3 Jahren im Transferleistungsbezug nach SGB II.

Förderfähig sind Maßnahmen, die nicht schon am 1. Januar 2012 bestanden haben. Erfolgreiche Ansätze sind darüber hinaus förderfähig, wenn sie zum Regelangebot ausgebaut werden. Dazu gehören insbesondere der Aus- und Aufbau und die Weiterentwicklung von Netzwerken sowie der Einsatz von Familienhebammen und vergleichbarer Berufsgruppen unter Einbeziehung ehrenamtlicher Strukturen. Gefördert werden insbesondere Netzwerkkoordinatoren in den Koordinierungsstellen, Maßnahmen zur Dokumentation und Evaluation der Netzwerkprozesse, Veranstaltungen oder Qualifizierungsangebot und unterstützende Öffentlichkeitsarbeit. Ebenso wird der Einsatz von Familienhebammen und anderen Mitarbeitern des Gesundheitswesens gefördert sowie deren Qualifizierung, Fortbildung, Fachberatung und Supervision (vgl. VERWALTUNGSVEREINBARUNG BAYERISCHER LANDKREISTAG 2012).

Nach Klärung der verbliebenen noch offenen Finanzierungsfragen im Vermittlungsausschuss konnte dann das BKiSchG am 01.01.2012 in Kraft treten. Es bleibt abzuwarten, in welchem Umfang die Ergebnisse der im Gesetz vorgeschriebenen Evaluation den finanziellen Rahmen nachhaltig zu gestalten vermögen. Dass dann auch eine Debatte um eine Beteiligung der GKV stattfinden wird, ist vorhersehbar (WIESNER 2012).

Die fast ausschließliche Betonung der finanziellen Ausstattung der “Frühen Hilfen“, ist ein deutliches Signal dafür, dass Kinderschutz nun verstärkt präventiv ausgestaltet werden soll.

Kapitel 2 Wissenschaftliche Erkenntnisse als Grundlage für "Frühe Hilfen"

2.1 Einfluss der Sozialisationssysteme auf die kindliche Entwicklung

Familien haben sich erst in der Moderne, im Zuge von Individualisierungsprozessen zu eigenständigen, sozialen Systemen entwickelt. Die “private” Familienwelt trifft auf die äußere Gegenwelt, was eine mehr oder minder vollständige Abschottung nach außen zur Folge haben kann. Die Modelle innerhalb der Familien können sich dabei stark von den als allgemeinverbindlich geltenden Vorstellungen der jeweiligen Gesellschaft unterscheiden. Für das gute Aufwachsen von Kindern ist es daher bedeutsam, ob und in welchem Ausmaß die unterschiedlichen Außeneinflüsse und - erwartungen verkraftet und gemeistert werden können. Den Übergängen von einem System in das andere kommt daher eine große Bedeutung zu. Risiken und Probleme für Kinder und Jugendliche sind vor allem an diesen Schnittstellen zu beobachten. Hier sind insbesondere die Übergänge von der Geburtsklinik in die Familie, von der Familie in die Kindertageseinrichtung und von der Familie in die Schule zu nennen (WOLFF 2007:48).

Die Entwicklung eines Kindes findet niemals in einem Vakuum statt, sondern ist immer im Kontext mit der Umwelt eingebettet und findet dort durch ein entsprechendes Verhalten ihren Ausdruck. Je günstiger die sich gegenseitig beeinflussenden Systeme gestaltet sind, desto positiver verläuft die Entwicklung eines Kindes (WOLFF 2007: 49).

Die Systemqualität und die Systemkongruenz fassen sich wie folgt zusammen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]

Fin de l'extrait de 73 pages

Résumé des informations

Titre
Chancen und Grenzen des neuen Bundeskinderschutzgesetzes im Bezug auf die "Frühen Hilfen"
Université
University of Applied Sciences Ravensburg-Weingarten  (Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege)
Auteur
Année
2012
Pages
73
N° de catalogue
V312357
ISBN (ebook)
9783668114319
ISBN (Livre)
9783668114326
Taille d'un fichier
879 KB
Langue
allemand
Mots clés
chancen, grenzen, bundeskinderschutzgesetzes, bezug, frühen, hilfen
Citation du texte
Sylvia Schmid (Auteur), 2012, Chancen und Grenzen des neuen Bundeskinderschutzgesetzes im Bezug auf die "Frühen Hilfen", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/312357

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