Die Wissenskluft-Perspektive

Inwiefern vertiefen Massenmedien bereits bestehende soziale Ungleichheiten in einem demokratischen Gesellschaftssystem?


Bachelorarbeit, 2014

52 Seiten, Note: 1,0

Frank Harper (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. „Knowledge Gap“ - Die Ausgangshypothese

3. Empirische Begründung der Hypothese

4. Weiterentwicklung der Ausgangshypothese
4.1 Differenzierung nach Themen
4.2 Differenzierung nach Wissensformen
4.3 Differenzierung nach Einflussfaktoren
4.4 Differenzierung nach Art der verursachten Klüfte

5. Zwischenresümee

6. Das Fernsehen als „Knowledge-Leveler“?

7. Das Gesellschaftssystem der Moderne

8. Wissenskluftforschung heute: „Digital Divide“

9. „Digital Divide“ – Eine reale Bedrohung?

10. Neue Medien und soziale Ungleichheiten

11. Closing the Gaps – Konzepte, Kritiken und Kalamitäten

12. Fazit

13. Literaturquellenverzeichnis

1. Einleitung

Tag für Tag versorgen verschiedene Medienkanäle die deutsche Bevölkerung mit aktuellen Nachrichten. Die Errungenschaften in den Bereichen der Massenmedien und der digitalen Technologien ermöglichen jederzeit und allerorts einen Zugriff auf die aktuellsten Informationen. In unserer „Informations- und Wissensgesellschaft“ (Zillien 2009) ist die Nachrichtenversorgung gar Bestandteil der verfassungsrechtlich gesicherten „Grundversorgung“. Die öffentlich-rechtlichen Nachrichtenversorger sind angehalten, die demokratische Ordnung und das kulturelle Leben in der Bundesrepublik zu bewahren und zu befördern (BVerfGE 73, 118 155 ).

Im Jahre 1970 stellten Tichenor, Donohue und Olien ihre Hypothese der wachsenden Wissensklüfte vor und stellten damit die bisherigen Erkenntnisse der Medienwirkungsforschung auf den Prüfstand. Der, wie ursprünglich angenommen, homogenisierenden Rolle der Massenmedien (Integration und Sozialisation) stellte sich somit eine dysfunktionale Differenzierungstheorie entgegen (Isolation und Ungleichheit). Die Autoren der Wissenskluft-Hypothese argumentieren, dass Massenmedien eine strukturelle Ungleichverteilung von Wissen transportieren. Steigt demnach der medienvermittelte Informationsfluss in einem Gesellschaftssystem, so verstärken sich auch die Wissensdisparitäten zwischen den Bevölkerungssegmenten mit einem höheren und einem niedrigeren sozioökonomischen Status, da Erstere in größerem Ausmaß von diesen Informationen profitieren. Dieses (scheinbar) paradoxe Phänomen ist Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit. Denn obgleich die Formulierung der Ausgangshypothese bald ein halbes Jahrhundert zurück liegt, so erfährt die Wissenskluftforschung unter der Maxime „Digital Divide“ noch heute eine rege Beforschung und ist von großer gesellschaftspolitischer Brisanz.

Der konfliktorientierte und gesellschaftskritische Ansatz der Wissenskluft-Hypothese zieht jedoch nicht nur die Erfüllung der Aufgabe der vierten Gewalt in Zweifel, nämlich die egalitäre Erhöhung des Wissensstandes der Gesamtbevölkerung, ferner wankt auch die Erfüllung der politischen Funktion der Massenmedien. Im Verlaufe der Arbeit stelle ich vor, inwiefern der anwachsende Informationsfluss das für den „mündigen Bürger“ nötige Mindestmaß an „Rezeptwissen“ (vgl. Berger/Luckmann 1966 1977) und somit seine Politikmündigkeit beeinflusst.

Das Hauptaugenmerk dieser Ausarbeitung liegt in der Befassung mit möglichen sozialen Benachteiligungen, die sich aus der heterogenen Verteilung des medienvermittelten Wissens ergeben können. Dabei soll mit Rückgriff auf Pierre Bourdieu’s (1986) herausgearbeitete Kapitalsorten ermittelt werden, inwiefern sich negative Auswirkungen für benachteiligte Gesellschaftsschichten ergeben und zwar im Hinblick auf soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital. Diesem Teil der Arbeit kommt deshalb eine bedeutende Relevanz zu, als die Debatte um die Wissenskluftforschung ohne das Bedrohungsszenario um soziale Ungleichheiten kaum von solch großer Relevanz wäre. Schließlich ist davon auszugehen, dass die Verteilung von Wissen in einer Gesellschaft ein zwangsläufiges Anhängsel der unterschiedlichen Lebenslagen darstellt und somit ein eher „natürliches“ Phänomen beschreibt (vgl. Berger/Luckmann 1977: 47).

Der Aufbau der vorliegenden Abfassung basiert auf einer chronologischen Vorgehensweise. Das soll einerseits ein leichteres Verständnis für die aufeinander aufbauenden Studien und Argumentation erwirken, und andererseits die zeitliche Entwicklung der Wissenskluftforschung von ihren Anfängen bis heute nachvollziehbar machen. Dabei expliziere ich die Erkenntnisse verschiedener Autoren sowohl aus den U.S.A., wo die Wissenskluftforschung ihren Ursprung hatte, als auch bedeutende Autoren aus dem mitteleuropäischen Raum. In der zweiten Gruppe sind besonders Heinz Bonfadelli und Ulrich Saxer zu nennen, die sich allen voran im deutschen Sprachraum mit jener Thematik befassten.

Das abschließende Kapitel beinhaltet eine Diskussion um mögliche Ansätze im Umgang mit der herausgearbeiteten Problematik der sich ausweitenden Wissensklüfte. Dabei werden mögliche Schwierigkeiten im Hinblick auf die vorgestellten Lösungen aufgezeigt und überdies die wichtigsten theoretischen sowie methodologischen Kritikpunkte der bisherigen Wissenskluftforschung beleuchtet. Zunächst und einleitend jedoch wird die Entwicklung der Ausgangshypothese hin zum anerkannten Paradigma in der Medienwirkungsforschung vorgestellt.

Aus Gründen der einfacheren Lesbarkeit wird im Folgenden auf die geschlechtsneutrale Differenzierung, z.B. Mitarbeiter/innen usw., verzichtet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für beide Geschlechter.

2. „Knowledge Gap“ - Die Ausgangshypothese

Die Hypothese der wachsenden Wissenskluft wurde erstmals 1970 von dem Kommunikationsforscher Phillip J. Tichenor sowie den Soziologen George A. Donohue und Clarice N. Olien von der Minnesota University formuliert. Ihre „Knowledge-Gap-Hypothese“ publizierten sie in dem Artikel „Mass Media Flow and Differential Growth in Knowledge“ in der Zeitschrift „The Public Opinion Quarterly“. Die allgemeinformulierte Hypothese in ihrer ursprünglichen Fassung lautet:

“As the infusion of mass media information into a social system increases, segments of the population with higher socioeconomic status1 tend to acquire this information at a faster rate than the lower status segments, so that the gap in knowledge between these segments tends to increase rather than decrease.“ (Tichenor et al. 1970: 159f.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Visualisiertes Paradigma der Wissenskluft-Hypothese (Quelle: Bonfadelli 2007: 615)

Die gesellschaftspolitische Brisanz dieser Hypothese liegt darin, dass die Medien nicht zur Informiertheit aller beitragen, sondern als Trendverstärker bestehende soziale Ungleichheiten bezüglich Bildung und sozialer Schicht reproduzieren können (Bonfadelli 2008: 270). Auch geht die Wissenskluft-Perspektive davon aus, dass mehr Information in der Gesellschaft nicht notwendigerweise mehr und egalitäre Kommunikation bedeuten muss. Vielmehr ist auch mit dysfunktionalen Folgen bei der Informationsverbreitung zu rechnen. Dysfunktionale Folgen der Massenkommunikation können darin bestehen, als diese nicht homogenisierend wirken, sondern die Distanz zwischen den sozialen Gruppen tendenziell verstärken, z. B. in Anbetracht ihres Informationsstandes zu bestimmten Themen. Denn obgleich der Zugang zu den Massenmedien und die Aufnahme der durch die modernen Medien vermittelten Inhalte prinzipiell für alle Gesellschaftsmitglieder möglich sind, so bestehen dennoch Kommunikationsbarrieren, die den gleichmäßigen Informationsfluss innerhalb der Gesellschaft hemmen (Bonfadelli 1985: 66).

Mit der Spezifizierung ihrer Hypothese “increasing the flow of news on a topic leads to greater acquisition of knowledge about that topic among the more highly educated segments of society” stellen Tichenor, Donohue und Olien die bis dato geläufige Meinung über die Wirkung der Massenmedien in Frage (1970: 159). Zuvor ging man davon aus, „dass die durch die modernen Massenmedien in den westlichen Industriegesellschaften täglich verbreitete Information zur umfassenden Informiertheit der Bürgerinnen und Bürger führe und darum funktional für die

Gesellschaft sei.“ (Bonfadelli 2007: 616; vgl. ausführlich Schulz 1985: 105f.) Hinter dieser öffentlichen Aufgabe der Massenmedien steht das Idealbild des „mündigen Bürgers“, der sich möglichst umfassend zum Zwecke begründeter Urteilsbildung über das politische Geschehen informiert und sich aktiv am Fortbestand einer informierten Öffentlichkeit beteiligt. Wenngleich zwischen dem Gesetzgeber, der Kommunikations- und der Politikwissenschaft Einigkeit über diesen normativen Gesichtspunkt herrscht, so rüttelt die Wissenskluft-Hypothese an diesem Grundpfeiler der Massenmedien, indem sie die egalitäre Verteilung von Wissen und die Erfüllung der politischen Funktionen durch Rundfunk, Presse und Fernsehen anzweifelt (Horstmann 1991: 10). Die Soziologen Berger und Luckmann sprechen von einem Mindestmaß an „Rezeptwissen“, welches für alle Bevölkerungsteile in einer Demokratie unverzichtbar ist, weshalb der Wissensabstand der Bevölkerungssegmente voneinander nicht zu groß werden darf (vgl. 1977: 44; 70). Die Knowledge-Gap-Hypothese zielt auf diesen Abstand und postuliert, dieser werde bei zunehmender Informationsmenge relativ größer.

Ihre Hypothese der wachsenden Wissenskluft beziehen Tichenor et al. vor allem auf politische und wissenschaftliche Themen, die mehr oder minder einen allgemeingültigen Informationscharakter besitzen und mitnichten eine zielgruppenorientierte Berichterstattung leisten, wie bspw. Soft-News (Sport, Finanzen, Gesellschaft, Kuriositäten etc.). Überdies liegt der Fokus ihrer Untersuchungen primär auf den Themengebieten, die über einen gewissen Zeitraum starke Publizität in den Printmedien erfahren (1970: 160). Ebenso entscheidend ist, dass die Autoren nicht behaupten, die niedrigeren sozialen Schichten blieben gänzlich unwissend, „die Hypothese behauptet vielmehr einen relativen Zusammenhang, insofern der Wissenszuwachs bei den statushöheren Segmenten relativ größer ist, weil sie das themenbezogene Informationsangebot der Medien (…) effektiver aufzunehmen vermögen.“ (Bonfadelli 1994: 62) Dabei nutzen die Autoren die formale Bildung als Indikator für den sozioökonomischen Status und führen ebenso fünf mit dem Bildungsrad eng verknüpfte Faktoren an, die zur Entstehung von Wissensklüften beitragen:

1. communication skills (Kommunikationsfähigkeit): Mediennutzer mit höherer formaler Bildung haben bessere Lese- und Verständnisfertigkeiten, die zum Erwerb von politischem und wissenschaftlichem Wissen nötig sind.
2. stored information (Vorwissen): Das durch Mediennutzung oder durch Schulbildung vorhandene Vorwissen, erhöht die Aufmerksamkeit gegenüber themenbezogener Medieninformation und erleichtert das Verständnis derselben.
3. relevant social contact (Anzahl sozialer Kontakte): Personen mit einem höheren Bildungsniveau verfügen über mehr interpersonale Kontakte und eine breitere Sphäre an Alltagsaktivitäten, was ihnen mehr Gelegenheiten bietet aktuelle Themen zu diskutieren.
4. selective exposure, acceptance & retention (Selektive Zuwendung, Akzeptanz und Behalten von Informationen): Personen aus höheren Bildungssegmenten wenden sich aktiver den Medien zu und suchen gezielter nach Informationen.
5. nature of mass media system (Mediensystem): Der Großteil der wissenschaftlichen und öffentlich-politischen Themen wird durch Printmedien verbreitet, welche sich stärker an den Interessen der bildungshöheren Schichten orientieren und daher stärker von ihnen rezipiert werden. (Tichenor et al. 1970: 162)

Die Minnesota-Gruppe erwähnt jene fünf Faktoren explizit und nutzt diese zur theoretischen Begründung der Wissenskluft-Hypothese. Diese liegen auf einer psychologischen, sozialen als auch medialen Ebene und erfahren mit steigendem formalen Bildungsniveau eine stärkere Ausprägung (Bonfadelli 1994: 72).

3. Empirische Begründung der Hypothese

Um ihre Ausgangshypothese zu bestätigen, präsentieren Tichenor, Donohue und Olien eigene sowie fremde empirische Daten von vier verschiedenen Untersuchungstypen: Nachrichtendiffusionsstudien, Survey-Trendanalysen, Zeitungsstreik-Feldexperiment und Verständlichkeitsforschung. Dabei handelte es sich um Kurzzeit- als auch um Langzeiteffekte. (Tichenor et al. 1970; Bonfadelli 1994: 66). Für die empirische Überprüfung der Hypothese schlugen sie zwei Operationalisierungen vor:

1.) „Im laufe der Zeit sollte sich der Wissenserwerb über ein stark publiziertes Thema unter den höher Gebildeten schneller vollziehen als unter den niedriger Gebildeten, was bei gleichen Zeitintervallen einen größeren Wissenszuwachs in der ersten Gruppe nach sich zöge [Längsschnittanalyse].“ (Tichenor et al. 1970; dt. Horstmann 1991: 14)
2.) „Zu jedem beliebigen Zeitpunkt müsste für ein in den Medien stark beachtetes Thema die Korrelation zwischen Bildung und Wissenserwerb größer sein als für ein weniger stark beachtetes Thema [Querschnittanalyse].“ (ebd.)

Als Evidenz für kurze Zeitspannen verweisen Tichenor et al. auf eine im Jahre 1964 durchgeführte Studie für Diffusionsforschung bei Nachrichten von Budd, MacLean und Barnes. Sie untersuchten die Verbreitung zweier wichtiger Meldungen, die seinerzeit hohe Publizität in den Medien erfuhren, nämlich die Bekanntgabe des Skandals um Walter Jenkins und den Rücktritt von Nikita Chruschtschow. Dabei interviewten die Forscher telefonisch 327 erwachsene Personen aus Iowa City in einem Zeitraum von 48 Sunden nach Publikation der Ereignisse (Budd et al. 1966: 222ff.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Ungleiche Nachrichtendiffusion in drei disparaten Bildungssegmenten (Quelle: Budd et al. 1966: 229f.)

Resultierend aus ihrer Erhebung fanden die Forscher heraus, dass ein signifikanter positiver Zusammenhang zwischen Bildung und Diffusionsgeschwindigkeit besteht. Ihre Auswertungen ergaben, dass Personen mit einem höheren Bildungsgrad nicht nur rascher von den Meldungen erfuhren, überdies war der Wissensstand im hohen Bildungssegment höher als im tiefen Bildungssegment (Graduate > College > High School). Die Befunde waren somit in beiden Fällen konsistent zur Wissenskluft-Hypothese, da der Prozess der Nachrichtendiffusion eine wachsende Wissenskluft zwischen den verschiedenen Bildungssegmenten bewirkte (Budd et al. 1966; Bonfadelli 1994: 67f.).

Als Evidenz für lange Zeitspannen führten Tichenor et al. eine Sekundäranalyse der Daten des American Institute for Public Opinion durch, welche das Institut zwischen 1949 und 1969 erhob. Dabei beschränkte die Minnesota-Gruppe ihren Untersuchungsfokus auf drei Themen, die während der untersuchten Zeitspanne (ihrer Meinung nach) große Medienpublizität erhielten: 1. korrekte Identifikation von Erdsatelliten, 2. Glaube, dass Rauchen zu Lungenkrebs führt, und 3. Glaube an die Möglichkeit der Mondlandung2 (Tichenor et al. 1970: 164ff.). Das nachfolgende Schaubild stellt letzteren Punkt grafisch dar.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Wachsende Wissenskluft im Zeitverlauf für „Glaube an die Möglichkeit der Mondlandung“ (Quelle: Tichenor et al. 1970: 166)

Bei allen drei untersuchten Themen nahm der Informationsstand deutlich zu. Die untersuchten Trenddaten von 1949 bis 1965 zeigten jedoch jeweils einen geringeren Wissenszuwachs der weniger gebildeten Bevölkerungssegmente. Zeitgleich vergrößerten sich die Korrelation zwischen Bildung und Wissensstand, womit sich die Wissensklüfte verstärkten (a.a.O.: 165; Saxer 1989: 128).

Eine weitere interessante Untersuchungsreihe wurde im Jahre 1959 als „Newspaper Strike Study“ erhoben. Da sich ein vergleichbares Experiment ansonsten schwierig gestaltet hätte (Tichenor et al. 1970: 166), bezog sich das Minnesota-Team auf die Daten einer unveröffentlichten Dissertation von Merrill Samuelson aus dem Jahre 1960. In seiner Zeitungsstreik-Studie untersuchte Samuelson 1959 das Public-Affairs-Wissen einer bestreikten- und einer unbestreikten benachbarten Gemeinde anhand eines Fragebogens mit 11 Items. Die erhobenen Daten (aus N=391) am Ende der ersten Streikwoche zeigten eine geringere Wissenskluft zwischen den tieferen und den höheren Bildungssegmenten in der bestreikten Gemeinde als in der Gemeinde ohne Zeitungsstreik3. Diese Ergebnisse waren kongruent mit der Ausgangshypothese, die davon ausging, „that removing mass media coverage of a topic would reduce the difference in knowledge between educational groups.” (ebd.)

Weitere empirische Studien zur Wissenskluftforschung finden sich bei Horstmann (1991), Bonfadelli (1994) sowie ein detaillierter Gesamtüberblick in Gaziano (1983).

4. Weiterentwicklung der Ausgangshypothese

Seit der Formulierung der Hypothese im Jahre 1970 bis zur Jahrtausendwende wurden über einhundert empirische Studien im Bereich der Wissenskluftforschung durchgeführt, die sich sowohl methodisch, inhaltlich, als auch im Bezug ihrer produzierten Ergebnisse stark unterscheiden (Zillien 2009: 74). In einigen empirischen Folgeuntersuchungen zeigten sich nicht signifikante oder gar keine Wissensklüfte (Übersicht bei Ettema/Kline 1977), was die Wissenschaftler zur Weiterentwicklung der Ausgangshypothese veranlasste. Nachfolgend findet sich eine systematisierte Darstellung über die Differenzierungen der Wissenskluft-Hypothese hinsichtlich der Medienthemen, der Wissensformen, der Einflussfaktoren sowie der Art der verursachten Klüfte.

4.1 Differenzierung nach Themen

Eine eigene empirische Folgeuntersuchung veranlasste die Minnesota-Gruppe zur Spezifizierung ihrer Wissenskluft-Hypothese4. Daraus resultierend publizierten Donohue et al. eine Ergänzung, welche die Möglichkeit sich wieder ausgleichender oder gar schließender Wissensklüfte vorsah. Die Forscher verlagerten ihren Interessenschwerpunkt auf einen makrosoziologischen systemtheoretischen Bezugsrahmen und modifizierten ihre Ursprungsthese:

Bei konflikthaltigen Themen oder bei Themen von besonderer lokaler Bedeutung besteht eine geringere Wahrscheinlichkeit für die Entstehung von Wissensklüften; mit einer Gleichverteilung von Wissen ist eher in einer kleinen, homogenen Gemeinschaft zu rechnen, als in einer großen, pluralistischen; wenn das öffentliche Interesse für bestimmte Themen abebbt, können sich Wissensklüfte wieder schließen (Donohue et al. 1975: 21)

Aber auch andere Forscher griffen das mit Schwächen und Unklarheiten behaftete Wissenskluft-Paradigma auf und suchten das Konzept zu modifizieren. Ettema und Kline formulierten den sogenannten „Ceiling-Effect“ (1977: 197ff.) Dabei wird angenommen, dass die höher gebildeten Segmente Informationen zwar schneller aufnehmen können, nach einer bestimmten Zeit der „Deckeneffekt“ jedoch eine Obergrenze für das Wissen aufweist. Sobald die Wissenssättigung eintritt, können die weniger privilegierten Segmente mit der Zeit aufholen, und die Wissenskluft zu dem betreffenden Thema schließt sich (ebd.; Kunczik/Zipfel 2005: 387). Ettema und Kline unterscheiden dabei zwischen ,true ceilings‘, ‚artefact ceilings‘ und ,imposed ceilings‘:

Echte Deckeneffekte: Es gibt bestimmte Wissensbestände bzw. Informationsarme Themen, die nicht vermehrbar sind, was notwendigerweise dazu führt, dass sich die Wissensschere zwischen besser und schlechter Informierten schließt. Diese Deckeneffekte ergeben sich z. B. dann, wenn man im Rahmen einer Alphabetisierungskampagne Wissen als Fähigkeit formuliert, den eigenen Namen schreiben zu können oder wenn man lediglich untersucht wie viele Personen bereits von einem bestimmten Ereignis erfahren haben.

Unechte Deckeneffekte: Dieser Effekt bezieht sich auf die Sensitivität verschiedener Messinstrumente in der Evaluationsforschung. So kann z. B. bei zu leichten Fragen nicht ermittelt werden, ob ein Wissenszuwachs stattgefunden hat. Eine Überprüfung der Evaluation zur Kinderserie „Sesamstraße“ ergab, dass das Messinstrument unechte Deckeneffekte in Bezug auf vorhandene Wissensklüfte erzeugte, was die Forscher zu einer Unterschätzung der faktisch sich verstärkenden Kommunikations-Effekte-Klüfte führte.

Erzwungene Deckeneffekte: Hier ist von Wissensklüften die Rede, die aufgrund des Informationsangebots entstehen. Demnach verringern sich Wissensklüfte, wenn die Medienbotschaften zu wenig oder (für die höher gebildeten Segmente) lediglich redundantes Wissen vermitteln. Weil die besser Informierten ohnehin bereits über jenes oberflächliche Wissen verfügen, können die Unterprivilegierten von solchen Botschaften dennoch profitieren, was zur Einebnung bestehender Wissensklüfte führt. (Ettema/Kline 1977: 197ff.; Bonfadelli 1994: 117f.)

Letzterer Effekt des „source-imposed ceiling“ bildet einen zentralen Aspekt der Wissenskluftforschung, der die differenzierende Rolle des Informationsangebots behandelt. „Hier kommt es darauf an, Forschungsdefizite aufzuholen und den möglicherweise komplexen Zusammenhang zwischen Informationsangebot und Wissen zu erforschen.“ (Wirth 1997: 99f.) Bei den ,true ceilings‘ und den ,artefact ceilings‘ handelt es sich wie eingangs erwähnt eher um methodische Artefakte, die aus jedweden empirischen Forschungssträngen auszuschließen sind.

[...]


1 Die Forscher führen an: “education is assumed to be a valid indicator of socioeconomic status.” (a.a.O.: 160)

2 „In both these items (…) ,belief‘ is assumed to reflect increased knowledge.“ (Tichenor et al. 1970: 164)

3 Mittelwertdifferenz für Wissenskluft: Zeitungsstreik 0.44; kein Zeitungsstreik 1.08 (Tichenor et al. 1970: 167)

4 Tichenor et al. untersuchten 15 Orte in Minnesota in einer zweijährigen Querschnitt-untersuchung. Konträr zu ihren Annahmen kam es bei lokalen Themen oder sozialen Konflikten in Gemeinden nicht zu Wissensklüften (vgl. Kunczik/Zipfel 2005: 386).

Ende der Leseprobe aus 52 Seiten

Details

Titel
Die Wissenskluft-Perspektive
Untertitel
Inwiefern vertiefen Massenmedien bereits bestehende soziale Ungleichheiten in einem demokratischen Gesellschaftssystem?
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Institut für Soziologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
52
Katalognummer
V319433
ISBN (eBook)
9783668186088
ISBN (Buch)
9783668186095
Dateigröße
932 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Massenmedien, soziale Ungleichheit, WIssenskluft, Knowledge-Gap, sozioökonomischer Status, SES, Medien
Arbeit zitieren
Frank Harper (Autor:in), 2014, Die Wissenskluft-Perspektive, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/319433

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