Extrait
Inhaltsverzeichnis
1. Gesa Lindemann: Das paradoxe Geschlecht - Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl
2. Karin Flaake: Körper, Sexualität und Geschlecht – Studien zur Adoleszenz junger Frauen
3. Die Herstellung des Geschlechts
3.1 Herstellung des Geschlechts über den Körper
3.1.1 Körpererleben
3.1.2 Menstruation
3.2 Begehren und Sexualität
3.3 Aneignungsprozesse
4. Exkurs: Die Geschlechterdifferenz
5. Versuch eines integrierendes Ansatzes
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die Erforschung des Geschlechts erfolgte in den letzten Jahrzehnten der Geschlechterforschung nicht nur aus zahlreichen unterschiedlichen Perspektiven der mannigfachen Theorierichtungen, sondern auch unter dem Anspruch der Interdisziplinarität. Allein bei der Betrachtung des Handbuchs Frauen- und Geschlechterforschung (Becker et al. 2010) fällt die vielfältige Mischung der Disziplinen und theoretischen Paradigmen innerhalb dieser auf. Von Diskursanalyse über Kritischer Theorie bis hin zum Postkolonialismus ist alles vertreten. Doch trotz des Anspruchs, keiner einzelnen Theorie verhaftet zu bleiben, ist die wirklich interdisziplinäre Arbeit eine bislang nur gering verbreitete. Vielmehr scheint sich der wissenschaftliche Diskurs in einer gegenseitigen Hetzjagd der einzelnen Ansätze entwickelt zu haben, die doch alle das gleiche Phänomen behandeln: Das Geschlecht. Diese Arbeit widmet sich daher dem Versuch, zwei Theorierichtungen zu betrachten, deren Gemeinsamkeiten und gegenseitige Ergänzungsfähigkeit im wissenschaftlichen Diskurs bislang keine Beachtung gefunden haben. Hierbei handelt es sich um die Phänomenologie und die Psychoanalyse. Ob eine derartige Integration einen Erkenntnisgewinn nach sich ziehen wird, bleibt abzuwarten. Um diese vergleichend zu diskutieren, wird im Folgenden eine der Grundfragen der Geschlechterforschung, die Herstellung von Geschlecht, aus beiden Perspektiven heraus betrachtet. Da beide Theorien ein zu breites Feld abdecken, als dass diese vollständig im Rahmen dieser Arbeit behandelt werden könnten, werden die empirischen Studien von Gesa Lindemann und Karin Flaake als Beispiele für eine nähere Betrachtung der Gemeinsamkeiten und Gegensätze herangezogen. Zunächst soll nun ein kurzer Einblick in die Grundgedanken der beiden Ansätze gegeben werden, um die folgenden Kapitel verständlicher zu gestalten. Die Phänomenologie ist eine in der Tradition der philosophischen Psychologie von Edmund Husserl entwickelte Forschungsrichtung, die nicht nur als Theorie, sondern auch als spezifische Denkform besteht (vgl. Fellmann 2006, 11 f.). Hierbei geht es rein erkenntnistheoretisch vor allem um das Sammeln und eidetische Beschreiben von unmittelbar gegebenen Daten. Unmittelbar gegeben sind allerdings nur psychische Zustände oder Erlebnisse, die als Phänomene bezeichnet werden (vgl. ebd. 25 ff.). Das Hauptziel der Phänomenologie besteht darin, das Gesetz von Erfahrungsprozessen zu erforschen (vgl. ebd. 12). Das Begreifen eines Phänomens ist dabei immer von der Erfassung seiner Struktur abhängig (vgl. ebd. 34). Der Anspruch ist die reine Beschreibung von Phänomenen, nicht dessen Erklärung. Statt nach den Ursprüngen dieser Phänomene zu fragen, werden also die Folgen betrachtet (vgl. ebd. 12 ff.). Einer der zentralen Begriffe ist die Intentionalität, die das grundsätzliche Gerichtetsein des menschlichen Bewusstseins auf ein Objekt beschreibt (vgl. ebd. 52 ff.). Hier lässt sich schon rein theoretisch die Psychoanalyse, die auf Sigmund Freud zurückgeht, anknüpfen, da sie als eine Theorie der Funktionsweisen und Entwicklung der menschlichen Psyche verstanden werden kann und somit eben an diese Problematik von Subjekt und Objekt anknüpft (vgl. Brenner 1967, 11). Genauer gesagt handelt es sich um eine Theorie unbewusster psychischer Vorgänge, denn das Unbewusste ist nach Freud sowohl für Gedanken als auch für Handlungen von grundlegender Bedeutung (vgl. ebd. 12). Dass die meisten psychischen Vorgänge sich unbewusst abspielen, kann als eine der fundamentalen Hypothesen der Psychoanalyse angesehen werden, obwohl sich diese Disziplin in derart viele unterschiedliche Richtungen aufgespalten hat, dass kaum von der Psychoanalyse an sich gesprochen werden kann (vgl. ebd. 20 ff.). Neben der Wirkmächtigkeit des Unbewussten ist aber auch die psychische Determiniertheit eine grundlegende Annahme, die allen psychoanalytischen Richtungen gemein ist. Diese besagt, dass psychische Geschehen immer von den vorherigen verursacht sind und insofern nicht unabhängig von ihnen betrachtet werden können (vgl. ebd. 12). So entwickelte Freud eine Art Strukturmodell der Psyche, nach dem Triebe in der frühesten Kindheit zu psychischen Dynamiken führen, die alle späteren psychischen Aktivitäten maßgebend beeinflussen (vgl. ebd. 43 ff.).
Um die Frage, wie ein Ansatz zur Herstellung des Geschlechts aus einer integrierten Perspektive der Phänomenologie und der Psychoanalyse aussehen könnte, werden zunächst die beiden empirischen Studien, die als exemplarisch für die jeweilige Theorie stehend betrachtet werden, vorgestellt. Die phänomenologische Untersuchung der Transsexualität von Gesa Lindemann (Kapitel 1) und die psychoanalytische Studie von Karin Flaake zur Adoleszenz junger Frauen (Kapitel 2) verweisen dabei beide auf die Herstellung von Geschlecht, um die es im dritten Kapitel gehen soll. Dieses wird durch drei Unterkapiteln gegliedert, die die Bedeutung des Körpers (Kapitel 3.1), der Sexualität (Kapitel 3.2) und schließlich die Aneignungsprozesse des jeweiligen Geschlechts (Kapitel 3.3) beschreiben. Daran anschließend wird dann die Geschlechterdifferenz (Kapitel 4) in einem Exkurs näher betrachtet, um den gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem Geschlecht hergestellt wird, darzustellen. Im fünften Kapitel folgt dann eine erste Skizze für mögliche Ansatzpunkte einer interdisziplinarischen Zusammenarbeit, um schließlich zu einem Fazit zu gelangen, das mögliche Gemeinsamkeiten und Gegensätze beider Studien nochmals umreißen und einen Ausblick auf denkbare, zukünftige Forschungsschwerpunkte und Möglichkeiten interdisziplinärer Zusammenarbeit geben soll.
1. Gesa Lindemann: Das paradoxe Geschlecht - Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl
Gesa Lindemann versucht in ihrer phänomenologischen Studie „Das paradoxe Geschlecht“ (2011)[1] anhand des Beispiels der Transsexualität die moderne Geschlechterunterscheidung zu verstehen. Unter Bezugnahme auf die leibtheoretische Anthropologie Plessners von der exzentrischen Positionalität[2] wird das Geschlecht als gesellschaftliche Konstruktion[3] zum Rahmen der Beschreibung des Geschlechtswechsels. Dahinter steht die Frage, wie die leibliche Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt beschaffen ist und wie in dieser etwas als real erfahren wird (vgl. ebd. 24 f.). Ausgehend von der Kritik an der mangelnden affekt- und leibtheoretischen Analyse innerhalb der Mikrosoziologie, beschreibt Lindemann das Geschlecht als leiblich-affektive Konstruktion (vgl. ebd. 26), die in die leiblich-affektive Umweltbeziehung eingebunden ist. Das bedeutet, dass die Wirklichkeit, insofern sie wahrgenommen werden muss, um relevant zu werden, immer an die leibliche Erfahrung von Individuen gebunden und die Leib-Umwelt-Relation zumeist emotional besetzt ist (vgl. ebd. 38). Aufgrund der Relation, die im leiblichen Ineinanderverhaktsein gegeben ist, haben Personen ihr Geschlecht also nicht einfach. Vielmehr ist es eine polyzentrische, leibliche Wirklichkeit, in der die leiblichen Erfahrungen in einem sozial konstituierten Körper verschränkt sind (vgl. ebd. 291 f.) und die Individuen insofern ihrer selbst und ihres Tuns nie vollkommen mächtig sein lässt (vgl. ebd. 67). Der wichtigste Unterschied zwischen Transsexuellen und Nichttranssexuellen besteht somit darin, dass Nichttranssexuelle unbewusst vollbringen, was für Transsexuelle zu einem anstrengenden und äußerst bewussten Akt wird: die Darstellung des eigenen Geschlechts (vgl. ebd. 19 f.). „Sowohl die Probleme von Transsexuellen als auch die ihrer Interaktionspartnerinnen werden […] als eine Erkenntnis ermöglichende Entfremdung von einer alltäglichen Selbstverständlichkeit verstanden, die ein genaueres Verständnis des Sachverhalts ermöglicht, dass es zwei und nur zwei Geschlechter gibt, denen wir jeweils lebenslänglich angehören“ (ebd. 20). Während die Studie also den Prozess der Geschlechtsveränderung von Transsexuellen nachzeichnet, werden der Konstruktionscharakter des Geschlechts und die dafür notwendige Herstellungsleistung der Individuen deutlich. So werden soziale Kontrollen als Zwang zur Unmittelbarkeit und die Bedeutung des Bezugsrahmens von Gleich- und Verschiedengeschlechtlichkeit sichtbar. Zudem werden sprachliche Phänomene der Geschlechtsdarstellung analysiert und anhand der Unterschiede zwischen Mann-zu-Frau-Transsexuellen und Frau-zu-Mann-Transsexuellen die Differenzen und Hierarchien zwischen den Geschlechtern dargestellt, die auf eine azentrische Unterscheidung[4] verweisen. Dadurch wird die Gleichheit der Geschlechter denkbar und sogar normiert, gleichzeitig allerdings einer subtilen Asymmetrie der Geschlechter unterworfen. Diese wird in den Körpern symbolisiert und durch die Verschränkung mit dem Leib als unveränderliche Realität erlebt (vgl. ebd. 293). Der Veränderungsprozess, den Transsexuelle von einem zum anderen Geschlecht durchlaufen, ist in sich paradox, denn er findet zwar statt, aber das Ergebnis ist eine immer schon da gewesene Identität, sodass die Veränderung am Ende nie stattgefunden haben wird (vgl. ebd. 295). Zugleich wird die wirkliche Geschlechtsveränderung, die als bruchloses Wiedereinhaken[5] in die leibliche Interaktion als das andere Geschlecht definiert werden kann, unmöglich, da dies ein immer schon gewesen sein impliziert. Die für die Geschlechtsveränderung benötigten ich bezogenen Realisierungseffekte[6] verhindern das vollständige Gelingen derselben, indem sie eine bewusste Distanz zum eigenen Geschlecht schaffen (vgl. ebd.). Insgesamt zeigt sich, dass die Transsexualität vor allem „als ein Akt der Selbstvergewisserung einer Kultur zu verstehen [ist], in dem diese sich der Gültigkeit der azentrischen Form der Geschlechterunterscheidung und ihres wichtigsten Symbols, des Penis, versichert“ (vgl. ebd. 296). Zusätzlich zu der beschreibenden phänomenologischen Perspektive Lindemanns, der es um das Verstehen der Herstellung von Geschlecht geht, soll nun die psychoanalytische Studie von Karin Flaake betrachtet werden, in der die Herstellung des Geschlechts zu erklären versucht wird.
2. Karin Flaake: Körper, Sexualität und Geschlecht – Studien zur Adoleszenz junger Frauen
Die empirische Forschung[7] von Karin Flaake (2001) sucht vor allem die Entwicklungsprozesse junger Frauen und Mädchen während der Adoleszenz[8] und den Veränderungen, die mir der Körperlichkeit und der Sexualität derselben verknüpft sind, nachzuvollziehen. So soll nicht nur über Probleme und Konfliktkonstellationen, mit denen junge Frauen und die Personen ihres näheren Umfelds aufgrund der Veränderungen konfrontiert werden, Aufschluss gegeben, sondern auch mögliche Verarbeitungsformen deutlich gemacht werden. Hierzu verknüpft Flaake soziologische mit psychoanalytischen Denkweisen, indem die innerpsychischen Prozesse, also die unbewussten Wünsche, Phantasien und Konflikte, als von gesellschaftlichen Strukturen und dem sozialen Umfeld geprägt betrachtet werden. Diese können nur als miteinander verbunden verstanden werden, obgleich die jeweilige Eigendynamik nicht vernachlässigt werden darf (vgl. ebd. 10). So können auch die familialen Interaktionen und Dynamiken, die mit Körperlichkeit und Sexualität verbunden sind, auf beiden Ebenen beschrieben werden. Die während der Adoleszenz aufkommenden Wünsche und Ängste der Mädchen oder jungen Frauen können dabei ebenso wie die emotionalen Bewegungen der Beziehungen zwischen den einzelnen Personen – also Tochter, Mutter und Vater bzw. Stiefvater – und innerhalb der Erwachsenenpaarbeziehung auf das gesellschaftliche Umfeld bezogen werden. Zu letzteren gehören die sozialen Definitionen von Weiblichkeit, ihrer Sexualität und Körperlichkeit, aber auch bestimmte Normen und Gesetze, wie das Inzestverbot (vgl. ebd.). Dass sich Flaake in dieser Studie vor allem auf die Adoleszenz bezieht, liegt darin begründet, dass diese die Einstellungen und Wahrnehmungen der Mädchen und jungen Frauen maßgeblich prägt, obwohl sich soziale Ausgestaltungen von Körperlichkeit und Sexualität zu jeder Zeit vollziehen. Mit den Veränderungen des Körpers und der Sexualität entsteht gewissermaßen ein Zwang zur Auseinandersetzung mit denselben, was nicht zuletzt auf die neue Möglichkeit des Gebärens zurückzuführen ist (vgl. ebd. 8). Durch das Zur-Frau-Werden während der Pubertät, das an sich schon in die symbolische Repräsentation der Geschlechter und damit in die gesellschaftliche Organisation eingebunden ist, werden die gesellschaftlichen Bewertungen des weiblichen Körpers und der weiblichen Sexualität auf neue Weise bedeutsam. So werden Erfahrungen und Wahrnehmungen aber auch konkrete Erlebnisweisen gemäß gesellschaftlicher Vorgaben und Strukturen des Geschlechterverhältnisses gestaltet. Die Vermittlung derartiger Darstellungen und Normen erfolgt vorrangig über alltägliche Interaktionen, indem unbewusste Reaktionen der Umwelt die körperlichen und sexuellen Veränderungen des Mädchens oder der jungen Frau mit Bedeutung belegen. Neben den gesellschaftlichen Definitionen kommen hierbei auch individuelle Verarbeitungsmuster zur Geltung (vgl. ebd. 9). Die Folgen der Adoleszenz bestehen nicht nur in der Irritation, die auf beiden Seiten, also die des Mädchens oder jungen Frau und auch die der Eltern, durch unbewusst Verdrängtes entsteht, sondern vor allem auch in einer völlig neuen Familiendynamik. Die Beziehungen außerhalb der Familie zu Freundinnen, Sexualpartnern[9] oder anderen erwachsenen Frauen werden bedeutender, gleichzeitig werden aber gerade die unbewussten Botschaften der bisherigen Bezugspersonen (der Mutter und des Vaters) über die Körperlichkeit und Sexualität des Mädchens oder der jungen Frau bedeutsam, da diese die Aneignungsprozesse ausschlaggebend beeinflussen. So entstehen Ambivalenzen, Widersprüchliches und Konflikthaftes auf beiden Seiten und gehen in die Interaktionen innerhalb der Familie mit ein (vgl. ebd. 10). Insgesamt beschreibt die Studie[10] die enge Verknüpfung der Erfahrungen von Mädchen und jungen Frauen in der Adoleszenz bezüglich ihres Körper und ihrer Sexualität mit sozialen Bewertungen der Geschlechter. Die aufgrund der schlechteren Positionierung für Frauen "wenig attraktive(n) Identifikationsmöglichkeiten" (vgl. ebd. 227) mit den weiblichen Bezugspersonen können das Zur-Frau-Werden zu einer innerlichen Kränkung werden lassen, die sich wiederum in zumeist negativen Erfahrungen mit der Menstruation und der körperlichen Veränderung niederschlägt. Nicht selten geht hiermit eine gesellschaftlich abgesicherte Höherbewertung der Männlichkeit seitens der Mädchen und jungen Frauen einher. Nachdem nun beide Studien beschrieben wurden, wird im Folgenden die Herstellung des Geschlechts aus beiden theoretischen Perspektiven heraus betrachtet, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufzeigen zu können.
3. Die Herstellung des Geschlechts
Nach der phänomenologischen Beschreibung Gesa Lindemanns erscheint das Geschlecht als affektiv-leibliche Konstruktion, bei der die binäre Opposition Frau-Mann in zweifacher Weise in den Leib bzw. in die leibliche Erfahrung eingelassen wird. „In der Verschränkung von Körper und Leib wird das eigenleibliche Spüren symbolisch strukturiert, wodurch die leibliche Erfahrung der eigenen Umständlichkeit sowohl in die Form des Körpers gebracht als auch auf die im Körper symbolisierte Empfindungs- und Aktionsprogrammatik bezogen wird“ (Lindemann 2011, 291). Das Geschlecht verweist hierbei immer auf eine doppelte Perspektive. Zum einen ist eine Person ein Geschlecht, indem sie es für andere ist. Gleichzeitig ist diese Person aber auch ein Geschlecht, indem andere ein Geschlecht für sie sind (vgl. ebd. 65). Auch Karin Flaake gibt, während sie die mit Körperlichkeit und Sexualität verbundenen Veränderungsprozesse von jungen Frauen und Mädchen während der Adoleszenz behandelt, einige Hinweise darauf, wie das Geschlecht hergestellt wird. Zunächst beschreibt sie die Adoleszenz als Phase einer neuen Vergeschlechtlichung, in der das Individuum zum Mann oder zur Frau wird (vgl. Flaake 2001, 8). Diese an das Geschlecht gebundene Interpretation der Veränderung des Körpers ist dabei immer in kulturelle Bedeutungszusammenhänge eingebunden. Zwar findet sich in ihrer Beschreibung kein spezifischer Leibbegriff, aber sie spricht von Verarbeitungsformen, die innerpsychische Konstellationen mit sozialen Definitionen verbinden. Ebenso wie Lindemann geht Flaake davon aus, dass es einen Zwang zur eindeutigen Zuordnung zu einem der beiden Geschlechter gibt, der auf dem gesellschaftlichen Bedeutungsgehalt des Körpers zurückzuführen ist. Die körperlichen Veränderungen seien dabei „eingebunden in die gesellschaftliche Organisation und symbolische Repräsentation der Geschlechter“ (ebd.). Während die eindeutige, endgültige Zugehörigkeit zu einem Geschlecht bei den durch Lindemann befragten Transsexuellen zu einer Erlösung wird, beschreibt Flaake eben diesen Zwang, einem und nur einem Geschlecht anzugehören, dem junge Frauen durch die körperlichen Veränderungen ausgesetzt sind, als Erfahrung der Unvollständigkeit und insofern als narzisstische Kränkung, an der der Größenwahn der Kindheit endgültig zerbricht (vgl. ebd. 226). Beide Autorinnen stimmen darüber überein, dass das Geschlecht eine gesellschaftliche Konstruktion ist, deren Bedeutung sich in der Leibgebundenheit bzw. in der Beeinflussung der in der Psyche verankerten Einstellungen und Definitionen durch die Umwelt entfaltet. In den folgenden Unterkapiteln sollen nun die wichtigsten Momente der Herstellung des Geschlechts aus der Sicht beider Disziplinen ausgeführt werden. Wie bereits angedeutet wurde, spielt der Körper hierbei eine außerordentlich wichtige Rolle.
3.1 Herstellung des Geschlechts über den Körper
Die Wichtigkeit des Körpers, die beide Autorinnen herausstellen, gestaltet sich vor allem über seine Bedeutung als geschlechtsrelevantes Zeichen. Wie genau dies geschieht und welche Auswirkungen es hat, wird im Folgenden zunächst aus der phänomenologischen Perspektive Lindemanns beschrieben. Die Differenz der Körper, also die Unterscheidung in männliche und weibliche, ist nach dieser das Resultat einer gesellschaftlichen Praxis, denn „Körper sind nicht einfach da. Um sozial relevant werden zu können, müssen sie sowohl wahrgenommen als auch dargestellt werden“ (Lindemann 2011, 29). Die ein Geschlecht bezeichnenden Körperpartien werden nur selten gesehen, dennoch erscheinen uns die Personen entweder als Mann oder als Frau. Da die Genitalien Personen, die ein bestimmtes Geschlecht darstellen, unterstellt werden, beschreibt Garfinkel diese als ein kulturelles Ereignis (vgl. ebd. & Garfinkel 1967, 123), als Resultat der Darstellung des Geschlechts. Als Verhaltensnorm schreibt der Besitz bestimmter Genitalien eine entsprechende Geschlechtsdarstellung vor (vgl. ebd.). Der Körper erweist sich somit als indexikalisch auf den Kontext, dass es nur zwei Geschlechter gibt, bezogen und kann nicht unabhängig von seinem kulturellen Bedeutungszusammenhang verstanden werden (vgl. ebd. 30). Zwar ist der Körper nach Lindemann ein Ding, zugleich aber immer auch Zeichen. Seine Zeichenhaftigkeit unterliegt im kulturellen Kontext ihrerseits einer Objektivierung, die als Geschlechtskörper bezeichnet wird (vgl. Lindemann 2011, 41 f.). Einen Geschlechtskörper zu haben, bedeutet, sein Geschlecht immer schon dargestellt zu haben völlig unabhängig von einer tatsächlichen Geste oder dem Blick anderer. Es reicht, potentiell gesehen werden zu können (vgl. ebd. 43).
[...]
[1] Die Daten der Studie wurden aus zwei unterschiedlichen Gesprächssituationen gewonnen (vgl. ebd. 20 f.). Zum einen entstanden sie aus Beratungsgesprächen, zum anderen aus narrativen Interviews (vgl. Schütze 1976). Beratungsgespräche und Interviews wurden sowohl mit Transexuellen, als auch mit Personen ihres direkten sozialen Umfeldes geführt. Im Verständnis der Ethnosoziologie wird der Frage, wie die leibliche Umweltbeziehung beschaffen ist und wie in ihr etwas als real erfahren werden kann, nachgegangen. Bedingung ist hierbei, das Vertraute fremd zu machen, um die alltägliche Konstitution der Alltagswelt verstehen zu können (vgl. Lindemann 2011, 25). Das heterogene Feld verhilft hier zu einer doppelten Verfremdung, indem die normale Wirklichkeit der Geschlechter durch die Transsexualität und andererseits die Wirklichkeit der Transexuellen durch den Blick von Nicht-transsexuellen fremd gemacht wird (vgl. ebd.).
[2] Die exzentrische Positionalität beschreibt die Beziehung des Menschen zur Umwelt, in der das Subjekt nicht nur die Umwelt, sondern auch sein Erleben der Welt erfährt (Plessner 1975, 291ff.). Als Wesensmerkmal oder Organisationsprinzip des Menschen erfasst sie das Bewusstsein „als sphärische Einheit von leiblichem Selbst und Umwelt“ (Lindemann 1992, 341). Der Leib ist hierbei in der positionalen Mitte und zugleich aus dieser herausgesetzt. Die Mitte beschreibt das „in seiner Wirkeinheit der Elemente bestehende Ganze“ (Plessner 1975, 161), den realen Kern, das „Subjekt des Habens“ (ebd. 162). Auf eben diese doppeldeutige Umweltbeziehung verweist der Geschlechtskörper, der zwar ein Ding ist, aber ein Geschlecht bedeutet (vgl. Lindemann 2011, 55).
[3] Lindemann geht bei ihrem Konstruktionsbegriff davon aus, dass es eine grundsätzliche Trennung zwischen Dasein und Sosein gibt. „Die Dimension, wirklich zu sein, bleibt dabei insgesamt dem konstitutiven Tun der Beteiligten entzogen, sie ist etwas, das sich in der Wahrnehmung der Qualitäten der erscheinenden Welt aufgedrängt, aber nicht selbst konstituiert wird“ (Lindemann 2011, 34). Die Phänomene der Wirklichkeit müssen von Akteuren wahrgenommen und in Interaktionen vermittelt werden, um zu intersubjektiv gültigen Sachverhalten gemacht zu werden, und sind insofern symbolisch erfasst und konstruiert (vgl. ebd. 33).
[4] Der Unterschied zwischen der zentrischen und der azentrischen Form der Unterscheidung der Geschlechter besteht darin, wie die Einheit der Unterscheidung gebildet wird. Die zentrische Form beschreibt die Festlegung des „Mannes“ als das Allgemeine, sodass die „Frau“ das Abweichende darstellt (vgl. Lindemann 2011, 196). In der azentrischen Unterscheidung gibt es dagegen kein geschlechtlich definiertes Zentrum mehr (vgl. ebd. 200). Die moderne Form der Unterscheidung macht dagegen die normative Forderung nach Gleichheit zwischen den Geschlechtern denkbar, enthält jedoch auch „eine subtile Asymmetrie, denn die Identität zwischen dem Männlichen und dem Allgemeinen wird zwar gelöst, aber nicht vollständig aufgelöst“ (ebd. 198 f.). Aus der männlichen Perspektive heraus funktioniert sie als qualitative Differenz, während sie aus der weiblichen Sicht eher einem polaren Gegensatz gleicht (vgl. ebd. 200).
[5] Das Einhaken bezeichnet einen Prozess bei dem eine Person im Hier-Jetzt mit dem Körper verschränkt ist, der von den anderen als männlicher oder weiblicher Körper wahrgenommen wird. Entsprechend dem vom Körper bezeichneten Geschlecht wird diese Person dann im leiblichen Interaktionssystem von Gleich- und Verschiedengeschlechtlichkeit als Frau oder Mann eingehakt (vgl. Lindemann 2011, 57).
[6] Ich bezogene Realisierungseffekte beschreiben Maßnahmen, die die Realität des neuen Geschlechts durch eine zusätzliche personale Leistung stützen (vgl. Lindemann 2011, 131). Hierzu gehören alle bewussten Auseinandersetzungen mit dem Geschlecht, also zum Beispiel das Erlernen der neuen Körperhaltung oder die Entscheidung zur Hormonbehandlung.
[7] Zur Durchführung dieser Studie bezog sich Flaake auf verschiedene einzeln durchgeführte Interviews mit jungen Frauen und Mädchen im Alter von 13 bis 19 Jahren, ihren Müttern, Vätern bzw. Stiefvätern. Die Leitfadeninterviews wurden mit der psychoanalytisch orientierten Textinterpretation ausgewertet, um durch die Orientierung an der tiefenhermeneutischen Textinterpretation Latentes, also handlungsleitende Motive, die aber nicht bewusst in Erscheinung treten, aufzudecken (vgl. ebd. 239). Ergänzt werden diese Analysen durch Auswertungen „literarischer Texte, in denen auf adoleszente Entwicklungen bezogene kulturell tabuisierte Gehalte besonders deutlich zum Ausdruck kommen“ (ebd. 11).
[8] Adoleszenz definiert Flaake als Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein. Die körperlichen Veränderungen, wie das Wachsen der Brüste, die Veränderung der Genitalien, die Menstruation, aber auch die neue Qualität von sexueller Erregung, können nicht unabhängig von kulturellen Bedeutungszusammenhängen betrachtet werden. Sie sind also immer schon gesellschaftlich vermittelt. Verarbeitet werden diese durch innerpsychische Konstellationen, die durch soziale Definitionen und Bewertungen beeinflusst werden. Den Veränderungen werden somit Bedeutungen zugeschrieben, die wiederum gesellschaftliche Weiblichkeitsbilder reproduzieren (vgl. ebd. 8).
[9] Flaakes Studie verweist an dieser Stelle lediglich auf heterosexuelle Beziehungen und Mädchenfreundschaften.
[10] Kritisch zu beachten ist die Konzentration auf Befragungspersonen aus „westdeutschen, städtischen und sozial eher privilegierten Umfeld“ (ebd. 239), wodurch andere soziale Kontexte, kulturelle Einflüsse und Migrationserfahrungen nicht in die Studie einbezogen werden konnten.
- Citation du texte
- Janina Jaeckel (Auteur), 2013, Geschlechterforschung aus phänomenologischer und psychoanalytischer Perspektive, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/353229
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