Beninas (In)differenz. Die Weiblichkeit in Benito Pérez Galdós Roman "Misericordia"


Dossier / Travail de Séminaire, 2018

18 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Die Dekonstruktion von Geschlechterrollen nach Felman

III. Beninas sexuelle Differenz und deren Implikation für das traditionelle Modell der Geschlechteropposition
1. Anzeichen für Beninas Differenz als weibliches Ideal
2. Beninas Nicht-Differenz zum maskulinen Signifikat
3. Beninas Indifferenz
a. Die Dreiecksbeziehung in Misericordia .
b. Benina als asexuelle Heilige

IV. Konklusion.

V. Bibliografie

I. Einleitung

Das Geschlecht wird nicht durch anatomische Fakten bestimmt, sondern durch die falsche - aber deswegen nicht weniger wirksame - nachträgliche Interpretation einer Wahrnehmung. Sexualität ist also nicht gegeben, sie wird in einem Akt der Interpretation konstruiert.1

Diese Konstruktionen von Sexualität haben im Europa des 19. Jahrhunderts dazu geführt, dass die Differenz der Geschlechter in den Vordergrund rückte: Mann und Frau wurden als grundverschieden angesehen, als das Gegenteil des jeweils anderen.2 Vinken bezeichnet die so entstehenden Geschlechterrollen als Illusion.3 Der der literarischen Strömung des Realismus angehörige spanische Autor Benito Pérez Galdós (1843-1920) ist mit seinen Büchern auf die Desillusionierung der Gesellschaft aus.4 Da Debatten über Gender und der aufkeimende Feminismus eine zentrale Rolle im ideologischen und politischen Diskurs im Spanien des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts spielen, ist es nicht verwunderlich, das Galdós die Frauenfrage in seinen Romanen thematisiert.5 Aufgrund seiner vielfältigen Beschäftigung mit der Problematik, nennt ihn Birgit Wolter sogar einen novelista de mujeres.6 Dementsprechend sind seine Werke häufig Objekt einer literaturwissenschaftlich-feministischen Auseinandersetzung. Wenn Sexualität durch Interpretation konstruiert wird, kann man sie auch wieder dekonstruieren. Die Literaturwissenschaft des dekonstruktiven Feminismus hat genau das zum Ziel: sie „ist auf eine ständige Subversion der Geschlechterrollen aus“7. In Galdós‘ 1897 erschienenen Roman Misericordia 8 geht es nicht explizit um Gender, jedoch wird durch den weiblichen Protagonismus Beninas dieses Thema Teil des Werkes. Dieses handelt von einem Dienstmädchen, Benina, das seiner Herrin auch nach deren Verarmung treu bleibt und beider Lebensunterhalt erbetteln muss. Obwohl, oder gerade weil Misericordia in vielen feministischen Galdós-Studien übergangen wird, erscheint es lohnenswert, diesen Roman genauer unter die Lupe zu nehmen. Wird auch hier die traditionelle Geschlechteropposition anhand der Figur der Benina subvertiert? Mit dieser Frage beschäftigt sich die vorliegende Arbeit. Dazu muss zunächst gezeigt werden, wie eine Dekonstruktion von Geschlechterrollen funktioniert. Danach soll Beninas Differenz analysiert werden: Im ersten Kapitel steht Beninas Anderssein als Frau im Vordergrund; das zweite beschäftigt sich mit ihrer Nicht-Differenz zum maskulinen Signifikat. Anschließend wird diskutiert, inwiefern ihre Erhebung in den Status einer Heiligen die allgemeine These der Geschlechterdifferenz beziehungsweise die der Nicht-Differenz unterstützt. Um den Rahmen der Hausarbeit nicht zu sprengen, wird im Folgenden mit exemplarischen Textstellen gearbeitet, obwohl im Roman noch viele weitere, für die Fragestellung interessante Passagen enthalten sind. Aus dem gleichen Grund findet eine Beschränkung auf die Protagonistin statt, während auf andere feminine Figuren nicht eingegangen werden kann.

II. Die Dekonstruktion von Geschlechterrollen nach Felman

In ihrem Aufsatz „Weiblichkeit wiederlesen“9 aus dem Jahre 1992 beschäftigt sich die amerikanische Literaturkritikerin Shoshana Felman (*1942) anhand der dekonstruktiv-feministischen Lektüre des Balzac-Romans „La fille aux yeux d’or“ mit der Frage „Was ist Weiblichkeit?“. In diesem literarischen Werk werden zwei Affären miteinander verknüpft; ein Mann, Henri de Marsay, beginnt eine Affäre mit einer Sklavin, Paquita, die bereits eine sexuelle Beziehung mit ihrer Herrin, der Marquise, unterhält. Dem eigentlichen Roman geht eine Präambel voraus, die mehr vom Klassen- als vom Geschlechterkampf handelt und in der Balzac die Pariser Gesellschaft als ein System hierarchischer Ordnung porträtiert, in welchem alle nach zwei Dingen streben: Nach Gold und nach Lust. Zu Beginn des Romans ist die Relation der beiden Geschlechter zueinander durch das Prinzip der Trennung und Hierarchie gekennzeichnet: Das Männliche herrscht über das Weibliche. Darüber hinaus wird das Feminine vom Maskulinen definiert, da sich herausstellt, dass Paquita, das Mädchen mit den Goldaugen, für das weibliche Ideal als Fantasie des Mannes steht. Rhetorisch gesprochen steht also der Mann als Signifikat - denn hier liegt die eigentliche Bedeutung - und das Feminine als Signifikant, der nur durch den Bezug zum Maskulinen Bedeutung erlangt. Mittels Hierarchisierung der Geschlechteropposition wird die Differenz der Frau unterschlagen; sie wird vollständig unter das Männliche subsumiert. Es findet also eine Substitution des Maskulinen für das Feminine statt.

Diese Ausgangssituation wird durch den Plot subvertiert. Die blinde Referenz auf das maskuline Signifikat erweist sich als falsch: Paquita befindet sich nicht, wie von Henri angenommen, in einer Liaison mit dem Marquis, sondern mit der Marquise, einer Frau. Henri verliebt sich in Paquitas Goldaugen, die als Spiegel fungieren und ihm sein eigenes idealisiertes Selbstbild zeigen. Da die Augen als „Gold“ beschrieben werden, „das liebt - und das durchaus in deine Tasche gelangen will“10 schreibt Felman ihnen, und somit Paquita, aufgrund der erotischen Konnotation eine phallische Rolle zu. Dementsprechend sei Weiblichkeit hier eine Metapher des Phallus.11 Während also Henris ideale Frau die Metapher eines Mannes ist, ist Paquitas idealer Mann die Metapher einer Frau: Damit Henri der Marquise mehr ähnelt, bringt Paquita ihn dazu, die Kleider der Marquise anzuziehen. In der Transvestismusepisode schwingt die Frage mit: Wenn Kleider den Mann/die Frau machen, sind Geschlechterrollen dann nicht bloße Travestien? Henris Transvestismus wäre somit die Travestie einer Travestie. Dadurch wird bereits das klassisch-hierarchische Geschlechtermodell angezweifelt.

Diese Zweifel werden von einem Ausruf Paquitas bestätigt: Während des sexuellen Aktes mit Henri ruft sie „Mariquita!“12, den Namen der Marquise. Dadurch wird Henri symbolisch entmannt, denn er erfährt, dass er für eine Frau substituiert worden ist. Durch die metonymische Verbindung der Namen der Protagonisten in Mariquita sowie die unschickliche Benennung Henris durch diesen Frauennamen, wird die propriety, also die Eigentlichkeit oder Schicklichkeit der drei Eigennamen aufgehoben. Damit wird die Dynamik und Reversibilität der Polarität von Männlichkeit und Weiblichkeit offenbar und dem am Anfang des Romans vorherrschenden hierarchischen Geschlechtermodell die Grundlage entzogen. Weiblichkeit ist damit nicht mehr als Gegenpol zur Männlichkeit zu sehen, sondern in der Spaltung, in „dem unheimlichen Raum zwischen zwei Zeichen, zwischen den Institutionen Männlichkeit und Weiblichkeit“ 13 konstatiert.

Dementsprechend stellt Paquita eine Bedrohung des konventionellen Systems dar und muss beseitigt werden. Die Marquise kommt Henri zuvor, als sie Paquita mit einem Dolch (ein weiteres Phallussymbol) tötet. Diese Ermordung Paquitas bildet den Rahmen für das erste Aufeinandertreffen von Henri und der Marquise, die sich als Geschwister erkennen. Henri identifiziert seinen geheimen Gegner innerhalb des Liebesdreiecks mit Paquita als seine unheimliche Selbstspiegelung im Weiblichen.14 Er ist selbst der Gegner. Da er seiner Schwester bei dem Treffen einen Kuss gibt, liest Felman aus der Situation eine Konnotation von Inzest heraus. Durch das Auftreten der Marquise sowie die Assoziationen von Homosexualität und Inzest, die auch Eigenschaften von Henris Vater, Lord Dudley, waren, kehrt dieser in den Text zurück. Für Felman symbolisiert Paquita den Vater, denn beide Figuren nehmen eine mittlere Position in den Dreiecksbeziehungen mit Henri und der Marquise ein. Außerdem repräsentieren Paquitas goldene Augen den Vater, denn dessen Name klingt wie das französische Wort für Gold (l ’ or). Gold substituiert also den Vater, der mit Geld den Stiefvater Henris dafür bezahlte Henri als Sohn aufzunehmen. Durch das Wiederauftauchen seines biologischen Vaters kann sich Henri nicht länger de Marsay nennen, er verliert seinen Namen. Somit haben der kulturelle Prozess der Namensgebung und dessen repräsentative Autorität keine Gültigkeit mehr. Gold verkörpert also nicht mehr wie am Anfang das ökonomische Prinzip des Besitzes, sondern das Prinzip der Substitution sowie das der Austauschbarkeit und Fetischisierung ewig zirkulierender Substitute.

Die Erzählung endet subversiv: Anstelle des Prinzips von Trennung und Hierarchie tritt das Prinzip der universellen Äquivalenz. Damit ist die Legitimierung der ursprünglichen Klassifikation aufgehoben. In Bezug auf die Relation von Identität und Differenz schreibt Felman: „Differenz wird, meint Henri, durch sexuelle Identität bestimmt. Es stellt sich aber heraus, daß Identität umgekehrt durch sexuelle Differenz bestimmt wird.“15 Das Weibliche steht also nicht in Opposition zum Männlichen, sondern wohnt der Männlichkeit inne.16 Sowohl Weiblichkeit als auch Männlichkeit sind Signifikanten, also Differenzen, die über den Bezug auf andere Differenzen definiert sind.

III. Beninas sexuelle Differenz und deren Implikation für das traditionelle Modell der Geschlechteropposition

1. Anzeichen für Beninas Differenz als weibliches Ideal

Beninas Charaktereigenschaften entsprechen denen des viktorianischen Frauenideals der Bourgeoisie, dem sogenannten á ngel del hogar. Da man diese Attribute für natürlich weibliche Wesenszüge und die „essence of the eternal feminine regardless of race [and] class“17 hielt, sind diese Ausdruck von geschlechtsbedingten Unterschieden zwischen Mann und Frau, von sexueller Differenz. Der Hausengel war mitfühlend, selbstlos, barmherzig, hart arbeitend, genügsam, in religiösen Dingen spiritueller als der Mann, passiv, gehorsam, still leidend, ohne sexuelle Libido, schuf durch muttersgleiche Liebe einen Zufluchtsort vor allem Übel des realen Lebens und erwartete keine Anerkennung oder Dank.18 Dass Benina diese Eigenschaften besitzt, wird im Folgenden an Kapitel IX exemplarisch dargestellt. Es handelt sich bei diesem Abschnitt um eine Analepse, in welcher der Leser erfährt, wie die Dienerin die Familie Zapata nach ihrem Sturz in die Abyssale der Armut auch ohne Entgelt selbstlos umsorgt hat. So erfahren wir, dass die Protagonistin es schafft, ihre Herrin durch besondere Wirtschaftlichkeit weiterhin durchzufüttern, indem sie nur „inverosímiles cantidades metálicas“19 ausgibt. Wir erfahren von ihren „esfuerzos sobrehumanos“20 die ganz klar beweisen, dass Benina hart arbeitet. Angetrieben wird sie durch „un profundo sentimiento de caridad“21 sowie „el ardiente cariño“22, was ihre mitfühlende Barmherzigkeit beleuchtet. Während Doña Paca isst bis sie satt ist, gibt Benina sich mit den Resten zufrieden. Als klar wird, dass Doña Pacas Tochter Obdulia ihre Hilfe braucht, kann Benina nicht anders, als ihr die Hand zu reichen, denn „no podía verla con hambre y necesidad“23. Beninas Liebe ist die einer Mutter. Auch Russell kommt zu dem Schluss: Die Nächstenliebe liegt „in her very nature“24.

[...]


1 Vinken, Birgit: „Dekonstruktiver Feminismus - Eine Einleitung“, in: Vinken, Birgit (Hg.): Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 7-29, hier S. 12.

2 Vgl. Jagoe, Catherine: Ambiguous Angels. Gender in the Novels of Gald ó s. Berkeley: University of California Press 1994, S. 37f.

3 Vinken: „Feminismus”, S. 26.

4 Vgl. Rollwage, Julia: Blicke und Wahrnehmung bei Benito P é rez Gald ó s. Kiel 2002, S.11.

5 Vgl. Jagoe: Ambiguous Angels, S. 6f.

6 Wolter, Birgit: Geschlechterspezifik - Sprache - Literarische Konstruktion. Empathiestrukturen bei Emilia Pardo Baz á n und Benito P é rez Gald ó s. Berlin: Frei 2001, S.69.

7 Vinken: „Feminismus”, S. 26.

8 Pérez Galdós, Benito: Misericordia. McAllister Editions: Leipzig 2016. Im Folgenden zitiert als Misericordia, inclusive Kapitelangabe in römischen Zahlen zur leichteren Orientierung in anderen Editionen. z.B.: Misericordia, IX S. 33-36, hier S.34.

9 Die folgenden Ausführungen basieren im Wesentlichen auf den Erkenntnissen Felmans (Vgl. Felman, Shoshana: „Weiblichkeit wiederlesen“, in Vinken, Birgit (Hg.): Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S.33-61.)

10 Balzac nach Felman: „Weiblichkeit”, S. 38f.

11 Hier wird die Beeinflussung Felmans durch die Denkschule Lacans offenbar, derzufolge Männer von Frauen wollen, dass sie ein Phallus sind (Vgl. Leupin, Alexandre: Lacan Today. Psychoanalysis, Science, Religion. New York: Other 2004, S.92.).

12 Balzac nach Felman: „Weiblichkeit“, S. 45.

13 Felman: „Weiblichkeit”, S. 47.

14 Unheimlich wird hier im Sinne Freuds als fremd und vertraut zugleich gemeint. Vgl. Felman: „Weiblichkeit”, S. 49.

15 Felman: „Weiblichkeit”, S. 55.

16 Zu diesem Fazit kommt auch Lacan: “[N]o gender can claim any superiority over the other one. This is because all men have an unconscious - that is, a feminine ‘side’ (beyond words), and all women speak, so that, inasmuch as they are speaking beings, they are submitted to the phalloexcentric logic.” Leupin: Lacan Today S. 93.

17 [Ergänzung von Daniela Kluger] Jagoe: Ambiguous Angels, S. 13.

18 Vgl. Jagoe: Ambiguous Angels, S. 12-41.

19 Misericordia, IX S. 33-36, hier S.34.

20 Misericordia, IX S. 33-36, hier S.35.

21 Misericordia, IX S. 33-36, hier S.35.

22 Misericordia, IX S. 33-36, hier S.35.

23 Misericordia, IX S. 33-36, hier S.36.

24 Russell, Robert H.: “The Christ Figure in Misericordia”, in: Anales galdosianos 2 [E-book]. O.O. 1967, S.103-130, hier S.104 (online unter: http://www.cervantesvirtual.com/obra- visor/anales-galdosianos--4/html/0254c1fe-82b2-11df-acc7-002185ce6064_75.html#I_21_, aufgerufen am 02.03.2018).

Fin de l'extrait de 18 pages

Résumé des informations

Titre
Beninas (In)differenz. Die Weiblichkeit in Benito Pérez Galdós Roman "Misericordia"
Université
Christian-Albrechts-University of Kiel  (Romanisches Seminar)
Cours
Hauptseminar Naturalismo Espiritual
Note
1,0
Auteur
Année
2018
Pages
18
N° de catalogue
V434743
ISBN (ebook)
9783668759725
ISBN (Livre)
9783668759732
Taille d'un fichier
461 KB
Langue
allemand
Mots clés
Feminismus, Gender, Dekonstruktion, Galdós, Benito Perez Galdós, Misericordia, Weiblichkeit, Shoshana Felman, Ángel del hogar
Citation du texte
Daniela Kluger (Auteur), 2018, Beninas (In)differenz. Die Weiblichkeit in Benito Pérez Galdós Roman "Misericordia", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/434743

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