Herman Sörgels "Atlantropa" zwischen Technokratie und politischer Utopie


Libro Especializado, 2018

445 Páginas


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Abstract

2. Das Konstruieren Herman Sörgels
2.1. Diameter
2.1.1. Freuds‘ Schatten
2.1.2. Der Architekt
2.1.3. Schwabinger Bohème
2.2. Radius
2.2.1. Der Untergang des Abendlandes
2.2.2. Edison in Panamerika

3. Das Megaprojekt „Atlantropa“
3.1. Elemente
3.1.1. Aus Lehmgestalt, Homunculus
3.1.2. Schattenschnitt - Randgestalt - Götterfunke
3.1.3. Am Katarakt: Flussgestalt
3.1.4. Die prometheische Eroberung der Hitzegestalt
3.1.5. Das Werden Grüngestalt
3.2. Entropie
3.2.1. Exzess
3.2.2. Taumel
3.2.3. Zerfall
3.2.4. Katastrophe
3.3. Regeneration

4. Utopia : Technica
4.1. Idol
4.1.1. (Non) plus ultra
4.1.2. Kategoremata
4.1.3. Trilogie (20.000 Meilen in die Zukunft)
4.1.4. Neue Hoffnung
4.1.5. State of the art
4.2. Das Faustische
4.2.1. Kopula: Ist, Moment, Augenblick
4.2.2. Originalfaust
4.2.3. Fronttyp
4.2.4. Kritik der ursprünglichen Elemente
4.3. Gegenspannung
4.3.1. Grandioses Scheitern?
4.3.2. Weiße Elefanten
4.3.3. Ein Platz an der Sonne
4.3.4. Der postkoloniale Status Quo
4.3.5. „Schattenglobalisierung“
4.4. Das Durchfahren der Säulen in der Literatur
4.4.1. Die Virtuosität des Amadeus
4.4.2. Auftritt des Milliardärs
4.4.3. Von deutsch-titanischen Superwaffen
4.4.4. Postagentismus, Superheld, Supermacht

5. Der Anbeginn der Zukunft
5.1. Futurologie
5.2. Die ewigen Grenzen des Wachstums?
5.3. Szenario
5.3.1. Frühe Technokratie
5.3.2. Erneuter NS-Dunstkreis
5.3.3. Des Meisters Schüler in „Auerbachs Keller“
5.3.4. Konservative Frankfurter Schule
5.4. Szenarienbildung & Risikoforschung

6. Das Anthropozän
6.1. Sondierung
6.2. Energetik der Provinz
6.3. Der Geist der Vergangenheit & der Zukunft

7. Ereignishorizont
7.1. Migrationsströme
7.2. Der Wille zur Macht

8. Das Tao der Maschine

9. Bibliographie

I’ll join the hills that bind the Afric shore,

And make that country continent to Spain,

And both contributary to my crown:

The Emperor shall not live but by my leave,

Nor any potentate of Germany.

Marlowe

1. Abstract

Die vorliegende These möchte sich mit einem megalomanischen Projekt der Superlative befassen: Atlantropa. Dabei geht es um die Vereinigung von nicht mehr, aber auch nicht weniger, als zwei Kontinenten zu einem Superkontinent. So jedenfalls erdachte das der Münchener Architekt und selbsterkorene Weltenbaumeister Herman Sörgel, der zeitlebens eine gehörige Portion Idealismus mitbrachte. Nach einem Blick auf Vita, Werdegang und zeitgeschichtlichen Hintergrund, der Kontextualisierung des Visionärs im geistigen Raum, soll das gigantisch angelegte Werk – gerade ebenso wie es zwischen Afrika und Europa dem Anspruch nach Einheit gestiftet hätte – zwischen Technokratie als realer Möglichkeit und Utopie qua bloß frommem Wunschtraum angesiedelt werden, ohne dabei zu übersehen, dass genau das tatsächlich der geistigen Topographie entsprechen könnte.

Der prinzipiellen Verwirklichung stand dabei zu keiner Zeit wirklich technisches Bedenken im Wege, dann eher schon politische Hürden, aber auch noch zu klärende Problemfelder. Wir folgen dem Unterfangen dann durch sozusagen drei historische Zäsuren, den „Goldenen Zwanzigern“ und ihrer ewig repetitiven Gründerzeit, dem „Boom“ quasi, hindurch durch die Schrecken des NS-Regimes, hinein in die kalte Ernüchterung der „Stunde Null“ und dem erneuten Wiederaufbau der Trümmerzeit. In einem nächsten Schritt befassen wir uns mit den zugrundeliegenden Unterströmungen der Weltlage, die zum ersten Mal so in ihrem globalen Horizont ausgeschöpft zu sein hatte, wenn man ihren ideologischen „Führern“ Glauben schenken wollte. Nicht nur die Arbeitslosigkeit im Schatten der Wirtschaftskrise, die Instabilität zweier verheerender Kriege, auch der Übergang vom Imperialismus und in seinem Zuge – Kolonialismus zum Totalitarismus darf nicht übergangen werden. Das Werden ohnehin, spätestens seit Spengler zentraler Begriff der Großkulturraumerfassung, war hier als Rezept um Pazifismus, forcierten europäischen Einigungs- wie Kampfprozess, ja internationaler Balance & Geopolitik bis in ihre historischen Tiefen zu sehen und dann gar zur erstrebenswerten Autarkie.

Eingebettet in die explizit technologische Utopiegeschichte, lohnt der Vergleich zu ähnlich breit, groß, oder hoch konzipierten Würfen ihrer Art. Oder wie im Falle Atlantropas aller beteiligten Dimensionen. Ob das die tatsächlich durchgeführte Landerweiterung Hollands, die extensiv konzipierte Infrastrukturmaßnahme in Tennessee oder das erst 2008 voll ans Netz geschaltete „wasserwirtschaftliche Drehkreuz der Drei-Schluchten-Region“ ist, im Volksmund Drei-Schluchten-Damm, die Beispiele sind zahllos, im sprichwörtlichen Sinne uferlos. Dahinter schwebte natürlich zu allen Zeiten dieselbe Vision, als Blaupause gleichsam. Sicher war immer schon die teils blinde Technikgläubigkeit sowie der damit verbundene Fortschrittsoptimismus ein bedeutender Faktor menschlicher Entwicklung, spielend anhand einer monumentalgeschichtlichen Auffassung nachweisbar, die nicht zuletzt vom Traum des perpetuum mobile genährt wurde, wie es zweifellos für unseren Maßstab schon näherungsweise kosmisch gegeben ist und lediglich auf unsere Welt heruntertransformiert werden muss – durch den „deus ex machina“ versteht sich. Das Wunschbild der Zukunft bleibt dabei jedoch stetige Projektionsfläche.

Hingegen konkret kann man noch nicht einfach so dahinträumen, es sei denn man ist ein formender Gott – man muss einen präzise und akribisch ausgeführten Plan vorlegen, der möglichst alle Feinheiten und Unwägbarkeiten abdeckt. Im Vorfeld bereits, da es sonst niemals zu einer praktischen Umsetzung kommen kann. Einmal technokratisch festgelegt, ist man dann allerdings auch erst einmal in Pfadabhängigkeit begriffen – tautologisch bis zum nächsten GAU (Größter anzunehmender Unfall) spätestens und aufgrund des Trägheitssatzes oft auch darüber hinaus. Dem steht freilich oft der „dümmste anzunehmende User“ machtlos gegenüber. Bis dato musste Technik aber zunächst diverse Stadien durchlaufen, in groben Schritten von der Industrialisierung und sich weiterentwickelnden Automation, zur steuernden und regelnden Kybernetik „selbstreflexiver“ Systeme, den Axiomen Asimovs vielleicht, bis hin zur Futurologie und Überlegungen der Autopoesis als der immer inhärenten Grenzerfahrung geschlossener Systeme, der computergestützten Abschätzung der antizipierten Zukunftsfolgen in näherungsweisen oder zumindest anschaulichen Modellen und viel wichtiger noch – Szenarien.

Vernachlässigt wurde zu diesem Zeitpunkt dabei noch die Umwelt als großer Posten externalisierter Kosten, wie überhaupt zumeist bis zu diesem Zeitpunkt. Damit ist nicht gesagt, dass es in der Vergangenheit kein entsprechendes Bewusstsein gegeben hätte, sein rudimentäres Vorhandensein lässt aber bisweilen eher auf technisch zu lösende Schwierigkeiten schließen, die dann vermutlich in einem weiteren technischen Verfahren „bereinigt“ werden könnten. Zu berücksichtigen ist dabei, dass der Mensch mit dem Eintritt ins sogenannte „Anthropozän“ zuvorderst ein Niveau erreicht hat, an dem er nicht nur maßgeblich Einfluss auf seine eigenen Lebens- und ergo Evolutionsbedingungen nimmt, sondern auch ebenso leicht zur Selbstzerstörung[1] befähigt ist.

Am Schluss bleibt dann vorläufig wie so oft in einer wie auch immer prozessualisierten Welt, als Baustelle vornehmlich, das „Tao der Maschine“ bestehen, der Geist also der die Maschine beflügelt, die vom Geist beflügelt wurde und im Idealfall nicht vom „Geist in der Maschine“[2] geplagt ist, also Codesegmente, die von Anfang an immer wieder spontan auftauchten, wie uns der cineastische Reißer belehren will. Von leitender Geltung darf dabei die Forschungsfrage sein, ob unser Dasein in seinen unseren Eingriffsmöglichkeiten zugänglichen Aspekten, schon hinlänglich der Perfektion oder Optimierung zurast, wie es der geläufige modus operandi will, oder ob es doch noch der makroskopischen Konzepte und vor allem Entwürfe aller Art weiterhin bedarf, eine inkrementalistische Nachregulierung peu à peu nicht doch unter Umständen der sich anbahnenden Katastrophenperspektive entbehrt, die sie nachgeradezu fahrlässig in einem schlechten modus vivendi auf sich zu steuern lässt. Die Frage nach dem großen Wurf also anstelle der kleinen Kiesel, die bestenfalls mit ins Rollen geraten dürfen. Eine Abrundung erhält die Untersuchung aus aktuellem Anlass nicht zuletzt durch das Faktum, dass das Mittelmeer im Verlaufe der Migrationsherausforderung erneut in den Brennpunkt gerückt ist - nachdem man es immer einmal wieder mit einem jeweils vor sich hin dümpelnden, aber vollklingenden Regimeentwurf probiert hat - ja selbst inzwischen einen neuen, nicht mehr nur schwelenden darstellt und nicht weniger erneut Atlantropa sich deshalb einer gewissen Renaissance erfreuen kann, gerade wo doch auch München selbst die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit in einem so hohen Maßstab ausnahmsweise einmal nicht in einem schlechten Kontext erregen konnte. Und wer weiß, was ein vorsichtiger und freilich rein spekulativer Blick über den Ereignishorizont nicht noch so alles verheißen, entbergen mag?

2. Das Konstruieren Herman Sörgels

2.1 Diameter

2.1.1 Freuds‘ Schatten

Am 2. April 1885 erblickt Herman Sörgel in Regensburg das Licht der Welt. Sein Monokel sollte allerdings erst später zu seinem Markenzeichen werden. Es war die supreme Zeit Bismarcks, aber auch des Kaiserreichs. Also bildete auch das Empire - gerade auch als Kunst- & Kulturstil - zeitlebens eine Leidenschaft.

Doch zunächst zu seinem Vater, Hans Ritter von Sörgel, der in den persönlichen Adel des Königreichs Bayern erhoben worden war. Der Titel war allerdings nicht erblich, ein Phänomen, das Herman wiederum insofern zu schaffen machte, als es ihm umso schwerer fiel, den verkörperten und erlernten Anspruch von blauem Geblüt aufrechtzuerhalten – weiter als bis in die Schwabinger Bohème schaffte er es im Grunde nicht. Das soll nicht unbedingt heißen, dass er ein Parvenu war – nur machte man es ihm nicht leicht, das gelebte savoir-vivre des Elternhauses fortzuführen. Sörgel senior hatte ja eben noch das Walchenseekraftwerk als oberster Bauleiter Bayerns zusammen mit Oskar von Miller quasi über Nacht aus dem Boden gestampft.[3] Und ohne ihm jetzt mangelnde Emanzipation vorzuwerfen, waren die Weichen sozusagen schon gestellt, beziehungsweise die Kanäle zur Wasserfortleitung schon gegraben, im Zuge einer industriellen Revolution, die sich für die Sörgels vornehmlich in den bereits vorgeweichten Fußstapfen einer hydroelektrischen Hausse bemerkbar machte. Im Gegenteil, weniger wie Kafka, der ihm aus Gründen des Zeitgeists vielleicht etwas ähnlich sieht, beinahe vom selben Typ ist, und am Konflikt mit dem Vater tödlich gescheitert, übertrumpft Sörgel ihn eher – ganz freudianisch, möchte man schmunzeln – wenn auch „nur“ in der Phantasie.

Wobei wir hier immer ein kapitales „Zunächst“, ein „kursorisch“ einer fundamental offenen Zukunft einführen und in Folge immer dazu denken müssen, gerade wenn man die oftmals jahrhundertelangen Vorlaufzeiten technischer Großprojekte in Betracht zieht. Sörgel überbietet dann also in gewisser Weise seinen Vater, aus seinem vorgezogenen Bannkreis wird er sich nie gänzlich lösen. Zwei ambitionierten, weil abgelehnten Dissertationen, die der fachlichen Orthodoxie der Architektur wohl so gar nicht geschmeckt zu haben scheinen, folgte nichtsdestoweniger ein noch beachtlicher Werdegang, selbst in akademischer Hinsicht. Der Vatermord in der Urhorde hat also stattgefunden. Er hatte ja auch die Connections vom Vater, es ist auch die Zeit der großen Rackets, die anbricht und mit den amerikanischen Neologismen quasi mit der Bugwelle der Prohibition über den Atlantik herüberschwappt.

Webers stahlhartes Gehäuse wird er sich radikalst zum Werkstoff unterwerfen, wie sie dann in den Panzern mit mäßigem Erfolg Anwendung finden. Seine erste abgelehnte Doktorarbeit hat er dann später als Einführung in die Architektur-Ästhetik: Prolegomena zu einer Theorie der Baukunst veröffentlicht und damit den Durchbruch erzielt, wenn auch noch nicht den ganz großen. Auch seine zweite Arbeit zur Bedeutung konkaver Räume sollte kein Wohlgefallen in den Augen der Prüfer erwecken, ein Motiv, welches Spengler als Ursymbol des Orients identifiziert haben wird. Der Konflikt mit der Universität ist ja selbst wiederum der hier schon in der infinitesimalen Fluchtlinie gesehene mit dem Vater, das sich Messen an den alten Spielständen und Kursgeistrekorden, die man in ihrer potentiellen Inferiorität erst einmal widerlegen muss und sei es mit der sanften Gewalt des besseren Arguments, unter dem das gegenteilige zu schweigen haben soll. Ergo ist er nur konsequent, wo er eine Reform der Gymnasien andenkt und ebenso sein Dozieren in Bamberg an der Meisterschule für Bauhandwerker mit einer entsprechenden Reform zur einheitlichen Organisation quittiert.

Dabei ging es ihm speziell um die Integration der drei Ebenen des damaligen Bauwesens, wie es zwischen Meistern, Baumeistern und schließlich ihrer Krönung - den Architekten - gegliedert war. Freilich sollten sich hier genauso wie bereits in seiner Ästhetik angedacht, Kunst und Bau harmonisch vereinen, ja er definiert so im Grunde den Begriff Bauhaus für sich. Als dritte Forderung verlangt er nach präzisen Lehrplänen, welche er selbst gleich detailliert ausgearbeitet vorlegt. Es sollen ihm explizit keine „utopischen Experimente“[4] stattfinden, stattdessen wünscht er alles ausformuliert, auf allen Pfaden, zu einer Synthese zusammengeführt. Wenn es ihm um eine strenge „Aussiebung des Schülermaterials“[5] bestellt ist, findet er sich (und vor allem sie!) bereits ganz dem Dinglichen verhaftet. Es folgen in München zahlreiche Tätigkeiten für einschlägige Szenezeitschriften, redaktionell wie freischaffend.[6] Schließlich zieht er auch hier die völlig logische Konsequenz und gründet sein eigenes Blatt, die „Baukunst“. Neben seinen kritischen und diskutierenden Ansätzen finden sich auch eigene architektonische Publikationen, namentlich Wohnhäuser und Das Haus fürs Wochenende, die vor allem auch dem „kleinen Mann“ dienen sollen (immer wieder betont er trotzdem die Notwendigkeit des Hinzuziehens eines Architekten, bei aller Liebe für die Vorstellungen des Bauherren) und worin er sich erneut gegen die Bodenspekulanten und noch gehäufter auftretenden Baulöwen ausspricht – ja die eigentlich schon im kaiserlichen Berlin alles in den Bankrott getrieben haben und womöglich so langsam gen München greifen.

Entsprechend bescheiden fallen dann ebenso die anfänglichen Größenverhältnisse aus, hier wird alles herausgekürzt, was nicht zwingend notwendig ist und erweist sich damit jetzt bereits als von enormer kontemporärer Relevanz minimalistischer Integrallösungen, aber auch von der Gegenseite lassen die heute banalsten Probleme der Bauwissenschaft erahnen, wie katastrophal die Lebensverhältnisse gewesen sein müssen, von Überbelegung, schlechter Luft, mangelnder Hygiene bis hin zum separaten Raum für die bäuerlichen Tiere, den sich schon nicht mehr jeder leisten kann, oder der in den überkommenen Verhältnissen einfach noch nicht zum „state of the art“ gehört. Dass er seine Geschichte bei den ersten Arbeitersiedlungen retrospektiv bis in die Fuggerzeit anheben lässt und unter anderem auch die Genese und Evolution des mittelalterlichen Stadthauses betrachtend berücksichtigt, lässt durchaus fundierte fachliche Kompetenz durchblicken. Im Grunde landet er hier wieder zyklisch nach zwei Weltkriegen genauso bei der frühen ökologischen Eigengarten- & Laubenbewegung, wie schon Fechter in der „Kletterstange“.[7] Dort nämlich, wo man ankommt, nachdem an der Börse alles Geld an den Zigarren angesteckt wurde. Und die Titanic, die „Unsinkbare“, geht mit Kaviar, Sekt & Pianokonzert unter, wie wir uns gleich an mehreren Stellen belehren lassen. Man kann also sagen, auch er konstatiert bereits von Anfang an ein „Unbehagen in der Kultur“, welches er von allen ihm wichtigen Saiten in die Zange nehmen will.

Aber Sörgel macht hier bei Weitem nicht Halt. Immer weiter dreht sich das unermüdliche Hamsterrad, das „rat race“ will gewonnen werden, koste es was es wolle, Verluste sind tapfer in Kauf zu nehmen um des höheren antizipierten Gutes willen. Es folgen die Verirrungen und Merkwürdigkeiten im Bauen, sein erster (noch provisorischer) Brückenschlag gen Atlantropa. Es sind nämlich einige Zwischenschritte der Transformation und „Traumdeutung“[8] notwendig, um die nötige Spannung zu erreichen, eine so gigantische imaginäre, ja visionäre Kraft in die wenigstens geplante Realität zu projizieren, ihr Leben einzuhauchen.

1925 tritt Herman Sörgel eine Amerikareise auf der Jungfernfahrt der „Berlin“ an, man weiß nicht, ob es Vorteilsnahme ist. Genauso die Parallele zu Kafka erneut[9], überhaupt ein populäres intellektuelles Genre spätestens seit Tocqueville, mit dem man auch – ganz ähnlich wie mit der klassischen Bildungsreise – ein gewisses akademiepolitisches Statement abgibt. Inspiriert haben ihn dort natürlich die Skyscrapers.[10] So hatte er Gelegenheit, in New York Hugh Ferriss in seinem Atelier im Penthouse quasi kennenzulernen, lancierte ihn dann später exklusiv in Europa. Hier unterstrich er vor allem die visionäre Geistesverwandtschaft im Kampf für das architektonische Ideal jenseits des Tagesbetriebs auf der Baustelle und weit jenseits Europas. Worauf es jedoch eigentlich ankam, war sein Besuch beim Panamerikahaus in Washington. Hier muss ihm erstmals sprichwörtlich ein Licht aufgegangen sein, wenn auch vielleicht noch weitgehend unbewusst, dass auf lange Sicht Amerika ein Superkontinent werden wird, so jedenfalls seine Rezeption und Interpretation der intendierten symbolischen Bedeutung. Folglich wird er es sich zur Lebensaufgabe machen, Europa ähnlich langfristig mit Zukunft zu etablieren, um sich weiterhin als Kulturraum – wir erwähnten Spengler schon kurz – zwischen dem transatlantischen Vorreiter und der „Gelben Gefahr“, wie er sich leider immer wieder unnötig pejorativ ausdrücken wird, behaupten zu können.

Konkrete Pläne entstehen dann ab 1927, Weihnachten, wie es der Gründungsmythos schön will. Diese wiederum setzt er vor allem in einigen Hauptwerken auseinander, die zum Teil so konzipiert sind, dass sie jeweils den ersten Band einer Reihe bilden sollten, wobei man davon ausgehen kann, dass so mancher Entwurf von den weltverändernden Verhältnissen überholt wurde, oder aber der Arbeitsaufwand selbst für den fleißigen Einzelgänger Sörgel irgendwann nicht mehr alleine zu bewältigen war. Man ist aber in den Anhängen durchaus dazu angemahnt, Lust auf Mehr zu bekommen (hier sogar: Meer) und nicht so ganz sicher, ob schon die ebenfalls günstige Plattenbauweise der Adria antizipiert wird, oder man auch dort schon dem frühen Sammelspielkonzept aufsaß, wo die Verpackung noch neu und verheißend aussieht, vieles aber niemals über die Verkündigung des Sequels hinauskam und der tatsächliche Pakteinhalt letztlich doch wieder hier und da enttäuschend ist, man vieles schon doppelt und dreifach gezogen hat, während man dem seltenen Novum harrte.

So stellte er das Projekt erstmalig 1929 in Mittelmeer-Senkung, Saharabewässerung vor, in dem es noch unter dem Namen Panropa firmierte. 1932 folgte bereits Atlantropa, vermutlich sein Hauptwerk und Herzstück des Ganzen. Denn schon 1938 ist spätestens im Untertitel der neue und kontaminierende Odem der Machtübernahme im Nacken spürbar, Die drei großen „A“. Großdeutschland und italienisches Imperium, die Pfeiler Atlantropas. Zu schließen ist sein Zyklus mit einer Festschrift zum 25-jährigen Jubiläum, Idee und Macht, die entsprechend großspurig zum Sang auf Atlantropa intoniert, vom Titel her genauso noch erahnen lässt und letztlich klar dem Odischen verhaftet bleibt. Hier ist dann schließlich lose Hermans Alterswerk anzuknüpfen, namentlich Spuren, Stufen und Gestade, das zwar noch einem vagen Atlantropabezug treu bleibt, aber doch auch sehr viele persönliche Impressionen über die Natur, Gott und die Welt, ganz genauso klar im nordischen Stil gehalten, bereithält, was sich nicht nur spielend an der Fraktur ablesen lässt, sondern vor allem dem Versmaß nach an geläufigen Schriften des germanischen Kulturraums orientiert ist. Hier ist Sörgel total bei sich zu Hause angekommen, beinahe schon in kosmischer Harmonie und Einklang mit dem All.

Man kann an dieser Stelle vielleicht ebenso eine holprige Parallele zur sowjetischen Weihe groß geratener Monumentalbauten ziehen[11], die dann nachträglich mit dem Hang zum Bildlichen nicht nur poetisch verbrämt werden, sondern auch grafisch-malerisch und in der Tat muten die eingestreuten technischen Begriffe bizarr an, wie ein plötzlich in der Landschaft auftauchender Betonblock, der noch durch eine Kunst-am-Bau-Farbfassade in schlechter beinahe-Technicolor brilliert. Dennoch kommt das womöglich der warum nicht auch realsozialistischen Realität im Umbruch vielleicht am nächsten.

Der ein oder andere „spin-off“ muss diese Werkübersicht abrunden: so gab es das aus gutem Grunde populärwissenschaftlich gehaltene Atlantropa ABC, natürlich die Zeitschrift des Atlantropa-Instituts selbst, die wie zahlreiche Presseartikel evidentermaßen darauf abzielten, das laufende Publikum bei der Stange zu halten. Hierzu gab es rechnerisch 8 Ausgaben, wobei zwei Exemplare Doppelausgaben waren, zu beziehen um 1,20 DM. Auch wird hier gleich die inhärente Widersprüchlichkeit des Themas wie Sörgels selbst sichtbar, wenn es in Ausgabe eins auf Seite elf heißt: „Also besteht ein Interesse, Gegenden zu vernichten, wo nur der Schwarze allein leben kann.“ Ausgabe 3/4 widmet er dann ohne ersichtliche logische Probleme Einstein, Gandhi und Bruckner.[12] Um Propaganda kam auch Sörgel nicht herum, die völlig synchron mit dem Zeitgeist ebenso bei ihm ihre Sternstunde im Film erleben wird. Ist das nicht auch ein Stück weit der Star, zu dem er dann selbst schon geworden ist und an dessen Glanz seine „Anhängerschaft“ teilhaben darf, so sie nicht selber längst Ikone geworden sind, man sich gegenseitig in der Auserwähltheit bestätigt und wie es nur allzu bekannt ist vom Guru, Mentor, Propheten dieser oder jener Spielart?

2.1.2 Der Architekt

Aber zunächst einmal: worum ging es Sörgel in seiner Architektur? Angesprochen wurde ja schon seine Ästhetik, die noch ganz dem Klassischen verschrieben ist und inzwischen wieder als wenn auch nachlässig wiederaufgelegte und entsprechend schwer zu lesende Replik ohne Doppelumlaute vorliegt. Dabei ist sie auch inhaltlich eine Replik auf die Größen des Faches und der Zeit, der Konflikt mit dem „Vater“ will sich - ebenso, wie uns Mann wieder bestätigt - ins nächste Kapitel ziehen. Eingangs betont Sörgel die Freiheit der Baukunst, die man allerdings mit den Materialzwängen vereinbaren muss, nicht zuletzt in ihren Elementen, vielleicht das Grundmotiv der Architektur.

Phantasie war ihm auch da schon wichtig, die mit dem immanenten Willen des Stoffes kollidiert – hier wäre Wölfflin zu nennen – das Ziel wäre Formgebung. Ja man könnte hier bereits die Bändigung der spekulierten Teilchen veranschlagen. Zu erwähnen ist das Lebensgefühl einer Epoche, also wieder Zeitgeist, der aber nicht mit Kunstgeist in eins fällt. Individualität fände ihre Grenze, wo sie die Gesetzmäßigkeiten vernachlässigt, Sörgel spricht von Willkür, Geistreichtum, Kaprize.

Man dient aber auch nicht „dem einmal fest fixierten System zuliebe“[13]. Architektur ist Menschenwerk, Erzeugnis menschlicher Kraft. Kunst ist „Göttergeschenk“, Technik „Menschenkampf“. Dementsprechend stehen sich erzwungen und frei gegenüber. Die Ästhetik bildet aber mehr als nur den Zweck ab, sie beginnt eigentlich erst dort, wo Schöpfergeist zu spüren ist. Untote Virtuosität soll sie allerdings auch nicht sein. Weil die Architektur ein Handwerk ist, wohnt ihr aber schon automatisch ein „gewisses Fluidum der menschlichen Hand“[14] inne. Die Technik beendet durch Zwang die vermeintliche Willkür der Natur. Im Idealfall muss man wohl anmerken, schafft sie doch neue, andere Zwänge als Substitut. Dass allerdings nun in einem nächsten Schritt „höhere Mächte“ durch den Künstler durchregieren, grenzt schon fast an Voodoo, die plakative Zurschaustellung des Individuellen ist ihm Manierismus. Ist es gar ein „Manierismuss“, eine zwanghafte Zurschaustellung? Denn: das Bauästhetische muss autonom bleiben. Immer aber gilt es auf Zweck, Material, Konstruktion zu schauen. Eine moderne anarchistische Lesart kann damit also nicht gemeint sein. Es ist sich vielmehr Zweck in autonomer, mag heißen: selbständiger Erscheinungsform. Höchstleistung wird dabei (automatisch?) Zeitgeist, auch vom Empfinden, Verstehen und Urteil her.

Es schließen Überlegungen zur Raumpsychologie an. Die Ehrfurcht ist ihm ein Thema, die Sicherheitsleistung, die Charakteristik in ihrer Schönheit & Erhabenheit. Doch bei alledem bleibt die Baukunst wegen ihrer Realität unfrei. Die Schwere gilt es dabei von der Werkform in die Kunstform zu überführen. Dabei erringt sich gerade am Technischen das Künstlerische. Ironischerweise erfährt im buchstäblichen Sinne Sörgel die Welt komplett neu vom eingeführten Bilde des >>Wagens<< und zwar sowohl seelisch, als auch auf der Straße des Verstandes und des Auges. Vermutlich entspricht genau das dem Zeitgeist der Industrie. Fürderhin möchte er noch die Einzel- & die Gesamtwahrnehmung integrieren, er schneidet erstmals im großen Stile nachweisbar das Konvexe und das Konkave an (es gibt ihm aber auch das Neutrale), möchte das „Erhabene, Titanische“, nicht den Menschen [sic!], zum Maßstab machen, was ihn in diesem Punkt zum Beispiel von Hocheder scheidet. Anschließend thematisiert auch er schon die Funktion der Mauer und führt die damit verbundene Raumnot in sein Denken ein. Dieser Begriff wird uns noch öfter begegnen müssen. Sörgels Bauvorschriften reichen dann hingegen doch bis in die Verputztechnik, später bis zum verwendbaren Herdmodell, man kann sich diese detailgenaue Akribie wohl nur im Kontext des gesamten Stands der lebendigen Debatte seiner Zeit zusammenreimen, er war da durchaus involviert und voll flammenden Eifers, ja nimmt selbst schon den gesamten auszufüllenden Raum ein und erweitert ihn Stück für Stück.

Auch die nächste Passage ist schön und eigentlich schon des Rätsels Lösung: „Nicht im Kampfe mit der Maschine, sondern im Bunde mit ihr soll man arbeiten.“[15] Und gleich darauf wird es heißen: „Man muss den Maßstab für die Gewalten der inneren Kräfte eines Eisengefaches in sich selbst tragen, um seine volle Schönheit zu empfinden.“ Das Eisenbeton steht hier natürlich stellvertretend für die Industrie als Ganzes, mithin für die neuen aufkommenden Bauweisen, namentlich das Bauhaus. Hier jedenfalls will Wikipedia Sörgel stilistisch einsortiert wissen, als Spielart des Expressionismus.[16] Aber man kann das noch differenzierter auffächern. So geschieht es exemplarisch bei Voigt, neben Gall eine der wenigen Arbeiten, die explizit nur Atlantropa zum Gegenstand nahmen, von einer wesentlich jüngeren Masterthesis aus Knoxville, einer bis vor kurzem laufenden Arbeit zur Ästhetik und anderen im Werden begriffenen Projekten zunächst abstrahiert.[17]

Dort also weiterführende Daten zur Vita und aus genuin architekturgenetischer Perspektive das genaue „Who-is-Who“ um und mit Sörgel, von dem hier nur die wichtigsten weiteren Stationen genannt sein sollen: am bekanntesten unter ihnen wohl Gropius, Höger, Mies van der Rohe. Letzterer ließ es aber bei einer Zusage der Mitarbeit bewenden. Höger hatte eben erst mit seinem Chilehaus den ganz großen Durchbruch gelandet, spielte von nun an im „Großen Spiel“ mit.

Gropius war für das Bauhaus ja sozusagen namensgebend, ja für die moderne Architektur mithin überhaupt. Das künstlerische Manifest von Weimar kam doch bald schon in Dessau zur Anwendung, wie man bei Scheiffele liest. Während Gropius Interesse in erster Linie darin bestand, den Bauprozess zu organisieren, hatte Junkers mehr am technischen Haus Gefallen. Vom Flugzeug zum Metallhaus sollte industriell gefertigt sein. Ob Hausfabrik oder Versuchsbaustelle, stand nun nicht nur der fordistische Serienbau nahe, sondern auch die bei Sörgel und Fechter wiederbegegnende Gartensiedlung, sowie das Modellhaus. Die erstmals systematische Bauforschung war nach Peus „pragmatisch“, doch hatte man es auch mit einer Art utopischem Denken im Sinne einer Weltsprache zu tun.[18] Die Schule „philantropin“ machte sich den quasi-kantischen Imperativ „vergeude keine energie!“ zu nutze. Der „krieg“ bedeutete eine „zäsur“, ja einen Rückfall gleichsam, zwischen „dawesplan und dollarsonne“. Die „widersacher der moderne“ spielten eine „terroristische variante“ aus, während am frühen Wendepunkt ’27 Gropius festhielt: „die zeit der manifeste für das neue bauen, die die geistigen grundlagen klären halfen, ist vorüber.“ Ehrenburg meinte dazu, dass Dessau mehr wagte als Paris und Moskau. Der Arbeiter stand im Mittelpunkt einer Energetik und eines Monismus, den Entropie umgab. Während Ostwald das solare Zeitalter mit seinem Farbkreis einläutet, hat man es mit einem Vorläufer des „Club of Rome“ zu tun, dem man die Synergetik eines „bucky“ Fuller wie die dritte Dimension anheimstellen muss, ebenso wie die Weltsprache Ido oder die Normalia eines DIN Weltformats.

Mit Arbeiterdruckerei, Konsumverein und Volkshaus, hatte man eine neue praktische Form der Organisation gefunden, Gropius selbst aber darf nicht mehr ins Tivoli. Das Zungen-R findet auch hier bereits seine frühe Würdigung.[19] Der uns später bei Mann wieder begegnende FJTeLbeRG muss als Beispiel einer Font-Optophonetik herhalten, die im Flugzeug, ja im Suprematismus in Tateinheit mit dem Futurismus seine Zuspitzung findet. Ganz entsprechend das abstrakte Flugstreckennetz, ganz analog die sich herausbildende Fliegersprache.[20] Der anhalterische Siedlerverband ist der Gartenstadt schon ganz nahe, genauso wie das Oktogon und – dieses Mal – Leopold Fischer. Gegen den Bauhausmythos und die Konstruktivismusromantik wendet sich nun bereits Loos, da sie auch nicht besser als eine Ornamentromantik seien.[21] Bernburg spricht von einem „zickzackhausen“, für Peus ist es schlicht „massensparen³“ zwischen Mark und Groschen. Dem Kleinsthaus ordnet sich schlank das wachsende Haus nach Martin Wagner um ’32 bei, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise. Der Vorschlag der tatsächlichen Hausfabrik an Junkers wird zumindest zum Metallhaus führen, in einer „tripelspannung“ mathematisch-astronomischer Entwürfe zwischen Erde, Mond & Sonne mit Prismenfenstern, am Schluss bleiben vor allem Weltpostkarten.

Vielleicht kann man auch hier schon eine „Big Five“ konstruieren, wie sie New York später wieder kennt. Zurück zu Sörgel - Le Corbusier allerdings wollte nicht - ihm werden wir jedoch später wieder begegnen. Neben Höger lieferten vor allem Döllgast und Welzenbacher Skizzen, Behrens und Fahrenkamp im Rahmen ihrer Meisterklassen. Das „Namedropping“ ist noch wesentlich länger, ob Poelzig, Oud, van Eesteren, Schumacher, Haesler, Schneider, Vorhoelzer, im Grunde wäre es einfacher zu fragen, wer nicht dabei war.

Unbekanntere Lokalgrößen, der Bund Deutscher Architekten, viele nahmen sich dieses oder jenes Teilprojekt vor. Von zentraler Bedeutung ist auf alle Fälle noch Taut. Gelernt hatte er ja noch unter Fischer, der damals für den maßgeblichen Generalbebauungsplan Münchens verantwortlich zeichnete, exakt wie für eine ganze Generation von Architekten und dessen Kollegen neben Welzenbacher und Oud auch Bonatz beinhaltete – ein weiterer der Wenigen, die Sörgel auf Ansprache eine klare Abfuhr erteilten. Man sieht schon, wie die „üblichen Verdächtigen“ am Werk sind. Jeder kannte also jeden und die Szene war insgesamt noch überschaubar. Von Bedeutung war Taut allerdings wegen seiner pionierhaften Rolle, Sörgel sollte dann seine explorativen Fußstapfen eher noch vertiefen. Mendelsohn ist besonderer Respekt zu zollen, hat er doch an ganz prominenter Stelle auf Atlantropa Bezug genommen. Doch vorerst ist der Zirkel damit im Groben komplett, manche Namen aus der aktualisierten „Architektur-Ästhetik“ lediglich in ihren unmittelbaren Zusammenhang eingebettet.

Um den Gedanken dort noch zu Ende zu führen, muss man erkennen, wie dem Architekten das Verdienst gebührt, aber stärker noch die Pflicht & Verantwortung auferlegt ist, Zeitepochen als Ganzes zu repräsentieren, ihnen Stempel & Namen aufzudrücken. Eigentlich ist ja auch das wieder im strengen Sinne idiomatisch, schließlich ist keine noch so umfassende Periode an sich objektiv – im Vergleich wozu auch. Häuserbauen wird zur „Trägerin von Gesinnungswerten“. Massenproduktion soll es aber ebenso wenig sein. Gerade in ihrer Monumentalität liegt ihnen schließlich auch immer Menschenmaß zugrunde (und wenn auch nur um ihn, den Menschen, klein dagegen wirken zu lassen, möchte man hinzufügen, wenn man ihn eben als Miniaturfigur am Ende zu Komparationszwecken hinzufügt). Trotzdem bleibt der Mensch aktiv in der Architektur, ein beinahe schon zu gewagtes Zugeständnis, es hat Klarheit und Übersichtlichkeit in der Orientierung zu herrschen.

Es ist darauf zu achten, dass das Alte dem Neuen den Markt nicht raubt. Im Umkehrschluss darf man sich nicht vor den fremden Einflüssen früherer Zeiten verschließen. Ein besonderer Begriff ist Sörgel noch der genius loci, man will ihn tatsächlich mit der Dekonstruktion vergleichen. Wie es dort um den Kontext geht, der bisweilen den Autor auslöscht, ist es hier der „Geist der Örtlichkeit“, noch nicht gar so dem Virtuellen verhaftet. Es wird aber auch hier schon immer schwerer, das Neue einzufügen, vielleicht darum bald schon die Flucht in den (zumal Baudrillard’schen) Cyberspace. Ja, das „sich-einfügen“ (können) wird selbst zum Maßstab von Kraftvektoren und optionalen Klammern. Sörgel zitiert hierzu Goethe, eine zufällig mit dem Besen zusammengekehrte Stadt wird dort mit Bärentanz und Affensprüngen verglichen. Vielleicht ist das schon das erahnte Seelentier des rauen Nordens und des wilden Südens, hatte der Altmeister im Vorgriff die richtige Intuition? Ist es dann also alt oder neu, und wenn ja in welchem Maße? Sörgel führt daraufhin den Dualismus von Konvention und Intention ein, um das Individuelle im Typischen zu vereinen, also als Kategorie einmal wieder handhabbar zu machen.

Dann wird einmal wieder der Tod der Originale wie der Schaffenskraft konstatiert, jetzt schon, müsste man eigentlich sagen, je nach Leserichtung. Wobei „neue“ Funktionen neuen Stil erfüllen. Und die kategorischen Imperative gehen noch weiter: der Höhepunkt einer Gesamtkultur hat sich in der Baukunst zu reflektieren, die Ruhe ist als Kontrast zur technischen Hast zu sehen, damals schon. Interessant beobachtet ist die versuchte Synthese zwischen den Polaritäten im Bereich der Restauration – so wie wir die antiken Statuen ohne Farbe schätzen, als „Originale“ wohlgemerkt, nennt er die „gothischen“ Bauten in ihrem verwitterten, gealterten Zustand als Inbegriff der Gotik, das ist doch wohl mehr als eine kaum noch hörbare Differenz. Auch den Krieg addiert er noch als Zerstörung zu Überfluss in Armut auf, muss man so die Verkörperung seiner Zeit rezipiert haben, als Ruine? Jünger würde ja sagen ja, Baudrillard auch, wenn sowohl das WTC seine hollywoodreifen Special-FX verdient hat und den vorausgehenden Film sozusagen en passant überholt, wie die Biosphäre II die Wüste in ihrer Kopie des Originals, und Pompeij die Petrifizierung. Auch das wohl eine Art des besagten genius loci, die Bombe fügt sich zum Terroristen, die Scholle zum Eisbär. Streng evolutionistisch in die jeweilige Nische eingepasst.

Nichtsdestotrotz, die Vereinbarung des gemeinsamen Stilbewusstseins mit den je eigenen Architektenstilen bleibt eine Gratwanderung, die in der Retrospektive wohl auf Kosten von Sörgels eigener Argumentation geht, zu wenig Individualität bis hin zum blinden Fackeltotalitarismus, während erst wieder die postpostmoderne in ihren „state of the art“-Entartungen ihres Establishments sich etwas traut – insofern und soweit es denn das Portemonnaie hergibt. Oder dann auch wieder bewusst langweilig, weil man es sich leisten kann. Doch dann wäre man ja wieder bei der Neuen Sachlichkeit seit dem Bauhaus, in einer Zwischentransformation vielleicht „International Style“. Von dort wollen wir auch vorerst nur in kleinen Schritten weiter, Sörgel fordert „das universale Eingehen auf alle geistigen Fäden und Potenzen der Zeit“[22]. Städtebau bleibt ihm das „höchste und ausdruckvollste Symbol einer Kultur“.

Das Staatenleben muss berücksichtigt werden, die herrschende Weltanschauung, die sozialen Verhältnisse. Doch bewegt er sich auch hier schon, wie vielleicht das Kaiserreich insgesamt, gefährlich nahe am Nationalsozialismus, wenn „die höchsten und letzten Forderungen der Architektur“ nur durch eine staatliche soziale Macht erfüllt werden können, Sörgel damit so gänzlich unamerikanisch-„unvertrusted“ ist. Also gänzlich unprivatisiert und trotzdem wieder kartellhaft. Doch der Ruf nach Neuem wird vielfach als ketzerisch aufgefasst. Damit ist auch hier schon die geleitete Pfadabhängigkeit in historischen Bahnen vorweggenommen.

Bleibt dann der Eklektizismus letzter Platz der Höhepunkte? Ist es Sachlichkeit, Naivität oder Monumentalstil? Doch es bleibt auch sozialer Kampf, Ungebundenheit und Gärung einerseits, Gemeingefühl und Urwüchsigkeit andererseits, was ja hinlänglich im Rahmen von Gemeinschaft versus Gesellschaft nach Tönnies diskutiert wurde, nicht zuletzt bei Rawls und Taylor seinen späten Reflex findet und sicherlich auch einer je eigenen architektonischen Strömung, eines Bestandteils noch, zu entsprechen hat, als denkbar einfachster Kontrast eine Siedlungsarchitektur und eine Bonzenvilla.

So leitet auch Gebhardt nicht durch Zufall die bekannte Unterscheidung von kalt und heiß, die auch McLuhan wieder umtreiben wird, anhand der „Osteier“ ein, die von Ebersbach sogar als „Neger der Nation“ tituliert werden. Zwar habe das Kommunistische Manifest alle feudalen Bande zerstört, mithin alle patriarchalen und idyllischen Verhältnisse, letztlich jedoch nur zu den Gemeinschaftsradikalismen Weimars geführt.[23] Gedacht ist die Stadt auch hier erneut als „Dschungel“, „Großstadtasphalt“, „Steppe“, „Eiswüste“, „Gletscher“ und dergleichen, man mag schon Freyer im Sinn haben, aber vor allem auch eine Mittelalterbegeisterung, deren Architektur bereits früh im sogenannten Dächerkrieg endet. Während entsprechend ausgewiesene „undeutsche Einflüsse“ also als amerikanischer Maschinenkult gelten, hätte man die Kirche doch wohl lieber im Dorf lassen sollen, anstatt nach Fehl einem „reaktionären Modernismus“ zu verfallen. Doch manche sahen hierin die große Alternative zum Bauhaus, zahlreiche Gemeinschaftsexperimente folgten.

Aber auch Sörgel wird dann schon bald das Nationalgefühl noch stärker in Frage stellen, die „ungeheure Verantwortung der Architektur“ fällt dann eben Europa zu Lasten. Ohne langes Nachdenken kann man aber bereits die „künstlerisch ungebildeten Spekulanten“ über Bord werfen, denn der Haupthinderungsgrund in einer Gesundung [sic!] liegt im mangelnden Bewusstsein. Der ganze Raum soll berücksichtigt werden, nicht nur die schöne Perspektive. Und ergo muss auch die ganze sichtbare Welt gestaltet werden.

Soviel zu Sörgels Ausgangspunkt. Ob die Arbeit eine Ablehnung wert war, ist fraglich. Im Grunde stellt Sörgel ja eine Art Dekalog der Architektur auf, deutet damit bereits die Abdeckung einer pädagogischen Perspektive an, die sicherlich so in der Weise eine Fortführung der väterlichen Erfahrungen und Faustregeln durch die Klassenräume seines späteren Werdeganges als Gerade legt, in der Vorbereitung und Wegbereitung in den Gymnasien, dann an den Fachhochschulen. Freilich konstruiert er damit den Bau schon von Grund auf. Über den fachlichen Stand des Diskurses ist er anhand seiner Zitate wohl im Bilde. Vielleicht ist er insofern etwas schlampig, wie es dem Idealismus eigen ist, aber das muss nicht seine Schwäche sein. Das Handwerkszeug beherrscht er, spielend anhand technischer Skizzen und Erläuterungen ersichtlich. Ob er das Rad neu erfunden hat, ist zwar zu bezweifeln, aber anhand seiner Provenienz will man gerne auch interne Schwierigkeiten mutmaßen. Sich von der Orthodoxie zu lösen, scheint damals mehr noch wie heute ein Problem gewesen zu sein. Oder war er sich seiner Herkunft geschuldet schon allzu sicher, bereits auf allzu hohem Niveau als Ausgangslage und der Anspruch entsprechend unerfüllbar in den geistigen Verhältnissen seiner Zeit, das Kreuz aller Genies? Ist er wirklich mit demselben Maßstab messbar, wie der unbedarfte Debütant der Architektur? Man wollte es in der Folge womöglich genauer wissen, seine Abhandlung über konkave Räume ist aber bestenfalls mittelbar zu tangieren.

Angedeutet hatte es sich ja bereits in der Ästhetik. Im Prinzip scheitert er damit selbstverständlich an seiner eigenen Gleichmacherei, ist er ja auch eher der Konkave unter Konvexen und man ist verblüfft an die Parabel der Kugel gemahnt, die sich durch Kreisland bewegt und immer nur mit einer mal kleineren, mal größeren Ebene in die zweidimensionale Flächenwelt hereinragt. Wer könnte schon ein vier- oder fünfdimensionales Objekt ob seiner Unscheinbarkeit erkennen? Verglichen werden muss ohne Zweifel mit der Plastik, dem Maß aller Dinge der bildenden Kunst, exemplarisch genannt wird Hildebrand.

Ob man jetzt vom Konvexen oder vom Konkaven ausgehen will, bleibt sich gleich, je nachdem ob man vom Negativ oder der Passform redet. Plastik ist demgemäß konvex, es muss etwas abgetragen werden, die Oberfläche wölbt sich. Die Malerei ist flach, das war das oben genannte neutrale Element. Die Architektur hingegen verhält sich wie eine Höhle, nicht nur aus anthropologischen Motiven, sondern in ihrer objektbezüglichen Implementierung in den umgebenden Gesamtraum, ja der Raum selbst ist konkav.[24] Damit ist die Kuppel das zentrale Ereignis der Architektur, nicht nur, oder gerade weil sie als Petersdom oder ursprünglicher noch Pantheon Pflichttermin ist, Mekka ist. Das mag im ersten Augenblick blasphemischer klingen, als es ist, aber ziehen wir Spengler zur Rate. Zwar wurde Mohammed in einer Höhle von der Spinne vor den Häschern geschützt[25], und man könnte darin das Urmotiv des Islams festmachen, سكينة (Sakīna). Doch Rom ist zunächst „heidnisch“ und gehört dem Kulturkreis der Antike an, also Ägypten mit dem Ursymbol des Lebenswegs entlang einer Wand, in Stein gemeißelt für die Ewigkeit, dann eben über das minoische Kreta und Griechenland mehrmals heruntertransformiert und einem inhärenten Bedeutungswandel unterzogen.

Der Einzelne ist dabei abstrakt, nur der Herrscher sieht seinen Weg als Exemplar des Gattungswesens. Der Orient hingegen ist immanent und überlagert die antike Kultur. Damit ist er auch magisch, je individuell, idiomatisch per se. Erst die Gotik ist eigentlich, das heißt genuin christlich, „überlagert“ den Orient mit der Renaissance, in einem Übergang wenn man so will, einer Verblendung durch und zwischen den parallelen Kulturräumen. So in der Art jedenfalls will es Spengler. Ob Sörgel das wusste, wissen wir nicht. Spenglers Untergang des Abendlandes wurde erst Jahre nach Sörgels Diskussion des Konkaven veröffentlicht, vermutlich bezog man sich auf gemeinsame Quellen, beziehungsweise muss man vom herrschenden Diskurs und dem Allgemeinwissen der Zeitgenossen ausgehen, welches durchaus noch im Bannkreis der Altphilologen und Althumanisten steht, eine Diskussion von Kuppelelementen in der Architektur sollte ohnehin der Architektur vorbehalten sein und wurde an dort bereits genannten Stellen unternommen. Wesentlich später jedenfalls wird Sörgel sich ein eigenes Pantheon planen, der Gedanke hat ihn also bis zum Schluss auch nie ganz losgelassen. Witzig ist, dass er hier nicht nur Jesus von Nazareth, neben Goethe und anderen, wie Hörbiger, einen Platz reserviert hat, sondern genauso kurioserweise auch einer Duncan, die sich für ihn durch „schottischen Tanz“ hervorgetan zu haben scheint.

Die Arbeit selbst findet sich als Manuskript im Archiv.[26] Das Konkavitätsgesetz mit besonderer Beziehung auf den architektonischen Kugelraum befasst sich zunächst mit der „Eigenart des Raummässigen“, wie schon, in groben Zügen, in der Dissertation I. Hier unterscheidet Sörgel zunächst das Optische, Symbolische und Praktische.[27] Der Bedeutung des Kugelraumes folgen ihre Mittel, dann das Raumproblem der Baugeschichte. Fechner findet Erwähnung, wie Lotze, die Theorie des Schönen sei auch beim Nichtphilosophen nicht mehr nur metaphysische Träumerei oder dialektische Begriffskünstelei. Immer wieder unterstreicht Sörgel einzelne Wörter, legt einen roten Faden durch die Arbeit, vom Auge geht er zur Schaubarkeit, zur Baukunst, zur raumbildenden Tendenz über.

Die Schönheit des Kreises ist von einiger Relevanz, ja ein Naturprinzip. Es finden Plato Erwähnung, Hogarth, Raphaël, Mengs, Winckelmann, Theodor Vischer, eigentlich ja Fischer. Sörgel geht zum Prinzip der Konkavität über und zu Hocheder, von dort zu Bildwirkungen, zur Art, also zum „Warum“, zum Forminhalt, zum Raumwert vor allem horizontal und vertikal gemessen. Der Daseinsform ist eine Erscheinungs-, sowie eine Wirkungsform beizuordnen. Überlegungen zu Malerei, Plastik und Architektur folgen solche zum Lebensalter, die räumlichen Potenzen sind in ihrer einfachsten Formel bereits jetzt auf eine 3D-Psychologie zu bringen.

Der Audienzsaal des Königs interessiert Sörgel sowie Behrendt, er schaut sich den Haushof und die Haushallen im Hausbau näher an. Hat alles seine Berechtigung und Verwendbarkeit? Optisch muss alles leicht auffassbar sein und der Akkommodation zugänglich, vielleicht nach dem Prinzip der Ähnlichkeit? Immer wieder ist die Arbeit von kleinen Skizzen oder Illustrationen durchsetzt, so das „Teatro Olimpico“ in Vicenza. Freilich gilt bei Sörgel ein groß geschriebenes „Noblesse oblige.“ Insbesondere nämlich in Hinblick auf die seelischen Potenzen der Kunst, das heißt κατ‘ἐξοχή ν. Es herrscht allseitig klare Gesetzmäßigkeit.

Dem Willen folgt die Erinnerung, dann schon Schinkel, es geht weiter zur Ökonomie, zur Statik, zur Beleuchtung. Jenseits von Heizung, Ventilation, Akustik, Optik dominieren für Sörgel immer wieder unbrauchbare und unangenehme Zwickel im Baukubus.[28] Erneut wird auf Licht und Farbe Bezug genommen, speziell am Beispiel des Lichthofes der LMU. Die Fensterform soll eine gleiche sein. Renaissance und Barock folgen Michelangelo und diesmal Raffael, Paolo Veronese, Tintoretto, Pozzi, Tiepolo, Goya sowie Knoller, „um nur einige wenige zu nennen“[29]. Der Gonzagapalast interessiert Sörgel, sowie der Beleuchtungskörper der Halle des israelitischen Friedhofs, speziell immer die Wandung, die Nischenbildung, die Bodenfläche und Einbauten, das Dielenmotiv, der Bodenbelag. Das Wiener Museum ist dabei und ein Entwurf Bénards der Universität Berkeley, die Rede ist vom Gehobensein.

Figur 9 zeigt bereits Bäume, die wie Atompilze aussehen, Figur 10 eine Konzeptgrafik, wie sie einer Spieleschmiede entstammen könnte.[30] Sie ist astrein von ihm selbst gemalt und es handelt sich womöglich um ein archäologisches Rätsel? Fünf Pietà vereinen sich im Kreis um eine Gruft in einem Grabmalbau und Sörgel nimmt nun Bezug auf Phrygien, Lykien, die etruskischen Totenstädte. Er nennt darüber hinaus die Scaligergräber in Verona, Ravenna, die Capella di Pazzi in Florenz, natürlich Santa Croce, geht auf Scheinfassaden und organisches Gebilde ein. Er zählt auf: den Tempelbau, vielleicht „Hauswuen“, den Tholostempel, die Minerva medica in Rom, spricht vom Islam, auch von der Bacchuskirche. Konvexen vorspringenden Gesimsen und Körpern ist ein konkaver Grundakkord zu eigen, Sörgel kennt die Moschee der Mihrimah in Edirne Kapu, die Baptisterien von Pisa, die Rotunde in Brescia. Das Hausteinkugelgewölbe der Kathedrale von Angoulême hat es ihm angetan, ebenso wie St.-Michel d’Etraignes, die Kapellen von Würzburg und Ludwigsstadt.

In der Passage zum Städtebau finden sich am Rand in rot die Anmerkungen „weglassen?“ und „kürzen?“, es lässt sich nur erahnen, ob die endgültige Fassung hier eine andere war. Aber auch hier war Sörgel bereits längst klar, lange vor der Spengler-Lektüre, dass der Ägypter ein „frontales Empfinden“ aufweist, die Gotik körperhaft ist, das Rokoko zügelloser Phantasie Spielraum gibt.[31] Die konkave Kugelsphäre gilt dem Unbegrenzten sowie dem Raumproblem neuerer Bauaufgaben in ihrer Sachlichkeit, Entrückung und Zweck. Es findet sich das Miethaus und das Privathaus, aber auch Torpedoboote und ein „Eisenbahncoupée“, das „Zimmer der Dame“ auf Schloss Steinach, Innenhof, Gartenwohnung. Es geht um Übersichtlichkeit und selbstverständlich darf dann auch das Panopticon[32] nicht fehlen, diesmal als Lesesaal.

Schaugebäude sind angedacht und Konzentrik, wie im Theater von 1900, wie in den Freiluftschulen Letchworths, eingebettet freilich in die Gartenstädte. Die National-Bismarckhallen sind uns heute kein Begriff mehr. Sörgel erwähnt die Große Berliner Kunstausstellung von 1904, sowie die Nationalhalle nach U. Spaeth. Vier Bühnen sind vorgesehen, es dreht sich um Tanzkunst und um Polyklet, um Plätze und „Strassen“, um Bodenfläche, um die Piazza del Campo zu Siena. Sörgel behandelt in nun schon geläufigem Schema beinahe Element für Element die Pflaster, das Wasserbassin, Rasenflächen, Mosaik, Blumenbeete, Wandflächen, die Ausschmückung. Aber der Kugelraum hat auch Schattenseiten. Sörgel schließt: „Jede kategorische und einseitige Anwendung aber würde schliesslich zu Langeweile führen; sie ist auch nur eine Farbe jenes polychromen Prismas: Kunst.“[33] Der Bibliographie kann man noch den ein oder anderen Namen entnehmen wie Fiedler, Hildebrand, Hoeber, Schmassow, Sitte, Streiter, Woermann, sowie die Zeitschrift für Geschichte der Architektur.

Kurios geht es bei Sörgel auch weiter. In den Verirrungen & Merkwürdigkeiten vollzieht er den verlauteten Brückenschlag ins Traumhafte, rein Konzipierte. Das Cover ziert „Metropolis“, ein Fritz Lang Film, der leider in den Dunstkreis der Nazis gezogen wurde. Dabei wird sich noch zeigen, dass einige der Eckdaten von Sörgels Plot dem des Films nicht unähnlich sind, ja das Erscheinungsjahr sogar mit der Atlantropa-Idee einhergeht, was kein Zufall zu sein scheint, überhaupt ein schicksalhaftes. Der kleine vielbebilderte Band hebt in Athos an, jener vor allem gegen Frauen gut abgeschotteten Enklave von Mönchen und Eremiten in Griechenland, die schon früh in Gestalt eines Riesen konzipiert wurde, wie man sie gegenwärtig womöglich durch die „God of War“-Spielereihe visualisieren könnte, allgemein durch die Rolle der Titanen in der olympischen Mythologie und ihren gigantischen Ausmaßen, wie sie wohl nur die Monumentalbauten selbst symbolisieren.

Die Bauleidenschaft herrschte aber schon im alten Ägypten, spielend nachweisbar anhand der Pyramiden. Dabei steht doch die Pyramide selbst symbolisch für den Staatsaufbau, an der Spitze der Pharao als Auge des Horus, der das Geheimnis kannte, nämlich von Anfang an den richtigen Ort zu besetzen, ja die Pyramide ist der Staat, zementiert für die „Ewigkeit“, wenn auch bislang stark erodiert, erneut eine falsche und patinafreie Vorstellung. Es ist kein Zufall, dass nicht nur Sörgel die Aushubmengen immer in Pyramidenvolumina - der Anschaulichkeit halber vermeintlich - umrechnen wird, eine Augenwischerei, die auch in Großprojekten der Gegenwart noch etwas hermacht und vielleicht gar den Staatsvergleich nahelegen will. Das Geheimnis dabei ist, dass es sich um die gleiche Tradition von Architekten und Bauherren handelt, die für ihr Versagen durchaus auch mit dem Tod bezahlen konnten – oder sie wurden in Gold aufgewogen. Cheops Tochter war übrigens eine Prostituierte, so Sörgel.

In New York zeigt er eine Szene, die wir als „Stations of the Elevated“ bezeichnen möchten, einer gleichnamigen Doku zufolge, die berühmten Hochbahntrassen des Personennahverkehrs, welche sich durch die Häuserschluchten winden, vor allem wohl gen Nordharlem und den berüchtigten „Projects" als wohl markanteste Impression. Aber eigentlich müsste man Manhattan gleich en bloc aufnehmen, hat man doch kürzlich erst die High Line in einen Park umgewandelt, an der Upper Westside. Entsprechend fessle die Wallstreet die Völker der Erde mit ihren Aktien in ihren unterirdischen Safes. Sörgel konstatiert zunächst Zweckverirrungen, Sensationssucht, Stilentgleisungen. Es mangele immer noch an einer Monumentalbaukunst, aus wirtschaftlicher Notlage oder künstlerischem Unvermögen. Die Hochhäuser scheint er nun außen vor zu lassen. Skylla & Charybdis sind ihm die Romantik und das Hängenbleiben am Veralteten, sowie die Maschine, der Zwang zum Industriellen, auch sie werden noch eine andere Parallele finden, wenn sich die Grenze gen Westen verschiebt.

Etwas weiter heißt es: „Die überspannt Modernen verlangen kühn eine neue Weltanschauung und Religion […]“ Es muss neu sein, nie da gewesen, von dem die ganze Welt spricht. Die Elektrisierung der Küche wird hier noch als Traum veranschlagt, später ist es nur mehr der Traum der Hausfrau. Das Wohnungselend ist immer noch da, aber es zeichnet sich auch schon die „Zeit großer Umstellungen“ ab. Die lieblosen und schnöde aufgetischten „Galanteriewaren“ entsprechen dem Bürger, der „Bazarschund“ dem Spießbürger. Er thematisiert daraufhin aufs Neue das Surrogat wie schon bei den Baustoffen. Dann würdigt er den „Minimalismus“ Tauts, wir wollten ihn schon mit der Alpinen Architektur und der Auflösung der Städte einführen und wagen hier den kurzen Exkurs. Wie stellt sich sein Minimalismus dar? Das im letzten Kriegsjahr entstandene, „utopische Friedensmanifest“, so Voigt, sah vor, die italienisch-schweizerischen Alpen umzubauen, vorwiegend mit Stahl, Beton und Glas „amorphe“ und „kristalline“ Kunstbauten zu schaffen, die sich von innen beleuchten lassen, was vor allem nachts eine Schau sein muss. Ein Tafelberg wird abgeschliffen, ein Stück der Glarner Alpen >>kantig-glatt<<, so diesmal Taut selber. Expressionistisch, funkelnd, >>Seid ein Gedanke eures Sterns, der Erde, die sich schmücken will – durch euch!<<[34] Die Kosten hätten nach Taut bis 1993 865 Milliarden Mark betragen. Doch auch er hatte schon seine Vorläufer, letztlich wohl Shaw, der den neu entstehenden Typus des Magnaten wohl als erster ansprechend literarisch verarbeitet hat.

Heikel wird es, wenn Sörgel daraufhin von selbst „Kuriositäten“ und „Pimpeleien“ verdammt und als zwei kaum abstoßender denkbare Beispiele Schädel und Haut nennt, echte, wie wir annehmen müssen. Hier lässt sich dunkel erahnen, welche Lasten auch die Zwischenkriegszeit mit sich herumschleppt. Einen anschaulichen Eindruck davon kann auch die Kunst Foujitas vermitteln, insbesondere sein später Kriegszyklus und Les Fables de la Fontaine, wenn auch aus einem völlig anderen Kontext heraus. Dann bemängelt er Logik wie Ergonomie: „Während wir an das Weltraumschiff denken, verfügen wir kaum noch über eine Kaffeekanne, aus der man nicht verschüttet.“ Kurz darauf wird es heißen: „An den scharfen Kanten und Ecken der Möbel stößt man sich. Die Lampe wirft gerade dort Schatten, wo man lesen will.“ Das Luxusbedürfnis ist falsch, wo nicht abartig, es herrscht Repräsentationssucht, ja Protzentum.

Sörgel setzt noch einen obendrauf mit Menschenhaar und Fingernägeln, am Horizont deutet sich bereits der Kongo an. Aber auch die architektonische Phantasie hat merkwürdige Wirkungsmöglichkeiten. Der Spieltrieb führt zunächst zur Raumaneignung, auch das wird später wieder auseinandergesetzt werden, wurde schon auseinandergesetzt.[35] Sörgel spricht vom „Luftschloß“, von der Vorstellung, Sörgel träumt gerne. Zum Traum und zum Krieger könnten wir auch Castanedas Gesamtwerk ins Feld führen. Zu oft steht bei Sörgel jedenfalls die Frage im Raum, ob es praktisch, das heißt billig realisierbar sei, der Begriff der „konkreten Utopie“ wird uns bei Bloch wieder begegnen. Für seinen kommenden Entwurf ist diese ökonomisch geizende Sparsamkeit zunächst einmal noch ein Manko.

Erst einmal zeigt er aber Thomas Mann die richtige Planskizze aus den „Buddenbrooks“ und auch ihm könnten wir am „Zauberberg“ und werden ihm in der Gestalt des „Doktor Faustus“ wieder begegnen. Ponten scheint Sörgel inspiriert zu haben, erwähnt sei Der Babylonische Turm, sicherlich das Urmotiv des Megalomanischen qua Bauwerk und unter Nimrods Ambitionen sogar eine Herausforderung an Gott, Der Meister wird genannt, hier ist die Hauptfigur beziehungsweise Heldenrolle ein Dom. Ja der Einzelne weicht zurück hinter dem Monument. Huchs Mao ist ihm wichtig, der zu Unrecht verpönte Jung hätte an diesem ganzen tiefenpsychologischen Transfer seine helle Freude. Das Haus ist hier „dämonisch“, der Protagonist stirbt mit dem Haus. Sie bildeten eine Einheit. Die zugrundeliegende Macht ist dabei sowohl mystisch, als auch satirisch, gespenstisch, wie erotisch, grotesk.

Bei Frey kauft „Solneman der Unsichtbare“ den Englischen Garten, eine himmelhohe Mauer wird gebaut, auf den Zinnen ist eine Rennbahn. Heute ist es die hochkontroverse Garten-Tram. Ihm geht es um die Anschaulichkeit, die Wichtigkeit des Ortes wurde schon erwähnt, mit Benjamin mag man vielleicht vom Auratischen, allgemeiner vom Zauber sprechen. Entwürfe von Meistern, der Renaissance bis ins 18. Jahrhundert sind ihm formbares Material. Piranesi findet Erwähnung, die Schedelsche Weltchronik, der Merian. Otto Hirths Landkarten, über Taut ins kontemporäre Fantasy und Role Play Game. Michel weist auf Das Teuflische in der Kunst hin. Der Turm zu Babel – erneut – diesmal von Laske, ebenso Die Vision des hinkenden Teufels. Ferriss ist einer der „renderers“. In Hoffmanns Serapions-Brüder baut Krespel spontan ein Haus. Die Realität findet ohne Pläne statt. Denn früher wurde ohnehin unmittelbarer gebaut, doch auch das geht erklärtermaßen auf Kosten der Monumentalität.

Was bleibt, ist die faustische Sehnsucht nach der Ferne, kondensiert in der Frage, was die Alten wirklich gebaut hätten, wenn sie über die Mittel dazu verfügten. Ohnehin war in der Phantasie alles großartiger und was bleibt sind die historischen Ruinen… Mit Sachs ist die Kunst sowieso „Wachtraumdeuterei“, man wird „Raumzeitgestalter“ und die geronnene Musik als Architektur ist beinahe schon müßig. Bei „Deluxe“ sind Wolkenkratzer und Jazz ein und dasselbe, im nächtlichen Dauerloop.

Was hat Sörgel noch beeinflusst? Im Archiv finden sich zahlreiche Hinweise darauf, zunächst einmal in puncto Zeitschriften. Sörgel bezog Hintergründe zur politischen Lage, wie den Geopolitischen Infodienst, die Europa-Union. Er besaß Occidental- und Ido-Broschüren ähnlich dem Esperanto, also „Welthilfssprachen“ nach Haas. Es finden sich aber auch so kuriose Heftchen wie der Bücherkatalog Cagliostro, ein Prospekt der Gelsenkirchener Bergwerks A.G. oder die Linoleum Bauwoche. Des Weiteren die Werkstätten der Zukunft von der Kammer der Technik, die Dokumentation der Zeit, Das Gespräch aus der Ferne, eine Präsentation des Flender-Plattenheizkörpers, ja sogar Vorstellungen der Quäker und der World University. Endlich das „Europa-Rad“, also die Kosmos-Geographiescheibe, anhand derer sich Rahmendaten wie Hauptstadt, Staatsform, Geldeinheit, Hauptausfuhr-Artikel und andere wichtige Informationen per Dreh einstellen lassen, eine ganze Menge vermischte Quellen zu Europa, sowie Der Weltbürger.[36] An anderer Stelle hat Sörgel sogar ein englisches Vokabelheft, sowie, man mag es kaum glauben und doch ergibt es Sinn, fügt sich sogar, eine Broschüre des El Sendero Luminoso[37], das Völkerrecht am Scheidewege.

2.1.3 Schwabinger Bohème

Sörgel war fester Bestandteil der Münchner Szene, ein waschechter „BoBo“, wie man abfällig einwerfen könnte. Und in der Tat ist das Urteil ein ambivalentes. Walter Kiaulehn merkte in seinem Nachruf auf ihn an, dass zu dieser Zeit >>nur etwas galt, wer ein Reformator war, ob er nun das ABC reformierte wie Stefan George oder die Liebe wie Frank Wedekind.<<[38] In der Dokumentation, die auf Phoenix, in den Dritten, auf ORF, überhaupt im öffentlich-rechtlichen solide platziert war und ist, geht Voigt sogar noch einen Schritt weiter und meint, dass man sich damals nur hervortun konnte und galt, wenn man jeden Donnerstag eine neue Idee hervorbrachte, die die Welt verbessern sollte. Gut kann man sich einen intellektuellen Zirkel voller Idealisten genau so vorstellen, der aber durchaus auch sein bourgeoises Plansoll zu erfüllen hat.

Aber es war auch das „leichte Leben“, welches Sörgel aufgrund seines Standes und seiner finanziellen Ausgangslage relativ unbeschwert genießen konnte. Weit entfernt von der Front und zwischen den Kriegen erschütterten die Stahlgewitter Jüngers wohl höchstens die berauschten Gemüter. Die Kronleuchter und Lüster werden erst unter der NS-Dekadenz wieder merklicher ins Wackeln geraten. „Golden Twenties“, „Swinging Twenties“, „Roaring Twenties“, man ließ es sich gut gehen im Nachkriegsboom, frönte dem frühen Film, begoss den herrschenden Code zwischen Chicago und Hollywood, ja spielte vielleicht zum ersten Mal wirklich die Starlets nach, wurde selbst zum Star, Epigonentum macht sich breit und wird von da an nicht mehr weichen.

Die jeunesse dorée weiß noch zu feiern und das ausgiebig. Ein Hauch von Gangstertum lag in der Luft, wie ihn Arendt im Zuge der Parvenüs aufzeigt, die immer mehr bis zur Unkenntlichkeit mit den Rackets, Syndikaten und Banden verschmelzen, die genau wie die „Unions“, also Gewerkschaften aufkommen und amerikanischem Vorbild folgen. Die ersten Kartelle bilden sich. Kriminalität wurde salonfähig, in den Salons beginnt man sich mit Ganovenmethoden zu schmücken, um der lieben Kurzweil willen. Es war Gründerzeit und wie immer profitierte man. The Great Gatsby mag einem einfallen, auch hier muss bei vielen bereits der Absturz auf den Fuß gefolgt sein, Fechter mag einem erneut in Erinnerung sein, dessen Protagonist dem Boxen nahegebracht wird und dessen Altes Regime an schlecht verstandenen Aktientipps des Emporkömmlings zugrunde geht.

Soviel zum zeitgeschichtlichen Hintergrund, zur Kulisse im „Great Game“, doch München schlug sicher eher noch nach der Kirchturmuhr, denn nach der Tommygun. Shanghai wird Tummelplatz der Agenten. Sörgel legte einen Entwurf zur Ringbildung mit Hochhäusern vor, wollte München gründlich umorganisieren. Nur zu gut passt es ins Bild, dass er sich gegen den Neubau von Kirchen sperrt. Immer wieder wird er sich durch journalistische Gelegenheitsarbeit sein Gehalt nachbessern, schafft ein Auto an, zwei Ferienhäuser, ein Mietshaus, das Wunder der Elektrizität greift blitzschnell um sich. Die „Straße der Republik“ soll vom Hauptbahnhof über den Odeonsplatz, wo in dieser Zeit Hitler putschen wird, bis hier herauf nach Milbertshofen reichen. Sörgel ist konfessionslos, bleibt neutral, von den Parteien hält er sich fern, auch die Räterepublik und die Ermordung Eisners, Liebknechts & Luxemburgs in Berlin, haben ihre Spuren hinterlassen. Auch hier hatte man das Kino schon vorweggenommen, der Tod Bonnie & Clydes wird diese Epoche endgültig besiegeln und von der Weltbühne in die geistige Provinz der Killerpärchen verlagern.

Bei Meuter & Otten ist von „Moralverkitschung“ die Rede, vom „dekadenten Krämergeist“, vom Mammon, Muff – der Provinz womöglich noch – ja von Décadence. Es herrsche der „Immoralismus künstlicher Kreativität“, geschuldet einer „Untauglichkeit für die pöbelhafte Prosa des bürgerlichen Lebens“. Dandytum antibürgerlicher valeurs mache von Glas zu Glas fraglich: ist man für oder gegen Fortschritt? Elitäres wie anarchistisches Eigenlob zeichnet den charismatischen „outsider“ aus, dessen „impassibilité“ wie „impersonalité de l’artiste“ zuweilen auch einem „heroisch dünkenden Kult der Kälte“ entspreche.

Dem Ende von Weiblichkeit, Weichlichkeit andererseits sowie einem gepflegten Antinaturalismus soll das Weideglück des bürgerlichen Heerdenthiers zur Seite stehen. Im ricorso führe das zu Barbarei, Zynismus der Kriegsindustrie, wo es Kandare für die Knechte gibt, ist für Herren bekanntlich freie Bahn, wie schon der Richter die fasces schwang, um den Senatoren Platz vor den plebs zu schaffen, wobei man wohl den ein oder anderen berechtigten Bittsteller gnadenlos opferte. Ja Spengler spreche sogar von einer libertas oboedientiae. Im Kern eines Freund-Feind-Schemas ebenso ein techno-faschistischer Mythos bürgerlichen Utilitarismus und Geldherrschaft - also Plutokratie - vornehmlich von Katholiken. Dem zelebrierten Leiden folgt Existentialismus und Sinnsuche auf den Pferdefuß.[39] Aber auch Bürger, ein gänzlich passender Name, weiß zum ennui und vor allem zur Liaison mit einer Schauspielerin, die wohl einem späten adeligen Standesbewusstsein angemessen sei.[40]

Aber wir greifen vor, Sörgel hat auch einen Schwarm, wie dann später Hiob Montag, es ist die besagte Duncan. Die Duncan also, er widmet ihr eine „Gartenstadt“, eine Tanzschule auf einer mediterranen Insel, zum Rückzug im Stile der Epikureer, orientiert an Lesbos oder den Hesperiden wenn man will. In der Tat war sie die Wegbereiterin des modernen Ausdruckstanzes, wollte das Dionysische wohl dem Apollinischen gegenüber reanimieren - wir denken an Nietzsche - forderte Ekstase und Emanzipation, wo wohl Langweile und Unterdrückung geherrscht haben musste.

Interessante Vereinigung der Gegensätze, wo man doch zunächst geneigt ist, die Architektur eindeutig dem solaren zuzurechnen, nur im Ornament vielleicht nicht, eine andere Art von Architektur vielleicht und vor allem unterordnender Implementierung. Später wird er wirklich mit der süddeutschen Frauenbewegung in Verbindung stehen, vermutlich vermittelt über die ungarische Halbjüdin Irene von Villyani, die er heiraten wird und welche als akkreditierte Kunsthändlerin sein extravagantes Engagement später mitfinanziert. Auch hier liegt die Alternative schon weitgehend auf einer Linie beziehungsweise einem Ring, allerdings ist die nötige Muße wie Muse auch da schon vorwiegend dem Establishment, oder sagen wir der Avantgarde vorbehalten, auch wenn Lyotard die militärische Konnotation des Wortes nicht schätzt. Sörgel war Pazifist, bald reizt ihn das Anliegen Coudenhove-Kalergis, Paneuropa zu schaffen, aus namentlicher Ähnlichkeit und um juristischen Schwierigkeiten vorzubeugen, nennt er sein Projekt dann bald von Panropa in Atlantropa um.

Bürger erneut, blühen die Blumen des Bösen Baudelaires hier wie andernorts in Biotopen fort, denen zwar kein schönes Leben mehr zustattenkommt, aber doch dessen versprengten Resten. Es findet eine Konturverwischung zu einem trüben Grau der Melancholiker seinen Akzent, eine Lustlosigkeit, die beinahe unüberwindbar scheint, ohne Bürger zu werden. Orientiert ist man hierbei übrigens an Aragon. Doch der Gruppe wohne eine geheime Kraft des refus inne, die sie der Welt entgegensetze. Die Empörung über die schlechte Einrichtung der Welt ist mehr als eine moralische. Der Selbsthass der Melancholiker wurde durch die Alchemie der Gruppenspiele gleichsam verwandelt. Am Ursprung der Hoffnung auf radikale Veränderung steht ein Benjamin, dem ein noch wesentlich älteres Urphänomen Goethe zugrunde liegt und dessen Gesten des avantgardistischen Protests den dunklen Grund der Sehnsucht ausloten wollen.[41]

Schroer hingegen sieht Verlust der Individualität am Werk, Uniformierung, Disziplinierung, Standardisierung. Wo Weber Religionskreise sieht, ist vor allem auch nacktes Erwerbsstreben im Gange. Der individualistische Menschentypus schlägt in Unterjochung um, die Alleinherrschaft bürokratischer Lebensideale dringt vor allem in die intime und familiale Lebenswelt[42] ein und zwar insbesondere durch den Allvater Industrie. Während die Struktur verhärtet, verweichlicht das Individuum, de Souza aber verlangt die >> Fachmenschen mit Geist <<. Dem trotzigen Widerstehen ohne Aussicht auf Erfolg gebührt freilich das Prädikat einer gelungenen Don Quichotterie, wobei der elitäre Glaube des Großbürgers ebenso hier seinen aristokratischen Zug behält. Vom >Pathos der Distanz< über das Anhängsel der bürokratischen Maschine ist es tatsächlich nicht weit zur Fortsetzung in der Frankfurter Schule.[43] Schwaabe, der sich ja selbst intensiv mit Weber befasst hat, weiß um den Fortschrittsoptimismus technischer Anpassung, dessen Folgen und Kosten vor allem >>ins Unendliche<< schnellen, also >>sinnlos<< sind. Der >>universalhistorischen Sichtweise<< ist eine Sorge um den Menschen nicht abzusprechen, bei einem pessimistischen Grundton, der einem lasciate ogni speranza gleichkomme.[44]

Sörgels geistiger Ausgangspunkt innerhalb Münchens ist Spengler. Es ist womöglich der Spengler, der sich im Salon der Senatorenwitwe Rodde die Ehre gibt. Sörgels Riposte wird gleich eingangs lauten: Untergang des Abendlandes oder Atlantropa. Nur seine Vision kann die Kultur zwar nicht mehr retten - so auf Konfrontationskurs gehen wollte er nicht - aber doch immerhin die Grundlagen für einen völlig neuen Kulturkreis legen, den er quasi aus der Retorte stampft. Er ist nicht nur Weltenbaumeister, sondern schon Weltengenetiker, ja Weltevolutionär. Spenglers wichtigster Begriff ist das Werden, damit antizipiert er natürlich schon Heidegger. Zur selben Zeit wird Bloch episch erschöpfend über Utopien schreiben, aus diametraler Perspektive, mit einem vergleichbaren reinen Buchgewicht. Front und Novum kann man dem Werden durchaus entgegenhalten. Heutzutage würden wir wohl von Prozessualität sprechen.

Spengler identifiziert mehrere Kulturkreise, denen einer Blume gleich eine bestimmte Lebenszeit zukommt, deren biologische Uhr unerbittlich heruntertickt, ja wie der rote Sand durch das Stundglas. Die Stadt wurde oft als Moloch gezeichnet, bei Spengler wäre paradoxerweise München selbst aber von nur mehr marginalem Interesse, wo doch selbst den Großstädten längst schon von den Weltmetropolen wie Paris oder London der Rang abgelaufen wurde. In diesem Punkt wird er sich auch wieder mit Sörgel treffen. Aktuell ist es womöglich New York oder Hong Kong, Neu Delhi, Mexiko-Stadt oder Lagos. Freilich ist man dann auch mal wieder nicht weit von Lovelock und der Gaiahypothese entfernt, wo ganze Zivilisationen nur noch eine „Daisy“ unter vielen sind, diese Erdzeit mit der Sonne abrupt endet. Auch jenen Maßstab schneidet Sörgel im Gefolge Hörbigers und seiner Eisweltlehre an, die kosmogenetisch ist und für die „richtigen“ Größenordnungen des Denkens vorbereiten soll. Überhaupt war Universalgeschichte en vogue, selbstverständlich ebenso in rechtfertigender Vorbereitung zur Geopolitik, Namen wie Haushofer, Dix mögen einem hier einfallen.

Aber auch die Esoterik – man ahnte es bereits – lag Sörgel nicht fern. Dort bietet sich schließlich immer allerhand Raum für Spekulationen aller Art. Die Ausprägungen der Theosophie in München selbst sind anscheinend nicht zu unterschätzen, Gall sei für den Hinweis auf Steiner gedankt, wir kennen sie eher vom europäischen oder gar Weltmaßstab einer Blavatsky, eines Crowley noch, der ganze Seancenkitsch und Ethnoklimbim verbotener okkulter Bücher der Toten zum Entlangfahren, Relikte und Totems, den die Imperien aus allen Winkeln der Welt zusammengerafft und geraubt hatten, welcher in den Museen und Archiven seiner Verwertung harrte, endlich verstaubte.

Ein Somerset Maugham hat das vielleicht am treffendsten auf den Punkt eines trüben Einweckglases gebracht, aber man mag sich vielleicht auch einen Indiana Jones oder gar einen schwer verdaulichen Easterman vorstellen. In diesem Zusammenhang zu erwähnen ist Sörgels Charisma, das unter Umständen gar hypnotische Qualitäten gehabt haben soll. Er konnte durch Reden für sein Projekt begeistern, auch etwas, wozu man wieder getrost Weber zitieren darf. Doch damit sind die Analogien noch bei weitem nicht zu Ende – hat das Schwarz-Weiße doch inzwischen selbst den Touch des Obskuren, Mysteriösen, Spirituellen, ein Genre, an dem sich immer einmal wieder ambitionierte Jungregisseure mit mehr oder minder großem Erfolg versuchen, gerade auch in der herkömmlichen Fotografie bis zum tragischen Film noir Abgang. Die Szene Sörgels in seinem Arbeitszimmer verstärkt diesen Eindruck. Als regelrecht „besessen“ von seiner Idee wird er charakterisiert. Man darf dabei aber nicht übersehen, dass auch hier die Originalepoche durchaus farbecht koloriert war, wenn auch noch nach Ufa-Standard, ein Punkt der Authentizität an den kontemporären Historienfilm.

Im Archiv des Deutschen Museums finden sich einige Hinweise auf eher spezielle Vorlieben des exzentrischen Sammlers, Szenen von Folterungen, grausame Kuriositäten, wie sie dem einschlägigen Klischee folgen, ab einem gewissen Punkt kennt die Sammelleidenschaft offensichtlich keine natürlichen Grenzen mehr, dem zu anfangs einfachen Spleen folgt noch der manisch gehütete Schrank der Jagdtrophäen aller Art und man wähnt sich schon gefährlich nahe am kontemporären Psychothriller. Denn dieses Klischee kommt eben nicht von ungefähr. Freilich passt das auch in den Umkreis der Ethnologie, die erstmals für westliches Zivilisationsverständnis Ungeheures erforscht und genauer unter die Lupe nimmt. Die Schmetterlingssammlung des Kommandeurs auf afrikanischem Außenposten ist dabei noch eher harmlos.

Aber die Szenen stammen auch aus dem Herzen der westlichen Zivilisation (sicher stand ihr die östliche um nichts nach, denken wir nur an Clavell, an die bizarren Vorlieben des chinesischen Kaisers, ein anderer Lang-Film), dem „Africa within“ eines Conrads mithin, endlich eines Lévi-Strauss. Auch hier wieder Freud: die Entblätterung des Unbewussten und peinliche Entkleidung um das Feigenblatt findet ihre Parallele im Aufdecken der letzten Gebiete auf der Landkarte. Dort, wo früher noch die Meeresungeheuer hausten, eben jene ad limine verzierten, heute sich zierenden. Bei Shea & Wilson, nur um die esoterische Flucht in die vergangene Zukunft zu verlängern, könnten wir im Mittelmeer eventuell den Leviathan trockenlegen, eine andere Jagd auf Großwild, die lohnenswert scheint. Sörgel steht damit natürlich auch in der Tradition Ahabs, selbst ein weißer Wal, jagt dieser sich als Bestie in seinem ganz eigenen (Alp-)Traum. Aber das führt im Moment, der doch noch nicht verweilen möge, schon zu weit über München hinaus, obwohl auch hier einmal ein Meer lag und Afrika näher war.

Eine letzte Figur die noch unbedingt eingeführt werden muss, ist Ortega y Gasset, dem er erst spät begegnet. Der Aufstand der Massen ist ein Thema, bei dem man sich als wechselseitige Zusicherung der Elite befreundet. Oft wurden die beiden zusammen in Schwabing im Caféhaus gesehen, ein nicht unpassender Ort für solch ein gravitätisches Thema. Y Gasset wird später der dependencia -Schule zum Vorbild dienen. Die Abhängigkeit Schwabings, ein weiterer Vorgriff. Am Anfang war die Überfüllung. Mit ihr geht die totale Nivellierung Hand in Hand. Die Massen stehen dabei im Zusammenhang zum massigen, der Bezug zum Bauen ist offenkundig.

Aber er war genauso um den Ausgleich zwischen USA und Europa bemüht, inwiefern man sich gegenseitig in den Ansichten bestärkt hat, ist sicherlich kaum zu rekonstruieren, in einem lebhaften Gedankenaustausch jedoch für jeden mit Gesprächspartner nachvollziehbar, wir können sie uns auch hin und wieder als Antagonisten vorstellen. Zur Zeit entzaubert y Gasset die Illusion einer >>Fülle der Zeit<< als ein Ende, erwähnt Cervantes, den auch Bloch aufgreift, der Weg sei immer besser als die Herberge, ja das Prinzip des Dao selbst. „Modern“ ist in diesem Sinne besser. Damit ist aber eben nicht gemeint, dass der eingehaltene Kurs gleich „einem Gefängnis, das sich dehnt“[45] ist. Diesen Fehler begingen schon die kaiserlichen Bauten, die endgültig, „ewig“ sind, womit nichts Neues mehr geschehen kann und das Gewicht des Steins wie Schwermut, Melancholie lastet, genauso schon Ägypten erneut. Er will allerdings keine „Untergangs-Klagelieder“ anstimmen, Schwarzseherei ist seines nicht. Schlemihls Schatten wäre am hohen Mittag auch verschwunden.[46]

Seine eigene Zeit bilanziert er so: „mehr als alle anderen und weniger als sie selbst.“[47] Neu ist ihm die Verfügung über Raum & Zeit, aber auch die Gewalt, die beiden angetan wird. Man könnte ihn hier vielleicht mit Virilio weiterdenken, wie schon Sörgel zum Auto, oder mit Nadolny wesentlich später zum entschleunigten Lesen anraten, wobei man mehr sehe. Aber sind die Lösungsmöglichkeiten wirklich gewachsen? Oder besteht vielmehr im „Vorbeirasen“ der Eindruck gewaltiger Machtvollkommenheit? Explizit spricht er sich in der folgenden Passage erneut gegen Spengler aus, wirft ihm mangelnde Definition vor, was aufgrund des Werksumfangs verblüfft. Aber auch das reicht wohl noch nicht, schon gar nicht in Zeiten der Ultradefinition. So gut seine Verteidigung der herrschenden Verhältnisse gemeint ist: am Vorabend des braunen Packs kommt sie leider deplatziert, weil zu spät, gut gemeint, aber auf verlorenem Posten - man wird ihn bald schon am Kartentisch übertrumpfen. Zwar ist es eine Querele des Pöbels, aber eben doch im Bunde mit den alten Eliten. Die Realität ist natürlich immer schon komplexer, als die Aufarbeitung des wenn auch nur gerade Vergangenen, beinhaltet doch bereits ihre eigene Aufarbeitung reflexiv selbst!

So sieht er doch, dass mehr Mittel, Wissen, Technik bei der Hand zu haben, auch bedeutet, „allen Winden preisgegeben“[48] zu sein. Man ist also zum Spielball aller geworden. Es entsteht ein Zwiespalt zwischen Machtgefühl und Unsicherheit. Das Schlimmste ist möglich, es ist sich ein blinder Fortschrittsoptimismus, der keine Pläne, Ziele oder Ideale mehr kennt. Ironischerweise ist ihm der Triumph der Massen in den Mittelmeerländern am weitesten gediehen und dabei hatte er noch nicht einmal die „modernen“ Touristensilos vor Augen. Man lebt in den Tag hinein, hat nichts vor, besitzt keinen Lebensplan, ein Vorwurf der sich überhaupt im Nord-Süd-Konflikt als hartnäckiges Vorurteil hält. Erschreckende Bilder entstehen, wenn man jetzt schon die Migranten zum Vergleich heranzieht, ist das dann ein doppeltes nichts an Nichts?

Wie aktuell er schon damals die richtigen Begriffe verwendet, ganz im Sinne einer zukunftsbezogenen Abhandlung, es herrscht „Gegenwart“ (also doch wohl Augenblick, Moment), erzwungener Ausnahmezustand, ein „ausweichen“ findet statt, es gibt keine Lösung, es bleibt nur Flucht. Dazu ist jedes Mittel recht, die Gefahr dabei jedoch, sich noch größere Schwierigkeiten einzuhandeln, besteht (wie sie dann auch tatsächlich über die Migranten am immer neu verschobenen „Ziel“ hereinbrechen werden, ein „sans papier“, dass in die neue Runde geht, ein Verbrechen, das bei Arendt im Status sogar „sicherer“ macht). All diese Topoi bezieht y Gasset auf die Regierung, wie überhaupt zu allen Zeiten das Gewaltmonopol der Massen allmächtig und vergänglich zugleich ist. Es ist ein Nichts, führt zu nichts, obgleich die Möglichkeiten & Kräfte ungeheuer. Dem entspricht eine experimentelle Naturwissenschaft die in Tatunion mit Industrialismus zu Technik führt. Das Credo war auch damals schon, höher, schneller, weiter. Man ist bereits verwöhnt. Dem hält er einen Adel entgegen, der noch die echte Elite verkörpert. Denn: Primitivismus und Technik bilden ganz analog immer eine Einheit, daran ändert auch das digitale Zeitalter gar nichts, man mag erneut nur an McLuhan denken, diesmal in seiner Retribalisierung durch Elektrifizierung - es könnte relevanter nicht sein - und dem folglichen Tausch eines Auges für ein Ohr.

Als nächstes offenbart er uns als Cargo-Kultisten, Naturmenschen, die sich in einer Zivilisation nur noch schwerlich zurechtfinden. Das „radikal Neue“ kann lediglich noch von ein paar Köpfen bewältigt werden, insbesondere in Hinblick auf die Wiederherstellung Europas, welche man sich wohl damals schon bestenfalls als komplex vorzustellen hat. Ihm bleibt aber die Hoffnung auf >>zeitgemäße<< Menschen. Europa ist ihm nur mehr eine Hanswursterei, der Spezialisierung wird das Gesamtbild geopfert. Er sieht aber auch schon den Totalitarismus als reale Gefahr heraufdämmern, benutzt die gleiche Metapher, der sich Sörgel in ähnlicher Form annehmen wird, indem man nur noch einen Knopf drücken muss, um die Maschine in Gang zu setzen. Mit Europas potentiellem Niedergang erhebt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens, wie könnte es auch anders sein. Es bedarf einer schöpferischen Herrschaft, so mögen sich die beiden Herrschaften unterhalten haben, die alles andere ist als eine Verwahrlosung. Wo die Möglichkeiten mit der Verfassung kollidieren, findet diese Angriffsfläche und zwar weil maßstabsgerechte Programme fehlen. Gerade in Hinblick auf Katalonien ist auch das wieder von einiger Aktualität und Brisanz. Die europäischen Nationalstaaten züchten Provinzler, denn zwischen der inneren und äußeren Form herrscht ein Konflikt.

Es gilt immer noch das ewiggestrige Blut, Sprache, Boden, welches sich nur schlecht mit dem obigen Credo vertragen will. Erneut unterstreicht er die Zukunftsorientiertheit, Europa ist keineswegs utopisch, vier Fünftel davon sind ohnehin Allgemeingut. Nichtsdestotrotz ist alles provisorisch, ja man muss heute sagen „fake“. Die Nation ist nicht nur Provinz, sondern Gefängnisluft, ein weiteres Bild, dass wir ähnlich bei Sörgel wiederfinden werden. Die Krise hingegen bedeutet ihm die übermäßige und künstliche Steigerung des Überlebten, auch damals wird schon mit der Politik der Krise hantiert - im Westen nichts Neues - und zwar unter dem Vorwand, der Verpflichtung großer neuer Unternehmungen zu entgehen, er könnte Sörgel kaum eine bessere Steilvorlage zupassen.

Die „rote Flut“ hingegen ist unbedrohlich, da Europa ohnehin die „Karte der Persönlichkeit“ darstellt, die an den russischen Kommunismus nicht assimilierbar ist, sozusagen per definitionem nicht. Man müsste also wohl sein Ego opfern. Allerdings bestünde durchaus die Möglichkeit, dass ein Erfolg des Fünfjahresplanes eine regelrechte Woge der Begeisterung auslösen könnte. Auch dazu würde ein starkes Europa einen Ausweg bieten. Das entbehrt auch vor der aktuellen Entwicklung als Diagnose nicht einer gewissen Ironie, denn auch gegenwärtig rumort es in Russland wieder, wenn auch vom rechten Rand und die Verknüpfungen wie „Erblasten“ zum Osten Deutschlands in Form von nachhaltiger Demontage und Vakuum in den Köpfen liegen auf der Hand.

Exakt wie Sörgel war auch y Gasset über die drei Jahrzehnte von den 30ern bis in die 50er angesagt, auch er bewegte sich auf der Differenz von preußischem Adel und moderner Technokratie und stand ein >>unaufhörliches Ringen gegen den Utopismus<< durch, nämlich ebenso im positiven Sinne, vielleicht aus spanischer Vorbelastung zwar auch gegen den Don Quixotes gerichtet, aber vor allem doch gegen den eigentlich hier noch falsch ausgezeichneten „dystopischen“ des Totalitarismus, wenigstens wie er sich konkret im Realsozialismus manifestiert hat.

Was ihm dabei letztlich abgeht, ist das grand dessein von Strategie und politischer Führung, kein saloppes in-den-Tag-hinein, das wohl aus dem Bauch heraus entscheidet und damit willkürlichen Schiffbruch erleidet. Also das alte Kriterium von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Fraglich ist aber hier durchaus, und da holt Stürmers Nachwort die beiden ein Stück weit ein, ob denn wirklich die „zufriedenen jungen Herren“ oder gar die „ahnungslose Schickeria“ eine Lösung bieten konnten. In der Theorie ja schon, wie sich noch zeigen sollte. Nichtsdestotrotz ist die Rechnung nun endlich da, man will aufstehen und gehen. Neo-Globalisierung, Bipolarisierung und Nuklearisierung waren aber doch immerhin bereits erahnbar. Wie dem auch sei, für antiimperialistische Strömungen sollte Ortega y Gasset noch einen langen Nachhall haben und die Flammen der Unabhängigkeitsbestrebungen schüren.

[...]


[1] Siehe hierzu einführend Dreitzel & Stenger, loc. cit., passim

[2] Der Begriff stammt aus „Minority Report“, aber relevant ebenso „Ghost in the Shell“ und andere Genreperlen der menschlichen Selbstfindung an der Grenze zur Maschine seit der mittelalterlichen Suche der Inquisition nach der Seele. Bei Pratchett zum Beispiel gehen die vom Sendemast Gefallenen immer noch in der Leitung um, man denke auch an den „Rasenmäher-Mann“, oder die vom Stuhl einfahrenden, die Liste der „Verarbeitungen“ des Motivs ist leidig und lange.

[3] In allen drei gesichteten Quellen zu von Miller wird auf ihn keinerlei prominenter Bezug, um nicht zu sagen gar keiner, genommen. Zwar ist hier von einem Generalplan von 1908-11 die Rede, der endlich eine einheitliche Energieform und damit erst einmal die integrale Volkswirtschaft selbst realisieren will, in dessen Zuge dann auch das Walchenseekraftwerk realisiert wird. Denn: „Hunderte Gebirgsbäche stürzen vom Nordrand der Alpen herab ins bayerische Voralpenland, vereinigen sich zu kleineren Flüssen, schließlich zu großen – und alle diese Wassermassen strömen stündlich, täglich, jährlich ungenützt dahin.“ Walther v. Miller, loc. cit., S. 55-57 Ebenso wenig findet sich eine namentliche Erwähnung bei Oskar v. Miller, loc. cit., dafür in diesem Kontext erneut Dr. Schmick und auch einige andere „alte Bekannte“ wie AEG, Siemens, Krupp, Rathenau et cetera. Die einschlägige Passage findet sich bei Füßl, loc. cit. ab S. 164, Walchenseewerk und Bayernwerk, wo man die bis dato herrschende kommunale Organisation übrigens als unwirtschaftlich erkennt. Stattdessen auch hier wieder andere bekannte Münchener Bezüge wie Maffei und Finck, Siemens, Schuckert und Helios. Überworfen hat man sich in diesen Gründertagen vor allem über die Frage privater oder gemeinschaftlicher Energiewirtschaft, wo selbst Ludwig III., der Wittelsbacher, noch eine Rolle spielt. Im Rahmen der Reichselektrizitätsversorgung findet nun auf S. 205 sogar Atlantropa selbst seine Erwähnung, nämlich als „herausragendes Beispiel technischer Großplanung“, vom Vater aber fehlt weiterhin jede Spur. Stattdessen kann man aber anhand des Findbuchs zu Sörgels Archivmaterialien, wie überhaupt mit München des Weiteren davon ausgehen, dass der Tegernsee genauso in Beziehung zum „Staffelseekreis“ steht.

[4] Sörgel, Reformentwurf zur einheitlichen Organisation der Hochbauschulen, loc. cit., S. 3

[5] Ibid., S. 16

[6] In Stichpunkten biographisch zu Sörgel, dem Projekt, insbesondere unter Visualisierungsgesichtspunkten, http://www.cad.architektur.tu-darmstadt.de/atlantropa/startseite.html, zuletzt aufgerufen am 03.02.18

[7] Fechter, loc. cit., vor allem gegen Ende der Narration, sozusagen als vollzogener „Abstieg“.

[8] Vielleicht grundlegend und wegweisend zum utopischen wiewohl „dystopischen“ Diskurs, Freud, loc. cit., passim

[9] Kafka, Amerika, loc. cit.

[10] Unter der Archivnummer NL 092/023 des Deutschen Museums findet sich exemplarisch eine Luftaufnahme der Skyline Houstons.

[11] Wie sie exemplarisch Paperny, loc. cit. beschreibt.

[12] Zur Atlantropa-Zeitschrift NL 092/041. Die Ausgabe 7/8 ist übrigens selbst erneut das ABC.

[13] Sörgel, Einführung in die Architektur-Ästhetik, loc. cit., S. 77

[14] Ibid., S. 84 Gerne auch erinnern wir uns dabei an Derridas Überlegungen zu „le main“ aus seinem gleichnamigen Film, sowie den fachlichen Gemeinplatz, dass Kunst dort anfängt, wo maschinelle Technik aufhört.

[15] Ibid., S. 195

[16] https://de.wikipedia.org/wiki/Herman_S%C3%B6rgel, zuletzt aufgerufen am 16.10.17, überblicksartig auch https://de.wikipedia.org/wiki/Atlantropa, zuletzt aufgerufen am 06.11.17

[17] Unter anderem Linger, loc. cit, sowie Schützeichel, loc. cit., Meiske, Brill, sowie eine ästhetische Untersuchung aus dem süditalienischen Raum.

[18] Scheiffele, loc. cit., S. 9

[19] Ibid., S. 63

[20] Ibid., S. 84

[21] Ibid., S. 104

[22] Sörgel, Einführung in die Architektur-Ästhetik, S. 246

[23] Vgl. Gebhardt, in: Meuter & Otten, loc. cit., S. 167 ff.

[24] Ähnliche Überlegungen hatte Sörgel unter dem Titel „Fläche, Körper, Raumzeit in der Kunst“ aktualisiert und vor allem grafisch aufbereitet. Eine horizontal liegende FLÄCHE, länglich und an den Rändern ähnlich ausgefranst wie ein Land, ist innen mit „Malerei-Dichtung“ beschrieben, Pfeile drängen nach außen. Ringsherum steht: es war einmal, und dann, und dann, und wenn er nicht gestorben, dann, und da geschah es. KÖRPER, nicht nur durch Plastik, sondern auch durch Tanz ausgedrückt, wird durch ein Gesicht sowie ein tanzendes Paar veranschaulicht, welche in bewegter Wechselbeziehung stehen, während Dynamik vor allem auch durch Pfeile angedeutet wird, welche strahlenförmig von der Hand des Tänzers ausgehen. Das dritte Bild RAUMZEIT bezeichnet außer Architektur tatsächlich auch die Musik, hier hat man es nur noch mit abstrakten Linien, Schwingungen, Punktierungen oder vielleicht besser Pointillierungen, Wirbeln und Verwirbelungen, Schlängelungen, hier und da einem Notenschlüssel zu tun. NL 092/109 Mann mag sich einem hier bereits aufdrängen.

[25] Sure 9

[26] NL 092/084

[27] Ibid., S. 12

[28] Ibid., S. 39 ff.

[29] Ibid., S. 47

[30] Ibid., S. 55

[31] Ibid., S. 72 ff.

[32] Zum Panoptikum überblicksartig Foucault, loc. cit., aber auch bereits Tolkien, loc. cit., wie überhaupt zu früher Phantasiearchitektur.

[33] NL 092/084, S. 134

[34] Zit. nach. Voigt, loc. cit., S. 30

[35] Vgl. Henning, aber genauso Schmitt & Irion, jeweils loc. cit.

[36] Siehe hierzu die Bestände NL 092/137, /139, /163, /166 und /180.

[37] NL 092/006

[38] Zit. nach Voigt, loc. cit., S. 17

[39] Vgl. Meuter & Otten, loc. cit., S. 9 ff.

[40] Bürger, loc. cit., S. 134

[41] Ibid., loc. cit., S. 139 ff., aber auch Baudelaire, loc. cit. selbst

[42] Zum Verhältnis von System und Lebenswelt, siehe Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2, S. 171 ff.

[43] Schroer, loc. cit., S. 18 ff.

[44] Schwaabe, loc. cit., S. 115 ff., sowie Dante, loc. cit., S. 14

[45] Y Gasset, loc. cit., S. 30

[46] Zu ihm siehe Chamisso, loc. cit.

[47] Y Gasset, loc. cit., S. 34

[48] Ibid., S. 42

Final del extracto de 445 páginas

Detalles

Título
Herman Sörgels "Atlantropa" zwischen Technokratie und politischer Utopie
Autor
Año
2018
Páginas
445
No. de catálogo
V442560
ISBN (Ebook)
9783668805163
ISBN (Libro)
9783668805170
Idioma
Alemán
Palabras clave
herman, sörgels, atlantropa, technokratie, utopie
Citar trabajo
M.A. Oliver Köller (Autor), 2018, Herman Sörgels "Atlantropa" zwischen Technokratie und politischer Utopie, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/442560

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