Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Neue politische Anerkennung für Computerspiele
2. Die Spieltheorie im kunstwissenschaftlichen und pädagogischen Diskurs
3. Computerspiele als Bildmedium
3.1 Das doppelte Bild im Computerspiel
3.2 Zweckentfremdung und Aneignung in der Geschichte der Computerspiele
3.3 Aneignung als künstlerisches Prinzip
4. Potential und Grenzen von COTS im Unterricht
4.1 Interaktive Medien im Unterricht heute
4.2 Mögliche positive Effekte von COTS
4.3 Grenzen und Einschränkungen
5. Die konkrete Anwendung von COTS im Kunstunterricht
5.1 Ziele und Rahmenbedingungen
5.2 Grundlagen der Medienpädagogik
5.3 Rechtliches
5.4 Ressourcen
5.5 Minecraft
5.5.1 Minecraft als Beispiel einer digitalen Maker-Kultur
5.5.2 Anwendungsmöglichkeiten und -beispiele
5.6 Weitere COTS
5.7 Eigene Spieleentwicklung
6. Digitale Spielepädagogik für Gamer_innen
7. Quellenverzeichnis
8. Abbildungen
1. Neue politische Anerkennung für Computerspiele
Nach jahrelanger intensiver öffentlicher Diskussion rund um Gewalt und Gefahren von Computerspielen wurden diese im Medien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung 2008 positiv als neue „Leitmedien“ und Identitätsstifter für Kinder und Jugendliche formuliert 1 . Sie seien dabei, die klassischen Print- und Fernsehmedien in dieser Funktion zu verdrängen. Auch in dieser Veröffentlichung wird weiter vor jugendschädigender Gewalt in den Medien gewarnt und Gesetze dagegen verschärft. Auf der anderen Seite soll die Medienkompetenz gerade durch diese interaktiven Unterhaltungsmedien gefördert werden. Der Bundestagsbeschluss Wertvolle Computerspiele f ö rdern, Medienkompetenz st ä rken zeigt dabei den Fokus auf bestimmte als wertvoll angesehene Computerspiele. Eine neue Anerkennung verschiedener Meinungen über einzelne Spiele sowie die Anerkennung der Perspektive junger Spieler_innen zeigt beispielsweise die Nennung der zu diesem Zeitpunkt neu überarbeiteten Webseite www.spielbar.de der Bundeszentrale für Politische Bildung. Hier werden Einschätzungen verschiedener Games vor allem als Hilfestellung für Eltern und Pädagog_innen veröffentlicht. Mitglieder verschiedener Gruppen von Pädagog_innen und Eltern bis zu Spieler_innen werden um Bewertungen von Spielen gebeten2. Mit der Gründung des Deutschen Computerspielpreises nach dem Vorbild des Deutschen Filmpreises als Kooperation von Politik und Spielebranche, welche jeweils die Hälfte des Preisgeldes stellen, findet sich endgültig eine politische Aufwertung des Computerspiels als kulturelles Gut. Fokus ist hierbei jedoch nach wie vor die Wirkung auf Jugendliche in der Zielsetzung der „Förderung qualitativ hochwertiger sowie kulturell und pädagogisch wertvoller interaktiver Unterhaltungsmedien“3. Die Formulierung des pädagogischen Wertes und die Richtung an Pädagog_innen stellt die Verbindung Computerspiele - Schule her. Auch die Kultusministerkonferenz der Länder möchte die Kompetenzen in der digitalen Welt fördern4. In welcher Form diese Kooperation im Rahmen des Kunstunterrichts sinnvoll stattfinden kann, möchte ich in dieser Arbeit untersuchen.
Computerspiele sind nicht nur Spiel-, sondern vor allen Dingen auch Bildmedien. Seit Beginn der 90er-Jahre wenden sich Künstler_innen ihnen verstärkt zu, machen verborgene Strukturen auf der Code-Ebene und Spielprinzipien sichtbar. Sie wählen Spiele oder gesellschaftliche Fragestellungen aus und verändern sie und ihre Struktur kreativ. Damit zeigen sie den Rezipient_innen Neues und reflektieren Mediennutzung generell.
Diese künstlerischen Aktivitäten lassen sich mit den sechs Kompetenzbereichen des Kultusministerkonferenz für den Umgang mit Medien vergleichen: „ Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren “, „ Kommunizieren und Kooperieren “ , „ Produzieren und Pr ä sentieren “ , „ Sch ü tzen und sicher Agieren “ , „ Probleml ö sen und Handeln “ und „ Analysieren und Reflektieren “ 5. So kann die künstlerische und kunstwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Computerspielen zur politisch geforderten Stärkung der Medienkompetenz beitragen.
Im ersten Teil der Arbeit werden die theoretischen Hintergründe von Spiel und Kunst untersucht. Ich starte mit Ausführungen zum historisch gewachsenen Spielbegriff seit Schiller und zeige dann, warum und wie die lange vernachlässigte Untersuchung von Computerspielen als Bildmedium angebracht ist. Nach einem kurzen Einblick in die Zweckentfremdung als Entstehungsprinzip von Computerspielen und als künstlerische Strategie beginnt der praktische Fokus meiner Arbeit mit der Besprechung der konkreten Anwendung von kommerziellen Computerspielen im Kunstunterricht: Welche Effekte dürfen erwartet werden und welche rechtlichen wie pädagogischen Rahmenbedingungen sind dafür zu beachten? Wo können sich unerfahrene Lehrkräfte informieren und welche Spiele eignen sich für die erstmalige Anwendung? Wie kann diese Anwendung gestaltet werden?
Erwartungen an Lerneffekte durch Computerspiele entstehen zu einem großen Teil durch die Annahme, dass die enge Anbindung an die Lebenswelten und Interessen Jugendlicher positive Auswirkungen hat. Als medienpädagogische Grundlage untersuche ich ein Kompetenzmodell der handlungsorientierten Medienpädagogik. Diese stellt „die Entwicklung der Fähigkeit der Subjekte, Medien produktiv zur Artikulation eigener kollektiver Interessen einzusetzen, in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen“6. Damit knüpfe ich an das Fachprofil des Kunstunterrichts für die Realschule in Bayern an, in welchem die Befähigung zur positiven und kreativen Lebens- und Freizeitgestaltung durch moderne Formen der Gestaltung inklusive moderner Medien als Zielsetzung festgeschrieben ist7. Durch interaktive Unterrichtsvorhaben und vielfältige Aufgabenstellungen mit thematischer Anknüpfung an die Erlebniswelt der Schüler_innen sollen diese eigene Vorstellungen entwickeln und sich nicht-sprachlich äußern lernen.
Ein Hauptinteresse medienpädagogischer Arbeit ist auch die Reflexion des eigenen Medienkonsums und das Erlernen eines verantwortungsvollen Umgangs mit den Medien8. Der Erfolg dieser Arbeit lässt sich dann messen, wenn der pädagogische Kontext wieder verlassen wird und die Jugendlichen selbstständig mit Medien wie Computerspielen handeln. In der modernen Medienpädagogik spielt somit die Lebenswelt als Wirklichkeit des entsprechenden Menschen eine große Rolle. Im Mittelpunkt steht „das Individuum als gesellschaftliches Subjekt, das sich mit seiner vorgefundenen Lebenswelt auseinandersetzt“9. Ziel ist die Emanzipation dieses Individuums: Es soll lernen, die Medien für seine eigenen Ziele und Bedürfnisse bestmöglich zu nutzen. Das Einteilen von Medien in ‚gute‘ und ‚schlechte‘ ist für diese Arbeit nicht zielführend, viel mehr die Frage: Welche Games spielen Jugendliche tatsächlich und wie können sie mit diesen am besten umgehen? Hier findet sich die Verbindung zu künstlerischer Aktivität und Kunstunterricht in der handlungsorientierten Definition von Medienhandeln als „aktive Medienaneignung“ und „produzierendes ästhetisches selbsttätiges Tun“10. Innerhalb dieses lebensweltfokussierten und nicht-normativen Ansatzes untersuche ich sogenannte Commercial Off-The-Shelf Games (COTS). Dabei handelt es sich um „kommerzielle Spiele ‚von der Stange‘, bei denen (in der Regel) der Spielspaß im Vordergrund steht, während die Vermittlung von Wissen (meist) kein explizites Ziel ist“11 - im Gegensatz zu Lernspielen. COTS- Games gehören zur Freizeit von über der Hälfte der deutschen Jugendlichen12. Sie sind für Spaß konzipiert, aufgrund des nicht selten hundertfach höheren Budgets13 zumeist grafisch und spielerisch ansprechender und der Spielfluss wird nicht durch pädagogische Maßnahmen unterbrochen. So kann die Motivation zum Spielen auch im Unterricht leichter erhalten werden.14
Ziel dieser Arbeit ist also die Untersuchung theoretischer Hintergründe des Spielens in der Pädagogik und der Kunst, die aktuelle Situation von COTSGames im (Schul-)Alltag Jugendlicher und Möglichkeiten der praktischen Anwendung im Kunstunterricht.
2. Die Spieltheorie im kunstwissenschaftlichen und pädagogischen Diskurs
Bereits Schiller schrieb dem Spiel entscheidende Bedeutung für den Menschen, ja, zur Konstituierung des Menschseins an sich zu. Auf die Rolle des Spiels für die ästhetische Erziehung des Menschen weist er in seinen 1793/95 an den dänischen Erbprinzen geschriebenen Briefen Ü ber die ä sthetische Erziehung deutlich hin. Darin unterscheidet er zwei grundlegende Triebe im Menschen: den sinnlichen Trieb und den Formtrieb. Der sinnliche ist gewissermaßen die Verbindung des Menschen zum Materiellen, zur irdischen Welt. Er “fesselt [...] den höher strebenden Geist an die Sinnenwelt, und von ihrer freiesten Wanderung ins Unendliche ruft er die Abstraktion in die Grenzen der Gegenwart zurücke”15. Dieser Trieb wirkt begrenzend, fordert Veränderung bzw. Handlungen je nach den aktuellen Bedürfnissen und ist nur an das Subjekt gebunden. Die Forderungen dieses Triebes können sich also bei jedem Menschen und in jeder Situation unterscheiden. Sein Gegenstand ist das Leben16.
Der Formtrieb hingegen geht aus “von dem absoluten Dasein des Menschen oder von seiner vernünftigen Natur”17, er strebt nach Höherem und danach, die Persönlichkeit eines Menschen zu behaupten. Sein Ziel ist als moralische Instanz die Einheit und Beharrlichkeit: Sagt der Formtrieb etwas aus, dann gilt das Schiller über die Grenzen des Subjekts hinweg als Bekenntnis zur Wahrheit für die Ewigkeit. Sein Gegenstand ist die Gestalt.
Um diese gegensätzlichen und beide notwendigen Tendenzen im Menschen auszugleichen, braucht es nun einen weiteren Trieb. Ganz gelingen kann dies dem Menschen ohnehin nur “in der Vollendung seines Daseins” und ist damit ein unendliches Ziel, dem “er sich im Laufe der Zeit immer mehr nähern kann, aber ohne es jemals zu erreichen”18.
Der Trieb, der diese Aufgabe, den Form- und Sinntrieb zu bündeln, so gut wie möglich durchführen kann, ist der Spieltrieb. In ihm sind Körper und Geist verbunden. Er bändigt das Gemüt moralisch wie physisch und hebt so die gegensätzlichen Tendenzen der beiden Grundtriebe auf. Der Gegenstand des Spieltriebs ist die lebende Gestalt19 und durch ihn wird der Mensch erst Mensch. “Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt”20 wendet Schiller dagegen ein, dass dieser Trieb als blo ß es Spiel abgewertet werden könnte. Nicht nur konstituiert der Spieltrieb den Menschen an sich. In seinem Gegenstand der lebenden Gestalt sieht Schiller “alle[...] ästhetischen Beschaffenheiten der Erscheinungen”21 und damit die Schönheit an sich. Spielen ist somit die Basis für ästhetisches Schaffen, für die Kunst an sich.
Dominierender Autor der Spieltheorie im 20. Jahrhundert ist der Niederländer Johan Huizinga, der für seine kulturhistorischen Schriften von den Nazis für mehrere Monate in ein Konzentrationslager verschleppt wurde. Er setzt die entscheidende Bedingung für das Spiel in seinem freien Charakter: Spielen als Tätigkeit ohne Zwang und ohne Ziel. Gibt es im Rahmen des Spiels ein Ziel, so geschieht dennoch unabhängig von dieser Zielerreichung das Spielen für das Spielen an sich. Im Gegensatz zu vielen anderen alltäglichen Tätigkeiten kann es keine Anweisungen oder Aufforderungen zum Spielen von außen geben, ansonsten handelt es sich nicht mehr um ein Spiel22. Dem typischen elterlichen Ausruf „Geht spielen!“ kann also nur Folge geleistet werden, wenn die Lust darauf schon da war. „Rücken die Folgen ins Blickfeld, dann wandelt sich das Spiel in Arbeit. Wer um des Geldes willen Tennis spielt, der arbeitet. Wer durch Klavierspiel sein Geld verdient, der arbeitet”23. Auch Schiller sieht als Spiel alles, “was weder subjektiv noch objektiv zufällig ist und doch weder äußerlich noch innerlich nötigt”24. In der Schule kann dieser Punkt berücksichtigt werden, indem Alternativen zur Verwendung eines Computerspiels zur Aufgabenerfüllung gestellt werden, denn es ist anzunehmen, dass die erwarteten positiven Effekte des Spiels nur eintreten, wenn die Beschäftigung tatsächlich spielerisch stattfindet. Je nach Aufgabe könnte zum Beispiel alternativ ein Film gedreht werden.
Über die Zweckfreiheit hinaus zeichnet intrinsische Motivation und ein Flusserleben das Spiel aus25. Dieser Flow ist charakterisiert dadurch, dass man
1. jederzeit wei ß , was zu tun ist. Ein hervorragender Zustand, um (im Unterricht) Aufgaben zu erledigen und das eigene Lernen zu steuern.
2. Man fühlt sich optimal beansprucht und ist selbst bei hohen Anforderungen sicher, das Geschehen unter Kontrolle zu haben. Dieser
Aspekt lässt sich mit dem Begriff einer starken
Selbstwirksamkeitserwartung übersetzen und erleichtert die Bewältigung von Aufgaben.26
3. Ein Schritt des Handlungsverlaufs geht fl ü ssig in den nächsten über.
4. Die Konzentration kommt wie von selbst; alles, was nicht auf die jetzige Ausführung gerichtet wird, wird ausgeblendet - im Unterricht ein häufig gewünschtes und selten erreichtes Ziel.
5. Man vergisst die Zeit und
6. verschmilzt mit der Tätigkeit, verliert Reflexivität und Selbstbewusstheit27. Einen solch tief entspannten Lernzustand zu erreichen wird Ziel jeder Lehrkraft sein und zuallermindest eine positive Assoziation zum Unterricht schaffen.
Weiter findet im Spiel ein Wechsel des Realit ä tsbezugs statt, der schon bei höheren Säugetieren zu beobachten ist. Beim Spielen schaffen diese eine Art zweiter Realität, in deren Rahmen die Handlung - beispielsweise Kampfhandlungen - nicht dasselbe bedeuten wie sonst. Affen signalisieren das beispielsweise über eine gewisse Form der Mimik, Kinder können mit zunehmender sozialer Kompetenz Spiel und Ernst unterscheiden28.
Den Sinn dieses Realitätswechsels beschreibt Oerter rückgreifend auf Wygotski und Freud als eine Form des Umgang des Kindes mit Grenzen und (noch) fehlenden Kompetenzen.29 Die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes stoßen in der es umgebenden Welt notwendigerweise an Grenzen; in der Spielrealität aber kann es sich diese alle erfüllen. So kann es mit überwältigenden Problemen umgehen. Aufgrund von Normen, Gefahren, Verboten und anderen Einschränkungen kann das Kind nicht alles, was es sich wünscht, alleine durchführen; wohl aber, es in seiner eigenen Welt nachspielen. So, wie Erwachsene Träume haben und deren Erfüllung planen, konstituiert es sein eigenes Erleben und entdeckt gleichzeitig den Konstruktcharakter von Realität im Allgemeinen. Dabei gestaltet es seinen Charakter und seine Sozialisierung selbst mit. Im Rahmen von geeigneten (Computer-)Spielen können Kinder und Jugendliche auch in der Schule Wünsche und Vorstellungen ohne Begrenzungen durch ihr Alter ‚spielen‘, in Sims beispielsweise in alternativen Lebensentwürfen oder Life is Strange im Treffen von Entscheidungen, in Minecraft in der Stadt- und Landschaftsgestaltung. Bei der richtigen Gestaltung und Begleitung kann dieser Aspekt zur Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule beitragen, Schüler_innen „angemessen auf das Leben in der derzeitigen und künftigen Gesellschaft vorzubereiten und sie zu einer aktiven und verantwortlichen Teilhabe am kulturellen, gesellschaftlichen, politischen, beruflichen und wirtschaftlichen Leben zu befähigen“.30
Wem Huizinga ganz im Gegensatz zu Schiller die Spielhaftigkeit abspricht, ist die Kunst. Dem bildenden Künstler entzieht er über den angeblich fehlenden spielerischen Handlungscharakter und in Anlehnung an die hellenische Tradition die Würde, eine musische und spielerische Kunst zu sein. Bildende Kunst sieht er als nur von körperlichen Fertigkeiten und Materialgegebenheiten abhängige handwerkliche Tätigkeit, deren entscheidende künstlerische Eigenschaft erst im fertigen, überdauernden Produkt entsteht. Dort sei sie dann abhängig von Menschen, „die ihre Augen an ihm weiden”31. Er postuliert, dass jede Arbeit an diesen Produkten „ernstlich und angespannt” und „immer der Fertigkeit der formenden Hand unterworfen”32 sein müsse. Aus eigener Erfahrung beschreibt er „langeweilige Sitzungen”33 des Bleistiftszeichnens, behauptet, diese Tätigkeit sei ein Spielen „auf eine[r] der niedrigeren Schichten der Kategorie Spiel”34 - wie das Spielen im ersten Lebensjahr - zu sein und versichert sogleich, dass aus ziellosem Spielen der Hand kein Stil entstehe. Er stellt die angebliche Materialgebundenheit und Fixierung auf das fertige, statische Objekt derart in den Vordergrund, dass er das Erlebnis und den Prozess sowohl von Produktion als auch Rezeption von Kunst fast völlig außer Acht lässt. Fraglich ist auch, inwieweit er Experte für (möglicherweise spielhafte) künstlerische Produktion sein kann, wo er doch selbst nur langweilige Bleistiftsitzungen erlebt zu haben scheint.
Buschkühle stellt dem gegenüber, wie auch Dichtung und Musik trotz ihres “immateriellen” Produktes von den Fähigkeiten der musizierenden oder dichtenden Person und im Falle der Musik von Qualität und Beherrschung des Musikinstruments abhängen35. Während Huizinga behauptet, bei der Betrachtung eines Kunstwerkes geschehe keine sichtbare und vor allen Dingen keinerlei spielerische Handlung, sieht Buschkühle Huizingas Rahmenbedingungen von Spielen - dass sie sich in einer freien Tätigkeit eigene Regeln schaffen - als erfüllt sowohl in der Produktion als auch der Rezeption Bildender Kunst.
Huizingas eingeschränkter Sichtweise auf Aktivität und Bedingungen künstlerischer Handlungen liegt nebst dem Vernachlässigen anderer Gesichtspunkte ein eingeengter Kunstbegriff zu Grund. Weitgehender Konsens der Kunstwissenschaften wie der Öffentlichkeit ist inzwischen ein weiter Kunstbegriff, in den auch digitale Medien wie Computerspiele eingehen und die manche sogar als „Integration aller bisheriger Kunstformen“ sehen36. Auch der Rahmenlehrplan für den Kunstunterricht in der Realschule möchte Kommunikationsformen vermitteln, „die den traditionellen Kunstbegriff durch Einbeziehung moderner Medien als Gestaltungsmittel erweitern“.37
Meyer et. al. weisen darauf hin, dass „der Gegenstand künstlerischer Aktivitäten über die traditionellen Grenzen der Fächer Kunst, Musik, Tanz, Theater usw. hinaus in den medienkulturellen Alltag und bis ins wissenschaftliche Experimentieren hinein” reiche, ja, dass sogar „die Zuständigkeiten für das Wahre, Schöne und Gute” unklar geworden seien und die Künste „das Gefängnis ihrer Autonomie“ verlassen haben38. Die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst, zwischen Hoch- und Popkultur verschwimmen. Den Einfluss der (nun nicht mehr so) neuen Technologien betrachten die Autor_innen im Projekt What ’ s Next? optimistisch unter der Prämisse, dass durch den Computer ähnlich große gesellschaftliche Umwälzungen wie mit dem Aufkommen und Gebrauch anderer Medienformen wie Sprache, Schrift und Buchdruck ermöglicht werden39.
Die Digital Natives sind Ureinwohner_innen der Gesellschaft, die aus diesen Veränderungen entsteht. Sie sind die Expert_innen, welche mit den digitalen Möglichkeiten, mit denen sie aufgewachsen sind, selbstverständlich umgehen40. Diese Expertise der Schüler_innen und die Bandbreite ihrer Ausdrucksmöglichkeiten sollte auch im Kunstunterricht anerkannt und ihr sollte entsprechender Raum gegeben werden.
3. Computerspiele als Bildmedium
Sehen wir Computerspiele als mögliches künstlerisches Medium und wollen sie im Kunstunterricht anwenden, sollte dem eine kunstwissenschaftliche Untersuchung untersuchen. Schon der im Englischen besonders gebräuchliche Begriff der Videospiele bzw. Video Games zeigt deutlich die Untrennbarkeit von Bildern und Computerspielen. Diese produzieren bis zu 60 neue Bilder pro Sekunde, welche sich je nach den Eingaben der Spielenden ändern.
Die Untersuchung von Computerspielbildern wird erschwert durch ihre schiere Anzahl und ihre Unterschiedlichkeit je nach Spielverlauf. Es ergeben sich immer neue Abfolgen aus Bildern, auch wenn zwei Personen gleichzeitig dasselbe Spiel spielen, da sie unterschiedliche Entscheidungen treffen und Bewegungen machen. Kingdom Hearts II ist ein Action- Rollenspiel für die PlayStation 2, das 2006 zum überraschenden Hit wurde, als es sich am zweitmeisten unter allen Konsolenspielen der USA verkaufte41. Bei einem Spieldurchlauf von 17 Stunden rauschen knapp 800.000 Einzelbilder an dem_r Spielenden vorbei42. Da die Untersuchung jedes einzelnen Bildes eines Computerspiels offensichtlich nicht möglich ist, empfiehlt Schwingeler zu Forschungszwecken exemplarische Bilder auszuwählen, die „mit Blick auf den Gesamtspielverlauf des Spiels und seiner Modifikation typische Bilder darstellen oder besondere Details gesondert sichtbar machen, um argumentativ zu fungieren”43. Gleichzeitig verweist er auf die Schwierigkeit, bei komplexeren Spielen ein exemplarisches Bild zu finden, und die Komplexität dieser Mediengattung zwischen Tetris und World of Warcraft: „ Das Computerspiel gibt es nicht”44.
Aufgrund der Begrenztheit von Ressourcen wie technischer Ausstattung und Zeit im Unterricht, ist das Spielen dort nicht immer möglich. So spielt die Verwendung exemplarischen Bild- und Videomaterials eine große Rolle.
Auf einer theoretischen Ebene kann damit eine Diskussion rund um ikonische Bilder der Kunst- und Kulturgeschichte und was diese ausmacht gestartet werden.
3.1 Das doppelte Bild im Computerspiel
Als digitale Medien bestehen Bilder aus Computerspielen aus mehreren Ebenen. Zum einen ist da die den Betrachtenden und Spielenden zugewandte Oberfläche, das Sichtbare. Wichtig für künstlerische Interventionen ist insbesondere die darunter verborgene Ebene: die des Codes. Diese bleibt den normalen Spieler_innen verborgen. Prinzipiell können auch exakt gleich erscheinende Bilder aus einem völlig anderen Unterbau erzeugt werden. Letztlich existiert er jedoch auch diese unsichtbare Ebene als Zeichenfolge - in Form von binärem Code45. Trauen sich beispielsweise Kunstschaffende an diesen Code heran, liegt hier die Möglichkeit, das vordergründig sichtbare Bild durch die Manipulation des darunterliegenden Codes zu verändern. Schwingeler sieht als Hauptarbeit von Künstler_innen in der Modifikation von Computerspielen, dass sie “die unsichtbare Unterfläche der Computerspielbilder hervorholen, sichtbar machen und ausstellen”46. Als Beispiel hierfür steht das Spiel Super Mario Clouds des amerikanischen Künstlers Cory Arcangel, eine Mod von Super Mario Bros von Nintendo. Im Original wird eine Figur nach links und rechts laufend und springend gesteuert, sie weicht Hinternissen und Gegner_innen aus und sammelt Bonuspunkte. In Super Mario Clouds existieren weder Figuren oder Musik noch Boden und Hindernisse. Nur noch die Wolken auf blauem Himmel sind zu sehen. Das Spiel ist so unspielbar gemacht, ist aber immer noch mit den Strukturen eines Computerspiels erstellt und widerspricht und hinterfragt so die Eigenschaften digitaler Spiele47.
Schwingeler kritisiert die Vernachlässigung der bildwissenschaftlichen Perspektiven in den ersten Jahrzehnten der Computerspielforschung. Denn obwohl es sich bei digitalen Spielen um “multimodale Gebilde [handle], die aus bewegten, statischen und interaktiven Bildern, Texten, Geschichten, Regeln etc. bestehen”48, seien diese primär als Text aus einer narratologischen und als Spiel aus einer ludologischen Perspektive betrachtet worden. Dabei seien Spiele zwar in der Lage, ein Vehikel der Narration zu sein, müssten diesen Aspekt aber nicht erfüllen, da sie auch genuin spielerische Aspekte hätten. Auf der anderen Seite dürfe allein aufgrund der Notwendigkeit von und der schieren Fülle von Bildern in Computerspielen ein bildwissenschaftlicher Zugang nicht vernachlässigt werden. Bildwissenschaftliche Bemühungen lassen sich als Frage beschreiben, „was es grundsätzlich bedeutet, mit Bildern […] umgehen zu können“49.
Schwingeler beschreibt die Kriterien eines engen Bildbegriffs, welche Computerspiele erfüllen, wie folgt: Sie sind 1. visuell wahrnehmbar, 2. artifiziell hergestellt (im Gegensatz beispielsweise zu Spiegelungen) und 3. persistent (im Gegensatz beispielsweise zu Wolkenbildern)50. Dazu möchte ich anmerken, dass die doppelte Bildhaftigkeit des Computerspiels hier überdeutlich wird. Denn Punkt Nummer 3 - Persistenz - mag auf der Code- Ebene Sinn machen: theoretisch ist jedes Bild bei Eingabe der richtigen ‘Befehle’ reproduzierbar und existiert als Möglichkeit im Code überdauernd. Auf der sichtbaren Ebene jedoch ist es, wie bereits zur Untersuchbarkeit einzelner Computerspielbilder angemerkt, in den meisten Fällen äußerst unwahrscheinlich, exakt dasselbe Bild zu reproduzieren, zu genau müsste zum Beispiel dieselbe Position im Spielverlauf wieder eingenommen werden. Überdauern kann ein Computerspielbild auf der oberflächlich sichtbaren Ebene letztendlich nur, wenn es anderweitig abgespeichert wird - und damit aus dem Spiel herausgenommen.
Bilder liegen im Allgemeinen in drei Modi vor: als 1. statisches Bild, 2. bewegtes Bild und 3. interaktives Simulationsbild.51 Statische und bewegte Bilder wie Gemälde, Fotografien und Videos werden dabei passiv rezipiert. Auch im Computerspiel kommen derartige Bilder als Ladescreens oder vorberechnete, animierte Szenen vor, in denen der_die Spielende nur betrachten und nicht in den Verlauf eingreifen kann. Ausgezeichnet werden digitale Spiele aber durch interaktive Bilder, welche durch Spielhandlungen verändert und gesteuert werden müssen. Ein besonderes Merkmal ist die in scheinbarer Echtzeit vorgenommene Veränderung r ä umlicher Konfigurationen 52 . Die Bilder eines Computerspiels zu sehen ist die Grundlage, um es zu spielen. Das reicht aber nicht aus. Diese Bilder müssen auch manipuliert werden.
Die Wichtigkeit der Bewegung im Raum ist schon anhand des ersten Computerspiel ersichtlich. In Tennis For Two von 1958 schlagen die Spieler_innen einen Lichtpunkt, welcher den Tennisball darstellt, von einer Seite des Bildschirms zur anderen. Physikalische Grundlagen wie Schwerkraft und Geschwindigkeit wurden auf einen Analogcomputer programmiert und auf einem Oszilloskop dargestellt. Die gesamte Spielhandlung findet also in der Veränderung der räumlichen Konfigurationen statt53.
3.2 Zweckentfremdung und Aneignung in der Geschichte der Computerspiele
Computerspiele selbst entstanden durch die Zweckentfremdung der ersten Computer, als der Physiker William Higinbotham mithilfe eines Analogcomputers auf einem Oszillographen das Tennisspiel Tennis For Two entwickelte.54
[...]
1 Vgl. Die Bundesregierung 2008, S.10
2 Vgl. ebenda, S.115
3 Vgl. ebenda, S.196
4 Vgl. Kultusministerkonferenz 2017
5 Kultusministerkonferenz 2017, S.16f
6 Schorb 2009, S.101
7 ISB, S.1
8 Vgl. Schorb 2009, S.101ff.
9 Bürgermeister 2009, S.168
10 Ebenda, S.103
11 Gabriel 2012, S.287
12 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, S.11
13 Vgl. TÜV Rheinland Akademie GmbH 2016
14 Vgl. Gabriel 2012, S.287
15 Schiller/Hoffmeister 1860, S.42
16 Vgl. ebenda, S.53
17 Ebenda, S.42
18 Schiller/Hoffmeister 1860, S.50
19 Vgl. ebenda, S.52
20 Ebenda, S.57
21 Ebenda, S.54
22 Vgl. Buschkühle 2007, S.20, Huizinga 2004, S.16 8
23 Vgl. Oerter 1993, S.5ff.
24 Schiller/Hoffmeister, S.55
25 Vgl. z. B. Csikszentmihalyi 2014
26 Vgl. z. B. Zimmermann/Skrobanek S.353,S.364
27 Vgl. ebenda, S.7
28 Vgl. Oerter 1993, S.11f.
29 Vgl. ebenda, S.13
30 KMK 2017, S.10
31 Huizinga 2004, S.182
32 Ebenda
33 Huizinga 2004, S.184
34 Ebenda
35 Vgl. Buschkühle 2007, S.22f.
36 Walker 2003, S.24
37 ISB, S.1
38 Meyer et. al. 2016, S.13
39 Vgl. ebenda, S.236
40 Vgl. ebenda, S.236f.
41 Vgl. IGN.com
42 Vgl. Schwingeler 2014, S.146
43 Schwingeler 2014, S.147
44 Ebenda
45 Vgl. ebenda, S.148
46 Ebenda, S.137
47 Vgl. Schwingeler 2014, S.20
48 Ebenda, S.136
49 Schirra/Sachs-Hombach 2006, S.887
50 Vgl. Schwingeler 2014, S.140
51 Vgl. Schwingeler 2014, S.140
52 Vgl. Schwingeler 2014, S.141
53 Vgl. ebenda
54 Vlg. Schwingeler 2014, S.14f.