Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Hinführung
2. Begriffsbestimmungen.
2.1 Erziehung.
2.2 Sozialisation.
2.3 Enkulturation.
2.4 Individuation.
2.5 Soziale Isolation.
3. Erziehungstheorien.
3.1 Das Lernen am Modell (Albert Bandura)
3.2 Erziehung als Beeinflussung psychischer Dispositionen (Wolfgang Brezinka)
3.3 Montessori Pädagogik (Maria Montessori)
4. Victor von Aveyron.
4.1 Hinführung.
4.2 Versuch der Erziehung durch Jean Marc Gaspard Itard.
5. Die Wichtigkeit von Enkulturation und Sozialisation des Menschen.
6. Bezug der verschiedenen Erziehungstheorien auf Victor
6.1 Gründe für Victors Verhalten durch das Lernen am Modell
6.2 Erziehung als Beeinflussung psychischer Dispositionen bezogen auf Victor
6.3 Montessori-Pädagogik bezogen auf die Erziehung von Victor
7. Sonderpädagogische Förderung bei Victor durch Jean Itard.
7.1 Förderschwerpunkt Lernen.
7.2 Förderschwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung.
7.3 Förderschwerpunkt Sprache.
7.4 Sonderpädagogische Förderung bei Victor
Literaturverzeichnis.
Victor von Aveyron
Warum müssen Kinder erzogen werden und welche Konsequenzen entwickeln sich ohne Erziehung? – Ausführung durch Bezug auf verschiedene Erziehungstheorien nach Albert Bandura, Wolfgang Brezinka und Maria Montessori sowie sonderpädagogische Fördermaßnahmen
1. Hinführung
Laut des Psychologen Albert Bandura findet ein Großteil der Erziehung durch das Lernen am Modell statt, also durch das Nachahmen einer Vorbildperson. Was aber passiert, wenn keine Vorbilder existieren und ein Großteil der Erziehung ohne jegliche Zivilisation oder soziale Kontakte stattfindet? Was passiert mit dem Individuum, wenn kein menschlicher Umgang stattfindet, sodass keine Sprache erlernt werden kann und keine Sozialisation stattfindet? Findet in solchen Fällen trotzdem eine Art Erziehung statt?
Ein Beispiel für diese Extreme sind isolierte Kinder, welche außerhalb menschlicher Gesellschaft aufwuchsen und auch als Wolfskinder bezeichnet werden, da sie durch fehlende Sprache, ein unsoziales Verhalten, ungewöhnliche Essgewohnheiten sowie eine veränderte Motorik und ein verändertes Schmerzempfinden geprägt sind (vgl. Malson/Itard/Mannoni, 1972, S. 2).
In der vorliegenden wissenschaftlichen Hausarbeit werden zunächst die Begriffe der Erziehung, der Sozialisation, der Enkulturation, der Individuation sowie der sozialen Isolation geklärt. Folgend wird das Lernen am Modell nach der Theorie von Albert Bandura sowie die Theorie der Erziehung als Beeinflussung psychischer Dispositionen von Wolfgang Brezinka dargestellt. Des Weiteren beinhaltet die Hausarbeit einen kurzen Einblick in die Montessori-Pädagogik, um zu analysieren, welche Vorgehensweise sich laut Maria Montessori am besten eignet, um Kinder zu erziehen und welche grundliegenden Voraussetzungen für eine gelungene Erziehung erfüllt werden müssen, um diese im weiteren Verlauf der Arbeit nach einer Fallbeschreibung auf den Wolfsjungen Victor von Aveyron anzuwenden.
Ziel ist es, herauszufinden inwiefern Educanten auf eine menschliche Erziehung angewiesen sind und welche Konsequenzen entstehen, wenn keine Sozialisation stattfindet. Abschließend wird thematisiert welche Arten von sonderpädagogischen Förderung existieren und inwiefern die Erziehung von Victor durch Itard darauf aufbaut bzw. welche Vorgehensweise Itard befolgt, um erzieherische Erfolge zu erzielen.
2. Begriffsbestimmungen
Für den weiteren Verlauf der Hausarbeit werden in den folgenden Kapiteln grundliegende Begriffe der Erziehung, der Sozialisation, der Enkulturation sowie der Individuation aufgezeichnet, um in der späteren Analyse detailliert darauf eingehen zu können.
2.1 Erziehung
Im Allgemeinen gibt es keine einheitliche Definition von Erziehung, jedoch beschreibt die Theorie von Bokelmann aus dem Jahr 1970 Erziehung als das Handeln der Erzieher, die im Rahmen gewisser Lebensvorstellungen und unter konkreten Umständen versuchen, die Lebensführung der zu Erziehenden zu verändern, sodass diese das erzieherische Handeln als notwendig empfinden, kritisch beurteilen und selbst fortfahren (Bokelmann, 1970, S.178-267).
Eine weitere mögliche Definition von Klaus Hurrelmann beschreibt Erziehung als die planvolle und zielgerichtete Interaktion zwischen einem Erwachsenem und einem Educanten, die unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und des persönlichen Wesens des Kindes versucht, erwünschtes Verhalten zu entfalten oder zu stärken. Das Ziel dieses Prozesses ist, bewusst in die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes einzugreifen, sodass diese zu einem selbstständigen, verantwortungsvollen und leistungsfähigen Menschen heranwachsen (Hurrelmann, 1994, S.13).
Darüber hinaus zeigt der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Brezinka in seiner Theorie verschiedene Funktionen von Erziehung auf. Die erste Funktion besagt, dass Erziehung dazu genutzt werden soll, vorhandene Dispositionen des Educanten auszubauen oder zu verstärken. Die zweite Funktion bezieht sich darauf, noch nicht vorhandene Dispositionen zu entwickeln und in der dritten sollen bereits vorhandene, unerwünschte Dispositionen beseitigt werden. Bei der Entwicklung eines Heranwachsenden zu einem individuellen Wesen spielen die Sozialisation sowie die Individuation eine große Rolle, um an der sozialen Gesellschaft teilzunehmen und sich zu integrieren. Hierbei sollen die kognitiven, affektiven als auch die sozialen Dimensionen des Kindes gefördert und bestimmte Erziehungsziele erreicht werden. Hinzukommend können die genetischen Veranlagungen des Kindes sowie die Qualität der Beziehungen, die das Kind in seiner Entwicklung erfährt zu der sozialen Entwicklung beitragen (Brezinka, 1990, S.95).
2.2 Sozialisation
Der Begriff Sozialisation bezeichnet die Gesamtheit aller Prozesse, in denen der Mensch zu einem Mitglied einer Kultur oder einer Gesellschaft wird (vgl. Kron, 2009, S. 40 f.).
Darüber hinaus entsteht durch die Sozialisation die Persönlichkeit des Individuums, welche in wechselseitiger Abhängigkeit zu der sozialen und materiellen Umwelt steht (Niederbacher & Zimmermann, 2011, S. 15). Bei der Sozialisation findet eine methodische Veränderung der menschlichen Natur statt, sodass das Individuum sich an die soziale Umwelt und an die gesellschaftlichen Erfordernisse anpasst (vgl. edb., S.12).
2.3 Enkulturation
Um die Definition der Sozialisation weiter auszuführen, wird der Begriff der Enkulturation hinzugezogen, da dieser einen Teil der Sozialisation darstellt. Laut des deutschen Erziehungswissenschaftlers Werner Loch bedeutet Enkulturation so viel wie „Das Lernen der Kultur“ oder „Die Entwicklung in die Kultur“ (Loch, 1969, S. 122ff). Darüber hinaus wird Enkulturation als ein Prozess definiert, bei dem ein Individuum sich an die Umgebene Kultur anpasst, sodass es die sozialen Regeln, Einstellungen und Verhaltensmuster übernimmt, welche in der entsprechenden Kultur vorzufinden sind (Brunner & Zeltner 1980, S.57).
2.4 Individuation
Der Individuationsprozess beinhaltet laut Carl Gustav Jung das Streben danach, seine unvergleichbare Einzigartigkeit zu finden und sich selbst zu verwirklichen, um zu einem Einzelwesen zu werden (Jung, 1933, S. 65f). Hinzukommend entwickeln sich auf dem Weg der Individuation immer wieder neue Probleme, denen der Mensch sich stellen und seine Entscheidungen selbst verantworten muss, da sich dadurch die Innere Ganzheit entwickelt (Wischmann, 2006, S.6-10).
2.5 Soziale Isolation
Soziale Isolierung beschreibt die Einsamkeit oder die Verlassenheitserlebnisse eines Individuums, sodass diesem ein Übermaß an negativen sozialen Verhaltensweisen aufweist (Lauth, Viebahn, 1987, S. 11).
3. Erziehungstheorien
3.1 Das Lernen am Modell (Albert Bandura)
Nach der Theorie des Psychologen Albert Bandura findet Modelllernen statt, wenn sich ein Educant auf Grund der Beobachtung eines anderen Individuums neue Verhaltensweisen aneignet oder bereits bestehende Verhaltensweisen verändert (Baade, 1982, S. 111).
In seiner sozial-kognitiven Lerntheorie führt Bandura auf, dass der Beobachter einen Reiz aufnimmt, woraufhin eine Reizverarbeitung stattfindet in der die Informationen aufgenommen und verinnerlicht werden, bevor dieser darauf reagiert. Badura unterteilt diesen Prozess in eine Aneignungsphase (Akquisition) und eine Ausführungsphase (Performanz), welche erneut jeweils in zwei Teilprozesse aufgeteilt werden (Bandura 1976, S. 24 ff.).
Der erste Prozess der Aneignungsphase ist der Aufmerksamkeitsprozess, in der das Kind seine Aufmerksamkeit auf das Modell konzentriert und es beobachtet, sodass er dieses genau wahrnimmt und Verhaltensweisen auswählt, die ihn besonders interessieren. Der darauf folgende Prozess, welcher ebenfalls zu der Aneignungsphase des Individuum zählt, ist der Behaltensprozess, in der das beobachtete Modellverhalten im Gedächtnis gespeichert und verankert wird. Folgend findet daraufhin in der Aneignungsphase der motorische Reproduktionsprozess statt, in dem der Beobachter sich an das gespeicherte Verhalten erinnert und es nachahmt, indem die Bewegungsabläufe wiederholt werden. Abschließend befindet sich der Educant in dem Verstärkungs- und Motivationsprozess der Ausführungsphase, in der das Verhalten durch eine externe Verstärkung in Form von Erfolg oder Lob und Belohnung und durch Selbstverstärkung gefestigt werden muss, um erlernte Prozesse beizubehalten. (Edelmann, 1996, S. 286).
3.2 Erziehung als Beeinflussung psychischer Dispositionen (Wolfgang Brezinka)
Erziehung kann laut des Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Brezinka wie folgt definiert werden: „Unter Erziehung werden Soziale Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten.“ Oder kürzer: „Als Erziehung werden Handlungen bezeichnet, durch die Menschen versuchen, die Persönlichkeit anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht zu fördern.“ (Brezinka 1974, S. 95).
Daraus folgt, dass Erziehung als ein Versuch angesehen werden kann, andere Menschen zu beeinflussen, der gelingen oder misslingen kann. Erziehung erfolgt laut Brezinka zudem intentional und ist nicht ausschließlich auf das Kindheits- oder Jugendalter beschränkt. Des Weiteren legt der Erziehungswissenschaftler fest, dass Erziehung eine auf andere Menschen bezogene Handlung ist, da der Erzieher als „Handlungssubjekt“ dem Zögling als „Handlungsobjekt“ gegenüber steht und eine Selbsterziehung somit nicht möglich ist. Erweiternd ist die Erziehung auf die Verbesserung und den Erhalt von vorhandenen Dispositionen des Zöglings fokussiert und strebt eine dauerhafte Wirkung im Bereich von Kenntnissen, Emotionen, Haltungen, Einstellungen und Fertigkeiten an, bei denen der Erzieher festlegt, welche Eigenschaften wertvoll und wichtig sind. Außerdem geht Brezinka davon aus, dass der Zögling, welcher erzogen werden soll, als Objekt betrachtet wird und der Erziehungsauftrag von dem subjektiven Erzieher durch bestimmte Beeinflussungsversuche durchgeführt wird (Wiater, 2013, S.20)
3.3 Montessori Pädagogik (Maria Montessori)
„Hilf mir es selbst zu tun“ lautet ein bekanntes Zitat der Erziehungswissenschaftlerin Maria Montessori, da es in der Montessori-Pädagogik vor allem darum geht, Educanten zu selbstständigem Arbeiten und Lernen zu animieren. Das funktioniert idealerweise ohne das Eingreifen eines Lehrers oder Erziehers, da das Kind aus eigener Motivation heraus die Lernmaterialien aussuchen und sich selbst aneignen soll. Die Montessori-Pädagogik wird häufig als Reform-Pädagogik bezeichnet, da sie sich wesentlich von anderen Erziehungsformen ihrer Zeit unterscheidet und nur zwei wesentliche Ziele enthält. Das erste Ziel ist hierbei die wissenschaftliche Erforschung und Förderung der Entwicklungspotenziale des Kindes und das zweite Ziel beinhaltet die Integration des Kindes als soziales Wesen in eine bereits bestehende organisch soziokulturelle Umwelt (vgl. Fuchs, 2003, S. 64).
Ein weiteres Zitat von Maria Montessori, welches ihre Einstellung zu dem Thema Erziehung verdeutlicht ist: „Die Freiheit des Kindes muss als Grenze das Gemeinwohl haben, als Form das, was wir als Wohlerzogenheit bei seinen Manieren und seinem Auftreten bezeichnen. Wir müssen also dem Kind alles verbieten, was den anderen kränken oder ihnen schaden kann oder als unschickliche oder unfreundliche Handlung gilt.“ (Montessori, 1994, S. 79).
Maria Montessori unterteilt den Entwicklungsprozess des Kindes in drei Phasen, um die ganzheitliche Entwicklung des Menschen darzustellen, da jede Phase eine wichtige Rolle für die darauf folgende Phase spielt. Innerhalb der sensiblen Phasen des Kindes lernt das Kind durch sein eigenes Handeln neue Fähigkeiten, welche mit allen Sinnen erprobt werden, sodass der Erwerb bestimmter Fähigkeiten ermöglicht wird. In der ersten Phase befindet sich der Educant in dem Kleinkindalter von 0-6 Jahren, worauf die Kindheit im Alter von 6-12 Jahren folgt. Schlussendlich durchläuft das Individuum abschließend im Alter von 12-18 Jahren das Jugendalter. In Montessoris Theorie wird sowohl die erste als auch die dritte Phase jeweils erneut in dreijährige Unterphasen eingeteilt. Maria Montessori bezeichnet zudem die erste und dritte Phase der Entwicklung als formativ und die zweite und vierte Stufe als stabil, da die formativen Phasen eher als labil oder schöpferisch gelten und die stabilen Phasen zum Weiterführen und Festigen benötigt des bereits Erlernten genutzt werden (vgl. Raapke, 2001, S. 62).
Besonders prägend für die kindliche Entwicklung ist das Kleinkindalter, da sich hier die Persönlichkeit, die Psyche und der Geist sowie bestimmte Fähigkeiten des Kindes formen und entwickeln. Montessori betont, dass in der ersten Unterteilung der Phase (0-3 Jahre) erste intellektuelle, motorische und soziale Funktionen entwickeln, welche im weiteren Verlauf der Phase (3-6 Jahre) weiterentwickelt und endgültig gefestigt werden, was eine besondere Bedeutung für die Entwicklungsphase hat, da die Erfahrungen der erste Phase immer bestehen bleiben und als irreversibel gekennzeichnet sind (vgl. Fuchs, 2003, S. 106).
Die Kindheit (6-12 Jahre) wird in der Montessori-Pädagogik als stabile Phase bezeichnet, in der die Kinder lernen komplexere Zusammenhänge und Geschehnisse zu verstehen und sich sowohl seelisch als auch körperlich zurecht zu finden. Des Weiteren ist diese Phase der Entwicklung durch eine große Wissbegierde sowie Lernfähigkeit geprägt, sodass der Educant möglichst viele neue Dinge erfahren und lernen möchte. Außerdem ist es sinnvoll, das Kind in dieser Phase in die moralischen Beziehungen einzuführen, sodass es einen Gerechtigkeitssinn sowie ein Gewissen entwickelt und lernt Verantwortung zu übernehmen. Zudem entwickelt das Individuum in dieser Phase ein besseres Gemeinschaftsgefühl, sodass es Beziehungen besser begreift und beginnt, soziale Beziehungen aufzubauen und sich erstmals von der Familie zu lösen (Missmahl-Maurer, 1994, S. 223 ff.).
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