Gehen - Denken - Sprache in Thomas Bernhards "Gehen"


Term Paper, 2007

15 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Gehen und Denken
2.1 Die Gehenden
2.2 Interdependenz von Körperbewegung und geistiger Arbeit

3. Sprache und Denken
3.1 Sprachskepsis und Sprachkritik
3.1.1 Parallele zu Wittgenstein
3.2 Sprachsog: Musikalität

4. Abschließende Bemerkung

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der vorliegenden Arbeit soll die Erzählung Gehen von Thomas Bernhard auf die Gesichtspunkte Gehen, Denken und Sprache untersucht werden. Dabei soll im ersten Schritt erläutert werden, wer die im Text Gehenden sind und welche Art von Gedanken sie beschäftigt, um anschließend die Abhängig von Gehen und Denken zu beleuchten.

Im zweiten Schritt wird der Fokus auf die Sprache gelegt. Es soll untersucht werden, welche Sprachauffassung die Figuren haben, welche Probleme sie in ihr sehen und welche Konsequenzen sie aus diesen Problemen ziehen. In Verbindung damit werden Parallelen zur Sprachauffassung und zum Sprachbegriff Wittgensteins gezeigt.

In Bernhards Prosastück passiert in narrativem Sinne nicht sehr viel. Das Einzige, was wirklich erzählt wird, ist Karrers Verrücktwerden. Die Frage liegt also nahe, was es ist, was den Leser an diesem Text festhalten lässt, ohne desinteressiert zu werden, obwohl es offensichtlich keine Geschichte in traditionellem Sinne zu entdecken gibt. Eine Antwort auf diese Frage gilt es abschließend aufzuweisen.

2. Gehen und Denken

2.1 Die Gehenden

Während ich, bevor Karrer verrückt geworden ist,

nur am Mittwoch mit Oehler gegangen bin,

gehe ich jetzt, nachdem Karrer verrückt geworden ist,

auch am Montag mit Oehler.

Gehen

Bernhards Figuren sind keine Figuren in narrativem Sinne. Äußerlich werden sie, abgesehen von einigen Kleidungsstücken, die sie zu tragen pflegen, kaum beschrieben und auch ihre Charaktereigenschaften werden nicht genannt. Ihre Persönlichkeit wird durch ihre Art zu sprechen festgemacht.

Es kommen drei Stimmen zu Wort: Der Ich-Erzähler, der namenlos bleibt und als direkte und tragende Rede des Prosaflusses fungiert; die Stimme Oehlers, und somit seine Behauptungen, Gedanken, Beobachtungen und Feststellungen (denn er selbst spricht nie direkt), die innerhalb des Redeflusses des Ich-Erzählers als direkte Rede wiedergegeben werden. Als dritte Stimme schließlich ist die des verrückt gewordenen Karrer zu hören, die durchweg vom Ich-Erzähler und von Oehler zitiert, aber immer im Redefluss des Ich-Erzählers als direkte Rede eingebaut wird.[1] So finden sich Formulierungen wie „sagte Karrer, so Oehler“, „so Karrer, sagt Oehler“ und „so Karrer zu Oehler“. Es entsteht eine Verschachtelung der Sätze, denn der Ich-Erzähler gibt wieder, was Karrer gesagt hat, jedoch zu Oehler, welcher das an den Ich-Erzähler weitergibt. Letztendlich zitiert der Ich-Erzähler Oehler, der mal für sich, mal für Karrer spricht und teilt das, kombiniert mit seinen eigenen Gedanken, in seinem Reden mit. Dieses gegenseitige Zitieren wird im Text ebenfalls direkt thematisiert: „Im Grunde ist alles, was gesagt wird, zitiert […].“[2]

Es entsteht ein aus drei Stimmen zusammengesetzter Monolog, der beim Leser eine unbehagliche Stimmung erzeugt: Es ist schließlich eine Erzählung und kein Theaterstück, warum wird also ununterbrochen gesprochen? Die Figuren reden vor sich hin, sodass es sehr theatralisch wirkt, also so, als ob sie beim Gehen ihre Gedanken direkt vor dem Publikum (vor dem Leser) entwickeln. Die beiden Spaziergänger nehmen von ihrer Außenwelt nichts wahr, sie sind ganz in ihrer sprachlichen Welt gefangen und genügen sich selbst.[3] Der Leser hat den Eindruck, die Gehenden auf der Bühne zu beobachten.

Es scheint, als sei den Figuren auferlegt worden, ihre Existenz zu denken und nicht nur zu leben, denn „[…] als extreme ‚Kopfmenschen’ charakterisierte Figuren [sind] unentwegt damit beschäftigt, ihre Existenz denkend zu bewältigen.“[4] Dementsprechend hinterfragen sie es nicht; sie sehen es für einen denkenden, reflexionsfähigen Menschen als ganz natürlich an.

Gegenstand des Gesprächs (denn es scheint ein einziges zu sein, das bei einem einzigen Spaziergang geführt wird) ist Unterschiedliches, so z. B. die Verstandeslosigkeit: „Die meisten Menschen, über achtundneunzig Prozent, sagt Oehler, haben weder Geisteskälte, noch Geistesschärfe und haben nicht einmal Verstand“[5], das Kinderzeugen: „Wer ein Kind macht, sagt Oehler, gehört mit der Höchststrafe bestraft und nicht unterstützt“[6] oder das Irrenhaus vs. die Außenwelt und damit verbunden das menschliche Dasein:

Dann, wenn wir in Steinhof sind, sagt Oehler, erkennen wir, daß die Unerträglichkeit außerhalb der Irrenhäuser, von welcher wir immer das Leben und das Existieren und die Existenz von dem Leben und der Existenz und dem Existieren innerhalb der Irrenhäuser getrennt haben, außerhalb der Irrenhäuser tatsächlich lächerlich ist gegen die Unerträglichkeit in den Irrenhäusern.[7].

Der Kern, um den sich aber alles kreist, ist Karrers Verrücktwerden. Die Gehenden versuchen die Gründe für diesen Umstand herauszufinden. Oehler weiß, dass Karrer ein sehr intensiver Denker ist, gleichzeitig aber auch ein Meister im Abbrechen des Gedankens: „Karrer praktizierte diese Fähigkeit mit einer Virtuosität, die ohne weiteres als Gehirnkunstfertigkeit […] zu bezeichnen ist […].“[8] Denn genau das sei wichtig, dass man nämlich rechtzeitig den Gedanken abbricht, weil man sonst dem Wahnsinn verfällt und verrückt und somit wertlos wird. Man solle

Denken und immer mehr und immer mehr mit immer größerer Intensität und mit einer immer noch größeren Rücksichtslosigkeit und mit einem immer noch größeren Erkenntnisfanatismus, […] aber nicht einen Augenblick zu weit denken. Jeden Augeblick können wir zu weit denken […] einfach zu weit gehen in unserem Denken […] und alles ist wertlos.[9]

Die Kunstfertigkeit, die Karrer Oehlers Meinung nach so sehr auszeichnet, gelingt ihm im rustenschacherschen Laden nicht mehr. Karrers exzessives Denken führt ihn in den Wahnsinn und gleichzeitig bangt der Leser um den seelischen Zustand des Ich-Erzählers und Oehlers und auch um den eigenen, denn es wird immer wieder deutlich, dass die Gehenden, gemeinsam mit dem Leser, in genau der selben Gefahr schweben verrückt zu werden, in der Karrer schwebt, bevor er die Grenze überschreitet.[10]

2.2 Interdependenz von Körperbewegung und geistiger Arbeit

Wenn wir gehen, sagt Oehler,

kommt mit der Körperbewegung

die Geistesbewegung.

Gehen

[...]


[1] Vgl. Niccolini, Elisabetta: Der Spaziergang des Schriftstellers. Lenz von Georg Büchner, Der Spaziergang von Robert Walser, Gehen von Thomas Bernhard. Stuttgart; Weimar 2000 (= M & P Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung). S. 187.

[2] Bernhard, Thomas: Gehen. Frankfurt/ Main 1971. S. 22.

[3] Niccolini, Elisabetta: Der Spaziergang des Schriftstellers. S. 179-180.

[4] Eyckeler, Franz: Reflexionspoesie. Sprachskepsis, Rhetorik und Poetik in der Prosa Thomas Bernhards. Hg. v. Hugo Steger u. Hartmut Steinecke. Berlin 1995 (= Philologische Studien und Quellen H. 133). S. 86.

[5] Bernhard, Thomas: Gehen. S. 13.

[6] Bernhard, Thomas: Gehen. S. 17.

[7] Ebd. S. 25.

[8] Ebd. S. 32-33.

[9] Ebd. S. 14.

[10] Vgl. Eyckeler, Franz: Reflexionspoesie.. S. 81.

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Details

Title
Gehen - Denken - Sprache in Thomas Bernhards "Gehen"
College
University of Mannheim  (Germanistisches Seminar)
Course
Deutsche Literatur der 70er Jahre bis heute
Grade
1,3
Author
Year
2007
Pages
15
Catalog Number
V81219
ISBN (eBook)
9783638860451
ISBN (Book)
9783640613083
File size
425 KB
Language
German
Keywords
Denken, Sprache, Thomas, Deutsche, Literatur, Jahre, Deutsche Literatur, Thomas Bernhard, Spaziergang, Musikalität, Gehen, Sprachrhythmus, Textmelodie, Körperbewegung, Sprachskepsis, Sprachkritik, Wittgenstein, Mehrstimmigkeit, Wirklichkeit, Spaziergänger, Konstruktivismus, Tractatus, Philosophische Untersuchungen, Dinge an sich, Dinge, verrückt, Irrenanstalt, Verrücktheit, Karrer, Rustenschacher, Satzmelodie, Antithesen, Oehler, Scherrer, Klangfülle, Argumentationsschwall
Quote paper
Aljona Merk (Author), 2007, Gehen - Denken - Sprache in Thomas Bernhards "Gehen", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/81219

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Title: Gehen - Denken - Sprache in Thomas Bernhards "Gehen"



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