Die Entlassungssituation forensischer Patienten aus der Psychiatrie


Mémoire (de fin d'études), 2005

126 Pages, Note: 1,70


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

1 Einleitung

2 Ergebnisse der Literaturstudie
2.1 Die rechtlichen Grundlagen des psychiatrischen Maßregelvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland
2.1.1 § 63 StGB : Die Maßregel der Besserung und Sicherung
2.1.2 Dauer und Beendigung der Maßregel
2.1.3 Das niedersächsische Maßregelvollzugsgesetz
2.2 Psychische Gesundheit - Psychische Krankheit
2.2.1 Psychiatrische Langzeitpatienten
2.2.2 Hospitalismus
2.2.3 „Krank und kriminell“ - Die Klientel des psychiatrischen Maßregelvollzugs
2.3 Die Behandlung und Therapie im Maßregelvollzug
2.3.1 Schwierigkeiten und Probleme während einer stationären Behandlung
2.3.2 Entlassungsvorbereitungen und Rehabilitation
2.3.3 Die kriminologische Rückfälligkeit forensischer Patienten
2.4 Die Entlassung aus einem psychiatrischen Krankenhaus
2.4.1 Die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen
2.4.2 Psychosoziale Einrichtungsmöglichkeiten
2.4.3 Forensische Fachambulanz
2.4.4 Exkurs: Lebensqualität
2.4.5 Die Lebenspraxis psychisch kranker Menschen
2.5 Zusammenfassung

3 Methodisches Vorgehen
3.1 Qualitativer Forschungsansatz
3.2 Das problemzentrierte Interview nach Witzel
3.3 Entwicklung des Interviewleitfadens
3.4 Auswahl der Stichprobe
3.5 Darstellung der Stichprobe
3.6 Datenerhebung
3.7 Experteninterview
3.8 Datenauswertung

4 Ergebnisdarstellung
4.1 Leben in der Maßregelklinik
4.1.1 Verlust eines Lebensabschnitts
4.1.2 Zwanghafter Freiheitsentzug
4.1.3 Der mühsame Prozess der Behandlung
4.1.4 Die forensische Psychiatrie als Erfahrungswert
4.1.5 Entlassungsvorbereitung
4.1.6 Zusammenfassung und Diskussion
4.2 Leben nach der Maßregelklinik
4.2.1 Das Probewohnen: Der erste Schritt zurück zur Normalität
4.2.1.1 Eingeschränkte Freiheit durch Beobachtung und Kontrolle
4.2.1.2 Schutz- und Sicherheitsfunktion durch die Anbindung zur Maßregelklinik
4.2.2 Leben in der neuen Unterkunft
4.2.2.1 Pflegerische Unterstützung im Wohnheim
4.2.3 Wieder gewonnene Freiheit und Privatsphäre
4.2.4 Bewältigung alltäglicher Aufgaben
4.2.5 Umgang mit Medikamenten
4.2.6 Umgang mit Konflikten
4.2.7 Arbeitsbeschäftigung
4.2.8 Finanzielle Situation
4.2.9 Soziales Umfeld
4.2.9.1 Folgen der Beziehungsabbrüche
4.2.9.2 Aufbau sozialer Kontakte
4.2.9.3 Familiäre Kontakte
4.2.9.4 Wunsch nach einer partnerschaftlichen Beziehung
4.2.10 Freizeitgestaltung
4.2.11 Angst vor Ausgrenzungen
4.2.12 Zukunftsperspektiven
4.2.13 Zusammenfassung und Diskussion
4.3 Der Bedarf einer forensischen Fachambulanz

5 Abschließende Diskussion und F azit

6 Empfehlungen für die Praxis

Literaturverzeichnis 103

Anhangsverzeichnis

Danksagung

Die vorliegende Arbeit über die Entlassungssituation forensischer Patienten aus der Psychiatrie konnte nur mit Hilfe und Unterstützung vieler Personen erstellt werden. Dabei geht ein ganz besonderer Dank an die forensischen Patienten, die mir durch ihre offene Sichtweise ihre derzeitige Lebenssituation in der Freiheit schilderten. Ohne ihre Zustimmung und freundliche Begegnung wäre diese Arbeit vermutlich nicht zustande gekommen. Auch ein herzliches Dankeschön an die Pflegedienstleitung und die Mitarbeiter der Maßregelklinik, die mir in sehr freundlicher Art und Weise den Kontakt zu den forensischen Patienten ermöglichten

Herrn Prof. Dr. phil. Moers, der mir durch seine Betreuung mit gutem Rat und aufbauenden Worten zur Seite stand, möchte ich meinen Dank aussprechen

Abschließend möchte ich mich bei Maik, meinen Geschwistern sowie allen Freunden, die mir während meiner Diplomarbeitszeit sehr nahe standen und mir in dieser Zeit ihre Liebe und Freundschaft bewiesen, bedanken

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildung 1: Gesetzliche Bestimmungen im Zusammenhang mit der Unterbringung nach § 63 StGB

Abbildung 2: Modell der Bedingungen und Folgeerscheinungen sozialer Isolation bei hospitalisierten Psychiatrie-Patienten

Abbildung 3: Stigma und seine Folgen: Der Teufelskreis der Stigmatisierung

Tabelle 1: Übersicht der Interviewteilnehmer

1 Einleitung

Die Entlassung aus der Psychiatrie kann nach einem stationärem Aufenthalt entweder ein erfreuliches oder aber auch belastendes Ereignis für den Patienten[1] sein. Die stationäre Entlassungsvorbereitung und ambulante psychosoziale Betreuungsmöglichkeiten nehmen in der Nachsorge psychisch kranker Menschen einen großen Stellenwert ein. Während meines fünfmonatigen Praxissemesters in Kuopio (Finnland) im Jahr 2003 konnte ich interessante Gespräche mit Patienten aus der forensischen Psychiatrie führen, weshalb der Fokus meiner Diplomarbeit der forensischen Psychiatrie gelten soll. Sie beschäftigt sich mit Personen, die aus Sicht unserer Bevölkerung mit ihrer doppelten Stigmatisierung - krank und kriminell - am äußeren Rand der Gesellschaft stehen. Auf einer deutschen Fachtagung zum Maßregelvollzug in Eickelborn (Nordrhein-Westfalen) berichtete ein noch stationär behandelter Patient: „Als Patient weiß ich was ich will: Ich will entlassen werden. Geredet und diskutiert wurde bisher im Maßregelvollzug viel. Aber zu wenig mil uns, dafür mehr über uns. (...) Wir Patienten wünschen uns mehr Klarheit, Offenheit und Akzeptanz. Wir wollen ernst genommen werden. “ (Lüdtke, 1990: 254)

Durch meine berufliche Tätigkeit als Krankenschwester in der Allgemeinpsychiatrie erlebe ich es allerdings nicht gerade selten, dass Patienten im Sinne des „Drehtüreffekts“ nach ihrer Entlassung aus der Psychiatrie nach kurzer Zeit wieder stationär aufgenommen werden. Deshalb ist das Ziel dieser Arbeit, Antworten darauf zu geben, inwieweit sich die ehemaligen forensischen Patienten auf die Entlassung vorbereitet fühlen, welchen Schwierigkeiten und Problemen sie nach dem Auszug aus der Maßregelklinik begegnen und welche Rolle Ängste, Erfahrungen, Hoffnungen, Erwartungen, Bedürfnisse und Zukunftsperspektiven dabei einnehmen. Aber auch die psychische Erkrankung, die begangene Straftat und die damit verbundene Therapie und Behandlung in der Maßregelklinik sollen durch die retrospektive Sichtweise des Betroffenen einen bedeutungsvollen Aspekt bilden. Hierzu wurden insgesamt elf männliche Patienten und eine Stationsleitung nach dem qualitativen Verfahren des problemzentrierten Interviews nach Witzel befragt. Anschließend wurden alle zwölf Interviews nach dem Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet.

Der Aufbau dieser Arbeit gestaltet sich wie folgt: Zu Beginn werden im zweiten Kapitel dieser Arbeit die Ergebnisse der Literaturstudie zu dieser Thematik vorgestellt und schließen mit einer Zusammenfassung ab. Das dritte Kapitel beschreibt das methodische Vorgehen zur Durchführung der Untersuchung. Im vierten Kapitel werden die Interviewergebnisse dargestellt und schließen mit einer Diskussion und einem Fazit ab. Die Ausarbeitungen hinsichtlich der Empfehlungen für die Praxis finden sich im fünften Kaptitel wieder.

2 Ergebnisse der Literaturstudie

Die Ergebnisse der Literaturstudie beziehen sich im Folgenden auf die Bereiche der rechtlichen Grundlagen im psychiatrischen Maßregelvollzug sowie die Bedeutung einer psychischen Gesundheit bzw. Erkrankung und deren Behandlung und Therapie. Auch die Entlassungssituation aus der Maßregelklinik soll durch die Entlassungsvorbereitungen und Rehabilitation forensischer Patienten anhand repräsentativer Studien dargestellt werden. Zusätzlich werden die psychosoziale Lebenspraxis psychisch Kranker und die Stigmatisierung mit einbezogen. Die forensischen Patienten durchlaufen viele Instanzen, bis sie letztendlich entlassen werden können. Dazu zählen das gerichtliche Verfahren, der Aufenthalt in der Maßregelklinik sowie die schrittweise Entlassung zurück in die Gesellschaft. Der jahrelange Prozess und die damit verbundenen Besonderheiten forensischer Patienten wirken sich auf deren Entlassungssituation aus. Deshalb ist eine komplexe Betrachtung dieser Gegebenheiten notwendig und erklärt auch die umfangreiche Ergebnisdarstellung dieser Literaturstudie.

2.1 Die rechtlichen Grundlagen des psychiatrischen Maßregelvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland

Die forensische Psychiatrie[2] beschäftigt sich mit „Fragen zur Schuld-, Entscheidungs- und Zurechnungsfähigkeit aufgrund seelischer Störungen“ und bildet eine Schnittstelle zwischen der Psychiatrie und dem Strafvollzug (Vetter, 2001: 2). In der Bundesrepublik Deutschland gibt es etwa 4000 forensische Patienten, die in psychiatrischen Kliniken oder speziellen Maßregelvollzugseinrichtungen untergebracht sind (Sternberg & Stuckmann, 1999: 96).

Der psychiatrische Maßregelvollzug liegt in der Verantwortung der einzelnen Bundesländer, die somit auch für die rechtlichen Rahmenbedingungen der forensischen Patienten zuständig sind. Die Voraussetzungen für eine Unterbringung in einer forensischen Psychiatrie (vielfach auch als Maßregelklinik bzw. Maßregelvollzugseinrichtung bezeichnet) folgen aus dem Strafgesetzbuch (StGB). Hier zählt die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB), einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) oder einer Sicherheitsverwahrung (§ 66 StGB) zu den „Maßregeln der Besserung und Sicherung“. Grundsätzlich ist bei diesen Maßregeln, die sich in den §§ 61-72 StGB wieder finden, zwischen „nicht freiheitsentziehenden Maßnahmen“ (z.B. Entziehung einer Fahrerlaubnis) und „freiheitsentziehenden Maßnahmen“ (z.B. die Unterbringung in einer

Maßregelklinik) zu unterscheiden. Das bedeutet, dass die Maßregelklinik neben der psychiatrischen Behandlung auch die Aufgabe und das Ziel der Sicherung der Allgemeinheit hat. Diese Besserungsaufgabe richtet sich, so § 136 StVollzG (Strafvollzugsgesetz), nach ärztlichen Gesichtspunkten. Deshalb kann durch bauliche Maßnahmen der Unterbringungseinrichtungen als auch durch therapeutische Betreuungen die zum Risiko gewordene psychische Störung so behandelt werden, dass eine Gefährdung der Allgemeinheit nicht mehr befürchtet werden muss. Der Straftäter erhält die notwendige Pflege, Aufsicht und Betreuung. Das Ziel für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist in § 137 StVollzG auf ähnliche Weise beschrieben. Hier soll der Untergebrachte von seinem Hang nach Suchtmitteln geheilt und die zu Grunde liegende Fehlhaltung behoben werden. Nach dieser Norm wird durch die Behandlung die Gefährlichkeit des Straftäters reduziert und der Unterbringungsgrund als Voraussetzung für eine Entlassung beseitigt (Schaumburg, 2003: 10; Kammeier, 2003: 28). An dieser Stelle sollen die Maßregeln der „Besserung und Sicherung“ dargestellt werden: § 61 StGB: [Übersicht]

„Maßregeln der Besserung und Sicherung sind die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung, die Führungsaufsicht, die Entziehung der Fahrerlaubnis oder das Berufsverbot. “ (Tröndle & Fischer, 2003: 516)

Dabei sollte bei einer eventuellen gleichzeitigen Haftstrafe grundsätzlich die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt vorgezogen werden (Kammeier, 2003: 28).

2.1.1 § 63 StGB: Die Maßregel der Besserung und Sicherung

Wie bereits erwähnt sind die §§ 63 und 64 StGB Bestandteil der Maßregeln der Besserung und Sicherung und regeln die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB für psychisch kranke Straftäter) und in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB für suchtkranke Straftäter). Da bei dieser Studie jedoch ausschließlich Personen betrachtet werden, die nach einem Aufenthalt gemäß § 63 StGB aus der Maßregelklinik beurlaubt bzw. entlassen worden sind, wird deshalb auf detaillierte Informationen hinsichtlich des § 64 StGB verzichtet.

Das Strafgesetz benennt in § 20 StGB vier persönliche Tatbestandsmerkmale des Straftäters, die zum Ausschluss der Schuldunfähigkeit führen können: § 20 StGB: [Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen]

„ Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen Schwachsinn oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. “ (Tröndle & Fischer, 2003: 134)

Bei diesen persönlichen Tatbestandsmerkmalen handelt es sich um:

1. eine krankhafte seelische Störung, d.h. psychotische Störung aus dem schizophrenen und affektiven Formenkreis, psychotisches Residualsyndrom, hirnorganische Störung sowie Intoxikation,
2. eine tief greifende Bewusstseinstörung, d.h. eine Bewusstseinseinengung bedingt durch hochgradige affektive Erregung aus dem normalpsychologischen Kontext,
3. Schwachsinn, d.h. eine angeborene Intelligenzminderung (IQ von unter 70%) mit entsprechenden Defiziten intellektueller und sozialer Kompetenzen und
4. eine schwere andere seelische Abhängigkeit, d.h. eine schwere Persönlichkeitsstörung, eine suchtbedingte Persönlichkeitsveränderung, eine sexuelle Deviation mit ausgeprägten und längerfristigen Anpassungsstörungen, die, wie bereits erwähnt, zum Ausschluss oder aber auch nach § 21 StGB zur Minderung der Schuldunfähigkeit führen können (Kammeier, 2003: 26; Dörner et al, 2002: 343).

§ 21 StGB [Verminderte Schuldfähigkeit]

„Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden. “ (Tröndle & Fischer, 2003: 170)

Zusammenfassend kann deshalb gesagt werden, dass die vier persönlichen Tatbestandsmerkmale erst zusammen mit den psychologischen Merkmalen,

1) die Unfähigkeit oder erheblich geminderte Fähigkeit der Einsicht oder
2) die Unfähigkeit oder erheblich geminderte Fähigkeit zu einsichtsgemäßem Handeln,

die Voraussetzung der Schuldunfähigkeit (Schuldausschließung) oder verminderten Schuldunfähigkeit (Schuldminderung) bilden (Huber, 1999: 670).

In derartigen Fällen, wie in den §§ 20, 21 StGB beschrieben, hat das Gericht zu prüfen, ob von dem Beschuldigten aufgrund seiner Störung weitere Delikte zu erwarten sind. Für die Feststellung einer Maßregel ist stets gemäß § 246a StPO (Strafprozessordnung) ein Sachverständigengutachten erforderlich. Das Gericht muss dann eine Unterbringung in den Maßregelvollzug anordnen, wenn es davon ausgeht, dass die bisherigen und die für die Zukunft befürchteten Straftaten in einem engen Zusammenhang mit der Störung stehen und erheblich sind. Der Psychiater hat als Sachverständiger dabei die Aufgabe, nach bestem Vermögen bei der praktischen Rechtssprechung des Richters beratend zur Seite zu stehen. Er muss also die sich aus der gültigen Fassung der §§ 20, 21 StGB ergebenen Fragen beantworten. Das erstellte Gutachten muss demnach die Feststellungen enthalten, ob die persönlichen und psychologischen Voraussetzungen einer Schuldunfähigkeit erfüllt sind oder nicht.

Im Falle der Anwendung der §§ 20 oder 21 StGB können dann die Maßregeln der Besserung und Sicherung eintreten.

§ 63 StGB: [Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus]

„Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigkeit des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. “ (Tröndle & Fischer, 2003: 518)

Eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB erfolgt auch dann, wenn ein Therapieerfolg vorerst erfolglos bleiben wird (Dörner et al, 2002: 342). In seltenen Fällen kann die Vollstreckung der Maßregeln auch zur Bewährung ausgesetzt werden, wenn z.B. eine freiwillige Aufnahme im psychiatrischen Krankenhaus, eine Überwachung durch Angehörige oder eine Einleitung einer Psychotherapie gegeben ist, die die Gefährlichkeit beheben können (§ 67b StGB). Die Erwartung, dass die Vollstreckung der Maßregel gleichzeitig mit der Anordnung zur Bewährung ausgesetzt werden kann, erfordert jedoch nach Knahl eine geeignete ambulante und komplementäre Versorgung in der Umgebung des Wohnsitzes, bzw. des zukünftigen Wohnsitzes des Patienten (Knahl, 1997: 30). Darauf soll in Kapitel 2.3.2 hinsichtlich der Entlassungs­vorbereitungen noch konkreter eingegangen werden.

Die Maßregel gemäß § 63 StGB kann nach § 7 JGG (Jugendgerichtsgesetz) bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen auch bei straffällig gewordenen Jugendlichen und Heranwachsenden angeordnet werden. Da sich diese Studie jedoch auf Personen konzentriert, die nicht mehr unter das Jugendgerichtsgesetz fallen, soll deshalb auf eine weitere Umschreibung verzichtet werden.

2.1.2 Dauer und Beendigung der Maßregel

Anders als in der Allgemeinpsychiatrie wird sowohl über die Aufnahme als auch das Beenden einer stationären Behandlung von den zuständigen Justizvollzugsorganen entschieden. Im § 67e StGB ist geregelt, dass das Gericht in bestimmten Zeitabständen die Behandlungsfortschritte des Patienten überprüfen soll. Hierbei wird dann entschieden, ob der Maßregelvollzug noch fortgesetzt werden muss oder nicht. Bei einer Unterbringung nach § 63 StGB soll der Patient spätestens alle sechs Monate überprüft werden. An diesen Terminen können sich dann die Patienten hinsichtlich einer Entlassung orientieren, denn die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB ist zeitlich unbefristet (§ 67d StGB).

Im Normalfall wird die Maßregel nach erreichten Behandlungsfortschritten zur Bewährung ausgesetzt. Der Maßstab dieser Fortschritte ist jedoch nicht die psychische Erkrankung, sondern das zukünftige Legalverhalten des Patienten. Nur so kann davon ausgegangen werden, dass zukünftig keine Gefahren mehr für die Allgemeinheit bestehen. Das Ende dieser Maßregel ist an das Ende der Führungsaufsicht gebunden. Nach Knahl umfasst es einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren (Knahl, 1997: 31). In dieser Zeit wird dem entlassenen Patienten ein Bewährungshelfer zugeteilt, der ihm „helfend und betreuend“ zur Seite stehen soll (§ 68a Abs. 2 StGB). Wird in der Zeit der Führungsaufsicht die Gefahr erkennbar, dass der Entlassene scheitert und erneute Straftaten drohen, kann nach § 67g StGB die Aussetzung widerrufen werden. Treten jedoch keine Auffälligkeiten auf, gilt die Führungsaufsicht als abgeschlossen. Die Führungsaufsicht bietet den Maßregelkliniken die einzigartigen „Möglichkeiten, eine intensive Zusammenarbeit zwischen den Fachkräften des Maßregelvollzugs und den innerhalb der Führungsaufsicht tätigen Bewährungshelfer zu etablieren. “ (Rasch, 1986: 105)

Eine detaillierte Übersicht des Verfahrens im Zusammenhang mit der Unterbringung gemäß § 63 StGB ist der folgenden Seite zu entnehmen.

Abbildung 1: Gesetzliche Bestimmungen im Zusammenhang mit der Unterbringung nach § 63 StGB (Knahl, 1997: 33)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.1.3 Das niedersächsische Maßregelvollzugsgesetz

Die Anordnung und Beendigung der Maßregel ist in der Bundesrepublik Deutschland durch das Bundesrecht geregelt. Die Ausgestaltung dieser (Rahmen-)Gesetze liegt jedoch im Kompetenzbereich der Länder. Somit haben die Länder die Möglichkeit, den Maßregelvollzug mit eigenen Normen zu gestalten. Da sich diese Arbeit auf Patienten konzentriert, die in einer niedersächsischen Maßregelklinik behandelt worden sind, soll auch hier das Niedersächsische Maßregelvollzugsgesetz (Nds. MVollzG) dargestellt werden. Die bereits beschriebenen Grundsätze und Ziele einer Unterbringung im Maßregelvollzug werden auch im Maßregelvollzug Niedersachsens im § 2 des Nds. MVollzG auf ähnlicher Weise genannt. Hier werden die Straftäter nur aufgrund ihrer Behandlungsbedürftigkeit von Strafgefangenen unterschieden, so dass sich die Struktur des Nds. MVollzG weitestgehend an die des StVollzG lehnt. Jedoch wird im Nds. MVollzG größere Relevanz auf die Behandlung, Lockerung und Wiedereingliederung des Patienten gelegt (Kammeier, 2003: 30). Das Ziel des Nds. MVollzG ist, dass sich der Zustand des Patienten im psychiatrischen Krankenhaus bzw. in der Entziehungsanstalt verbessert und soweit wie möglich geheilt wird, so dass er keine Gefahr mehr für die Allgemeinheit ist. Der Vollzug der Maßregel soll dabei möglichst den allgemeinen Lebensverhältnissen angeglichen sein und den Untergebrachten durch die Förderung der familiären, sozialen und beruflichen Wiedereingliederung auf eine selbstständige Lebensführung vorbereiten. Weiter werden er und, falls vorhanden, seine gesetzlichen Vertreter über die Rechte und Pflichten der Maßregel unterrichtet (§ 2 Nds. MVollzG aus Volckart & Grünebaum, 2003: 428). Die wesentlichen Behandlungsbereiche des Nds. MVollzG, die sich auf die Wiedereingliederung und eine gesicherte Entlassungssituation forensischer Patienten beziehen, werden ab Kapitel 2.3 dieser Arbeit dargestellt.

2.2 Psychische Gesundheit - Psychische Krankheit

Wenn ein Mensch sich aufgrund psychischer Störungen andersartig verhält, kann er gesellschaftlich bzw. sozial isoliert werden. Dies kann Folgen für das Alltagsleben in Bezug auf Wohnung, Arbeit, Geld, Status, Freizeit- und Tagesgestaltung haben, so dass wiederum Einfluss auf das psychische Wohlbefinden ausgeübt wird, bzw. psychische Störungen hervorgerufen werden können. Insofern kann die psychische Gesundheit als eine „Fähigkeit zur Problemlösung und Gefühlsregulierung, durch die ein positives seelisches und körperliches Befinden - insbesondere ein positives Selbstwertgefühl - und ein unterstützendes Netzwerk sozialer Beziehungen erhalten oder wiederhergestellt wird, angesehen werden. “ (Badura et al, 1999 zitiert n. Mahler, 2004: 65)

Die Psyche steht in enger Verbindung mit der körperlichen Gesundheit. Auf Grund der soziopsychosomatischen Zusammenhänge können sie nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Sie stehen in einer Art Wechselspiel zueinander (Mahler, 2004: 65).

Das Hervorrufen psychischer Störungen wird dabei wie folgt definiert: „Psychische Störungen liegen dann vor, wenn die normale Funktionsweise der kognitiven und emotionalen Prozesse und des Verhaltens ernsthaft beeinträchtigt ist, so daß die betroffene Person darunter leidet und bei der Erreichung wichtiger Ziele behindert wird. Psychische Störungen führen, mit anderen Worten, zu einer subjektiven und objektiven Einschränkung der Lebensqualität. “ (Zimbardo & Gerrig, 1999: 602)

Epidemiologische Untersuchungen zeigen, dass mehr als 30% der Gesamtbevölkerung an einer psychischen Erkrankung leiden. Dabei trifft eine Behandlungsbedürftigkeit aufgrund seelischer Störungen und Erkrankungen bei etwa 25% der Bevölkerung zu (DGPPN, 1997: 14). Eine große Gruppe bilden die chronisch psychisch Kranken. Es lässt sich sagen, dass ein Drittel der Erkrankten mit einer einmaligen Krankheitsphase rechnen kann, bei einem weiteren Drittel kann die Erkrankung mittelfristig geheilt werden und bei dem letzten Drittel ist lebenslang mit erheblichen krankheitsbedingten Einbußen zu rechnen. Es handelt sich dabei um Erkrankungen wie Psychosen, Suchterkrankungen, Depressionen und um die Gruppe der psychiatrischen Altersklassen (Schädle, 1996: 295).

1975 wurde der „Bericht zur Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland“ (Psychiatrie-Enquête) veröffentlicht. Hierbei wird in der Präamble die Feststellung getroffen, dass „(...) die Probleme seelischer Gesundheit und Krankheit im öffentlichen Bewußtsein der Bundesrepublik um wenigstens ein Jahrzehnt verspätet wahrgenommen worden sind. “ (Deutscher Bundestag, 1975: 4)

Obwohl psychische Störungen in unserer Gesellschaft häufig auftreten, fällt es vielen Menschen schwer, eine psychische Krankheit zu akzeptieren. Nicht selten wird eine psychische Erkrankung für persönliches Versagen gehalten. „ Psychische Störungen sind immer auch Beziehungsstörungen, im Sinne der Störung oder der Andersartigkeit der Beziehung zu sich selbst, zu anderen Menschen und/oder zur seiner Umwelt. “ (Schmidt-Rüther, 1990: 126)

Die Folgen einer auftretenden Stigmatisierung des psychisch Kranken werden hierzu in Kapitel 2.4.1 erläutert.

Vetter unterteilt die seelische Krankheit nach drei Kriterien. Demnach ist eine Person seelisch krank, wenn

- Hilfe notwendig ist, da sie sich subjektiv krank fühlt und unter ihrem Verhalten leidet.
- sie gestörte Funktionen zeigt und diese ihr selbst unter Umständen nicht einsichtig sind, jedoch von anderen als solche wahrgenommen werden.
- sie Symptome aufzeigt, die als eine psychiatrische Erkrankung klassifiziert werden (Vetter, 2001: 7).

Rasch schlägt außerdem vor, bei der strafrechtlichen Begutachtung einen strukturell-sozialen Krankheitsbegriff zu verwenden: „Die Zuerkennung von Krankheit, die Auswirkung auf die Schuldfähigkeit haben kann, hängt davon ab, ob der zu beurteilende Zustand die Struktur von „Krankheit “ hat und ob er die allgemeine soziale Kompetenz der Persönlichkeit beeinträchtigt. “ (Rasch, 1986: 43)

In der forensischen Psychiatrie gehört die Persönlichkeitsstörung (nach ICD-10)[3] mit einem Anteil von 44% zu der am häufigsten gestellten Diagnose (Dörner et al, 2002: 349). Ein weitaus höherer Prozentsatz würde erreicht, wenn alle Erkrankten hinzugezählt würden, bei denen eine Persönlichkeitsstörung als Zweit- oder Drittdiagnose gestellt wurde (Stolpmann, 2001: 192). Insgesamt kann der Patientenkreis der forensischen Psychiatrie in drei Gruppen kategorisiert werden. Die größte Gruppe stellen die bereits erwähnten forensisch persönlichkeitsgestörten Patienten, deren Verweildauer im Vergleich zu den anderen Gruppen die längste ist. Personen mit psychotischen Erkrankungen bilden mit weniger als 40% die zweitgrößte Gruppe forensischer Patienten. Die mittlere Verweildauer liegt hier zwischen sechs und zehn Jahren. Die dritte Gruppe setzt sich aus neurotischen Störungsbildern, primären Suchterkrankungen mit Mehrfachdiagnosen sowie Anfallskranken zusammen und ist mit bis zu zehn Prozent vertreten (Dörner et al, 2002: 349). Nach Hax-Schoppenhorst & Schmidt-Quernheim leiden etwa 20% aller Patienten, die nach § 63 StGB untergebracht sind, neben der primär psychiatrischen Erkrankung unter einer Alkohol- oder Drogenproblematik. Dabei ist in 3,5% der Fälle die Abhängigkeit der Grund für die psychische Erkrankung und in 0,8% entstehen diese durch Folgeschäden der Suchterkrankung (Hax- Schoppenhorst & Schmidt-Quernheim, 2001: 45). Ein Zusammenhang zwischen der Verweildauer und der Schwere der Straftat kann allerdings nicht festgestellt werden (Knahl, 1997: 22).

Die Beeinträchtigungen unter denen ein Patient in der Maßregelklinik leidet, sollen nun im Folgenden dargestellt werden. Dabei wird auf eine konkrete Beschreibung der Krankheitsbilder Drogenabhängigkeit und Anfallsleiden verzichtet, da diese nur in geringen Anteilen in einer Maßregelklinik vorkommen.

Persönlichkeitsstörungen

In der Literatur sind eine Reihe von Hinweisen und Wortgebräuchen für eine Persönlichkeitsstörung zu finden. Beispiele dafür sind die Psychopathie, abnorme Persönlichkeit, psychopathische Persönlichkeit, dissoziale Persönlichkeit oder Soziopathie. Eine Persönlichkeitsstörung geht mit persönlichem Leiden und gestörter sozialer Funktionsfähigkeit einher. Des Weiteren entsteht sie früh im Verlauf der individuellen Entwicklung und ist Folge konstitutioneller Faktoren sowie ungünstiger sozialer Erfahrungen (Huber, 1999: 399). Sie werden beschrieben als „abnorme Persönlichkeitsvarianten (...) mit von der „Norm“ abweichenden seelischen Erlebnis- und Verhaltensweisen, die zu subjektivem Leiden und zu sozialen Schwierigkeiten führen. “ (Haffner & Meier, 1998: 139) Für eine Beurteilung einer solchen Abnormität müssen soziokulturelle, objektive und subjektive Kriterien gleichzeitig herangezogen werden, um bei einer abnormen Persönlichkeit Abweichungen von einer Durchschnittsbreite von Persönlichkeiten erkennbar zu machen. Allgemein lassen sich zur Feststellung einer Persönlichkeitsstörung gemäß ICD-10 folgende Voraussetzungen darstellen:

- Es besteht eine deutliche Unausgeglichenheit in Einstellungen und Verhaltensweisen.
- Das abnorme Verhaltensmuster ist andauernd und nicht nur episodisch. Zudem ist es mit deutlichen Einschränkungen der beruflichen und sozialen Leistungsfähigkeit gekoppelt, verbunden mit subjektivem Leid und/oder mit nachhaltigen Beeinträchtigungen der sozialen Anpassung.
- Das Verhalten ist tief greifend und in vielen persönlichen und sozialen Situationen eindeutig unpassend.
- Die Störungen beginnen immer bereits in der Kindheit und Jugend (Hax-Schoppenhorst & Schmidt-Quernheim, 2003: 71).

Nach Dörner et al liegt der Persönlichkeitsstörung jedoch keine einheitliche Konzeption zugrunde, vielmehr handelt es sich um einen Oberbegriff für eine heterogene Gruppe psychischer Störungen. Bei den Formen der Persönlichkeitsstörungen, wie die paranoide, schizoide oder depressive Persönlichkeitsstörung, lässt sich aufgrund ihrer Bezeichnung eine Herkunft aus der psychiatrischen Krankheitslehre erkennen (Dörner et al, 2002: 354). Merkmale dieser Patienten sind die fehlende Krankheitseinsicht und der fehlende Leidensdruck.

Typische Eigenschaften eines Persönlichkeitsgestörten sind:

- die geringe soziale und lebenspraktische Kompetenz,
- das Nicht-Einhalten bzw. Nicht-Akzeptieren von Grenzen und Regeln,
- die hohe Anspruchshaltung an andere, ohne Verantwortung für sich selbst oder für andere übernehmen zu können,
- Misstrauen und Argwohn,
- Distanziertheit in sozialen Beziehungen,
- starkes Unbehagen in nahen Beziehungen,
- Missachtung der Rechte anderer,
- Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen,
- Bedürfnis und Verlangen nach Aufmerksamkeit und Bewunderung,
- soziale Hemmung und ein anklammerndes Verhalten

(Sternberg & Stuckmann, 1999: 97; Saß et al, 1996 aus Hax-Schoppenhorst & Schmidt-Quernheim, 2003: 137).

Schaumburg erwähnt die drei am häufigsten auftretenden Formen der Persönlichkeitsstörungen im Maßregelvollzug. Dabei weist die Verfasserin dieser Arbeit darauf hin, dass die folgende Beschreibung über Beeinträchtigungen und Symptome nicht den Anspruch einer Vollständigkeit erheben soll:

- Die dissoziale Persönlichkeitsstörung

Diese Persönlichkeitsstörung zeichnet sich durch ein verantwortungsloses und antisoziales Verhalten aus. Der Betroffene will seine eigenen Bedürfnisse durchsetzen, ohne die Auswirkungen auf andere Menschen zu berücksichtigen. Personen mit einer solchen Störung haben eine stark egozentrische Persönlichkeit (krankhafte Ichbezogenheit) und einen Mangel an Schuldgefühlen. Des Weiteren sind sie schnell reizbar und frustriert und neigen zu aggressivem Verhalten. Hinzu kommen Unzuverlässigkeit und Bindungsschwäche.

- Die emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ:

Hierbei handelt es sich um eine ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung, die durch extreme Stimmungsschwankungen charakterisiert ist. Durch das provokative Verhalten der betroffenen Person kommt es zu ständigen Streitereien und Konflikten mit anderen. Hinzu kommen physische, selbstschädigende Handlungen bis hin zu Suiziddrohungen und -versuchen sowie ein unkontrolliertes Sexualverhalten und Drogen- und Alkoholmissbrauch.

- Die emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ:

Diese Persönlichkeitsstörung ist durch gefühlsmäßige Unausgeglichenheit charakterisiert. Die betroffene Person kann sich nur schwer kontrollieren, so dass gewalttätiges sowie bedrohliches Verhalten keine Seltenheit sind.

Hinsichtlich der persönlichkeitsgestörten Patienten in einer Maßregelklinik soll nicht unerwähnt bleiben, dass es zum einen Patienten gibt, bei denen ein sexuell abweichendes Verhalten zentral ist, und zum anderen solche, die intellektuelle Defizite aufweisen (Schaumburg, 2003: 70-71; Vetter, 2001: 63ff).

Psychosen

Unter den Psychosen versteht man allgemein alle psychischen Störungen, die Krankheitsfolgen sind, unabhängig von ihrem Ausprägungsgrad und den sozialen Auswirkungen (Huber, 1999: 33). Es gibt endogene und exogene Psychosen, wobei die Krankheitsursache einer Psychose nicht immer bekannt ist. Kraepelin (1856-1926) grenzt zwei Formen der endogenen Psychosen voneinander ab: die Schizophrenie sowie die Zyclothymie. Letzteres, die auch die Gruppe der Affektpsychosen genannt wird, zeichnet sich im Wesentlichen durch eine Störung im Gefühls- und Antriebsbereich aus. So kann entweder eine depressive Verstimmung mit gehemmten Antrieb oder eine manische Verstimmung mit gesteigertem Antrieb auftreten. Es gibt insgesamt drei phasenartige Erscheinungsformen der Zyclothymie: die einmalige oder wiederholte Depression, die einmalige oder wiederholte Manie oder ein bipolares Auftreten, d.h. ein Wechsel zwischen Depression und Manie (= manisch-depressive Psychose) (Vetter, 2001: 37-38).

Bei einer Schizophrenie handelt es sich um eine Erkrankung der Gesamtpersönlichkeit, die durch den Verlust der Einheitlichkeit des Erlebens und somit durch einen Verlust der Identität charakterisiert ist. Mittelpunkt der Schizophrenie ist, dass die Einheit der Person im Wechselspiel zwischen Seele, Körper und Umwelt auf das Schwerste gestört ist. Es kommt zu einer Depersonalisation, die sich dadurch äußert, dass psychische Regelungen oder körperliche Empfindungen vom eigenen Ich losgelöst werden. Ein Ich-Defekt ist die Folge, so dass durch wahnhaft-halluzinatorische Zustände beispielsweise ein Gefühl von „gehörten Stimmen“ und des „von-außen-beeinflusst-Werdens“ auftreten. Zusammengefasst neigen schizophrene Persönlichkeiten dazu, auf Belastungen überdurchschnittlich stark mit Spannung, Angst, Denkstörungen, Verwirrung, Derealisations- und Depersonalisationserlebnissen bis hin zu Wahn und Halluzinationen zu reagieren. Es gibt jedoch keinen Ausdruck und keine Haltung, die als typisch schizophren bezeichnet werden können, da jeder Schizophrenkranke seine eigene Schizophrenie lebt. Allerdings sind Störungen von Denken, Wahrnehmen und Affekten charakteristisch. Die paranoid-halluzinatorische ist neben anderen Untergruppen die häufigste Form der Schizophrenie (Dörner et al, 2002: 153ff; Vetter, 2001: 38ff).

Neurosen

Bei einer Neurose handelt es sich um rein psychoreaktive Entwicklungen, d.h. eine psychische Störung ohne jede nachweisbare organische Grundlage. Allgemein definiert stellen sie abnorme Verhaltens- und Erlebensreaktionen dar. Sie sind Störungen der Erlebnisverarbeitung mit Verdrängung und körperlichen sowie seelischen Folgeerscheinungen (Huber, 1999: 444). Die Abweichungen von der Norm sind dabei eher quantitativ, so dass die Übergänge zwischen gesundem und neurotischem Verhalten fließend sind. Seit 1991 verzichtet die WHO auf den Begriff der Neurose und ersetzt ihn in der ICD-10 durch die Beschreibung von Symptomen. Diese müssen über einen gewissen Zeitraum vorhanden sein. Beispiele für diese Symptome sind: ausgeprägte Angst, hysterische Symptome, Phobien, Zwangssymptome und Depressionen (Vetter, 2001: 90).

Zwischen der psychischen Krankheit bzw. Störung und dem gefährlichen Verhalten sind nach Stolpmann verschiedene Beziehungen möglich:

- „ Gefährliches Verhalten ist das Ergebnis (Symptom) einer psychischen Störung
- Gefährliches Verhalten tritt während einer psychischen Krankheit auf
- Gefährliches Verhalten ist ohne Bezug zu einer vorhandenen psychischen Störung “

Dabei werden die Gefährlichkeit und auch die Rückfälligkeit nicht nur durch die Persönlichkeit, sondern auch durch die psychosoziale Situation, die gesellschaftliche Einbindung und die sozialen und kognitiven Fähigkeiten des Patienten bestimmt (Stolpmann, 2001: 101). Die Straftaten setzen sich aus Eigentums- und Straßenverkehrsdelikte, Brandstiftungen, Körperverletzungen, aber auch Sexualverbrechen und Tötungsdelikten zusammen, die im Zustand einer akuten Erkrankungsphase begangen wurden. In einigen Fällen liegen eine oder mehrere schwerwiegende Straftaten vor. Bei anderen erfolgt eine Unterbringung aufgrund einer Verurteilung wegen mehrerer geringer Straftaten (Bauer, 2002: 134).

2.2.1 Psychiatrische Langzeitpatienten

In dem veröffentlichten Bericht der Psychiatrie-Enquête von 1975 werden die Patienten als Langzeitpatienten bezeichnet, die sich einerseits länger als zwei Jahre in stationärer Behandlung befinden und andererseits nicht mehr der besonderen Behandlungsform eines Krankenhauses bedürfen, sondern in einer anderen Umgebung betreut werden können (Deutscher Bundestag, 1975). Die durchschnittliche Verweildauer forensischer Patienten liegt bei ca. 4,6 Jahren, so dass ein Anteil von ca. zehn Prozent als so genannte Langzeitpatienten bzw. „long-stay-Patienten" zu bezeichnen ist (Bargfrede 1999: 64). Die Bezeichnung ist zum einen in der zeitlich unbegrenzten Behandlung und zum anderen in der ausgeprägt schweren Störung des Patienten begründet (Dimmek & Bargfrede, 1996: 12). Die Literatur weist eine Differenzierung zwischen „neuen“ und „alten“ Langzeitpatienten auf, die hier jedoch nicht weiter erläutert werden soll. Auffallend ist, dass mit dem Begriff Langzeitpatient nur der zeitliche Aspekt in der Unterbringung angesprochen wird. Es werden keine weiteren Aussagen zur Situation des Patienten vorgenommen. In diesem Zusammenhang verwendet Kitzig deshalb den Begriff des Chronikers, bzw. des „chronisch psychisch Kranken". Er weist darauf hin, dass „Chronische ... nicht verbliebener ruinierter Bestand vorhergegangener und deshalb auch „behandelbarer Episoden" betrachtetet werden dürfe. " (Kitzig, 1983 zitiert n. Eikelmann, 1997: 27)

Verbunden mit der biographischen institutionellen Karriere des chronisch psychisch Kranken wird das alltägliche Leben und Erleben des Betroffenen durch die Erkrankung beeinflusst und beeinträchtigt (Eikelmann, 1997: 28). Dabei lässt sich die Patientenkarriere definieren als ein „Prozess, den ein Individuum durchläuft, wenn es als (psychisch) krank definiert wird.“ Hier sind drei Phasen voneinander zu unterscheiden: die Phase vor, während und nach der Behandlung (Waller, 1982: 152). Hierzu soll das Kapitel 2.2.3 typische Karriereentwicklungen forensischer Patienten näher erläutern. Das folgende Kapitel 2.2.2 soll diesbezüglich auch den Aspekt des Hospitalismus darstellen.

2.2.2 Hospitalismus

Es gibt sieben wesentliche Aspekte, die sich während der stationären Unterbringung negativ auf den Patienten auswirken können. Diese im Folgenden beschriebenen „schädigenden Milieufaktoren“ sollen kurz vorgestellt werden: Demnach können sich fehlende Kontakte zur Außenwelt, eine erzwungene Untätigkeit, ein autoritäres Verhalten der Mitarbeiter, der Verlust von Freunden, persönlichem Besitz und Privatleben und mangelnde Zukunftsaussichten außerhalb der Anstalt sowie Aspekte der Medikamentengabe und der Anstaltsatmosphäre schädigend auf den Patienten auswirken (Barton, 1966 aus Schädle-Deininger & Villinger, 1996: 144-145). Durch einen langen Krankenhausaufenthalt kann es zu Hospitalismus kommen. Ausgelöst wird er durch die Absonderung von Mitmenschen - durch den langen Krankenhausaufenthalt - und das Verlernen alltäglicher Fertigkeiten - durch die lang anhaltende Pflege und Versorgung (Zimmermann, 1982: 60). Eine Folge dieses Phänomens ist, dass die am stärksten sozial benachteiligten Langzeitpatienten große Angst vor jeglicher Veränderung ihrer Lebenssituation haben und einer Enthospitalisierung misstrauisch gegenüber stehen. Analog für den Begriff Hospitalismus werden auch Begriffe wie „Anstaltsneurose“ oder „Institutionalismus“ verwendet (Dose, 1993 aus Saueracker, 1998: 8). Hospitalismus tritt insbesondere in dem von Goffman gewählten Begriff der „totalen Institution“ auf. Eine totale Institution ist eine soziale Einrichtung, in der Menschen von der übrigen Gesellschaft abgeschirmt unter deprivierenden Bedingungen leben. Beispiele dafür wären Einrichtungen wie Kasernen, Gefängnisse oder psychiatrische Anstalten (Goffman, 1977: 15ff). Zimmermann macht allerdings darauf aufmerksam, dass das Ausmaß der Isolation (bedingt durch den langen Aufenthalt in der Psychiatrie) immer in Wechselwirkung mit der Ausprägung der Persönlichkeit des Betroffenen (wie z. B. Introvertiertheit oder negative Selbsteinschätzung) gesehen werden muss. Er stellt ein theoretisch abgeleitetes Modell (Abbildung 2) auf, welches die Wechselwirkung zwischen der sozialen Isolation, seiner Einsamkeit und anderen Variablen darstellt. Hierzu macht das Kapitel 2.3.1 detaillierte Angaben (Zimmermann, 1982: 45).

2.2.3 „Krank und kriminell“ - Die Klientel des psychiatrischen Maßregelvollzugs

Der weibliche Anteil der Klientel in der Maßregelklinik ist verhältnismäßig gering, so dass bundesweit durchschnittlich nur etwa fünf Prozent an psychisch kranken Straftäterinnen aufgenommen werden (Schaumburg, 2003: 68). Diese werden entweder in Spezialstationen oder gemeinsam mit männlichen Patienten in der forensischen Psychiatrie untergebracht (Hax- Schoppenhorst & Schmidt-Quernheim, 2003: 45). Da sich diese vorliegende Studie jedoch ausschließlich mit männlichen Personen aus der Psychiatrie befasst, sollen relevante Aspekte hinsichtlich der Patientinnen außer Acht gelassen werden.

Das Alter der forensischen Patienten und Patientinnen liegt nach einer bundesweiten Erhebung zwischen 16 und 83 und einem Durchschnitt von 39,3 Jahren (Leygraf, 1988). Damit sind die Patienten im Maßregelvollzug durchschnittlich jünger als die nicht-delinquenten Patienten der allgemeinen Psychiatrie (Stolpmann, 2001: 56).

Über die Sozialisation forensischer Patienten lassen sich in der Literatur einstimmige Aussagen finden. Demnach gehören die Betroffenen größtenteils den unteren Gesellschaftsschichten an. Die soziale Randständigkeit ist im Vergleich zu den Patienten der allgemeinen Psychiatrie deutlich ausgeprägt. Der soziale Abstieg schreitet im Verlauf der weiteren Lebensgeschichte voran. Viele der Patienten kennen kein Leben außerhalb der Einrichtungen, da typische Karriereentwicklungen wie Aufenthalte im Kinderheim, Erziehungsheim, Jugendvollzug, Erwachsenenstrafanstalt und letztlich der Aufenthalt im Maßregelvollzug keine Einzelfälle sind. Schaumburg spricht von einer „Broken Home“-Situation, die durch unvollständige, überforderte, oft suchtbelasteten Familien oder Stiefelternteile gekennzeichnet ist (Schaumburg, 2003: 71). Hinzu kommen

Schulschwierigkeiten bis hin zu Schulabbrüchen und abgebrochenen Ausbildungen. Leygraf stellt fest, dass von knapp 2000 Patienten im Maßregelvollzug 14% Analphabeten waren. Über eine Berufsausbildung verfügen die wenigsten forensischen Patienten, so dass bei mehr als zwei Drittel ein Bedarf an beruflicher Aus- bzw. Weiterbildung besteht (Leygraf, 1988). Unzuverlässige zwischenmenschliche Beziehungen und emotionale Verwahrlosung, Anschluss an Cliquen mit negativem Einfluss sowie Suchtmittelmissbrauch sind ebenfalls charakteristisch für forensische Patienten.

Aufgrund dieser ungünstigen Ausgangslage ist es nicht verwunderlich, dass die meisten Patienten bereits vor ihrer Einweisung in die forensische Psychiatrie eine oder mehrere Haftstrafen verbüßt haben. Nur ein sehr geringer Anteil dieser Patienten hat zum ersten Mal Kontakt mit der forensischen Psychiatrie. Unter ihnen finden sich Langzeitpatienten der Allgemeinpsychiatrie oder so genannte „Drehtür-Patienten“ (Dörner et al, 2002: 350; Hax-Schoppenhorst & Schmidt-Quernheim, 2003: 44-45; Eikelmann 1997: 32). In einer Untersuchung von 1209 forensischen Patienten wurde festgestellt, dass 61,3% bereits vor der Einweisung nach § 63 StGB eine oder mehrere stationäre Behandlungen in einer allgemeinpsychiatrischen Einrichtung hatten. Davon waren 4,1% der Fälle noch vor dem zehnten Lebensjahr erstmalig in einer Psychiatrie untergebracht. Diese Einweisung wurde vom zuständigen Heim veranlasst, da es aufgrund der Verhaltensauffälligkeiten des Kindes zu Problemen in der Erziehung kam (Leygraf, 1988).

Die Angehörigen (Partner, Eltern, Geschwister) haben zum Patienten in der Zeit der stationären Behandlung nur wenig Kontakt. Dies ist zum einen durch den Rückzug der Angehörigen aufgrund negativer Presse- und Medienmitteilungen begründet und zum anderen dadurch, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Delikte im näheren Umfeld der Familie geschieht, wenn nicht sogar das Tatopfer selbst aus der Verwandtschaft kommt (Dörner et al, 2002: 359).

Die ungünstigen Verläufe in der Sozialisation, der oberflächliche Kontakt zu den Angehörigen sowie die klientelspezifischen Probleme können sich negativ auf die stationäre Behandlung bzw. Betreuung als auch auf die Nachsorge auswirken (Knahl, 1997: 18; Dörner et al, 2002: 360).

2.3 Die Behandlung und Therapie im Maßregelvollzug

Wie bereits erwähnt, hat aus rechtlicher Sichtweise der Maßregelvollzug grundsätzlich die Aufgabe der Besserung und Sicherung. Eine gute therapeutische Beziehung und Einbindung des Patienten in die Behandlung sind Voraussetzungen für eine Verbesserung des psychischen Zustandes des Patienten, so dass keine Gefährlichkeit mehr besteht und die Allgemeinheit gesichert und geschützt ist. Die Gefährlichkeit wird in diesem Zusammenhang vornehmlich als Risiko einer neuerlichen Delinquenz verstanden. Es ist allerdings nicht ausreichend, die Symptome soweit zu verbessern, dass eine Entlassung „gewagt“ werden kann. Die therapeutische Behandlung des Patienten muss deshalb so eingesetzt werden, dass eine erneute Straftat als Symptom der psychischen Erkrankung oder Störung nach einer Entlassung nicht zu erwarten ist (Dimmek & Bargfrede, 1996: 16). Aufgrund dessen nimmt die Deliktbearbeitung eine zentrale Stellung in der forensischen Psychiatrie ein und stellt einen Fokus in der Gesamtbehandlung des Patienten dar (Hax-Schoppenhorst & Schmidt­Quernheim, 2003: 167). Eine alleinige Konzentration auf die psychische Erkrankung und Störung des Patienten reicht jedoch nicht aus. Nach Auffassung der Maßregelkliniken soll der Patient auch lernen, mit seiner Erkrankung oder Störung umzugehen, um so ein in der Gemeinschaft integriertes Leben führen zu können. Deshalb werden während der stationären Behandlung für jeden Patienten Behandlungsziele definiert, so dass therapeutische Interventionsstrategien zur Erreichung dieser Ziele entwickelt werden. Die effektiven Konzepte zeichnen sich in der Behandlung durch die Berücksichtung der Prinzipien „ risk principle “ (Intensität der Behandlung ist vom Rückfallrisiko abhängig), „need principle“ (Ziel ist die Veränderung von kriminogenen Risikofaktoren) und „reponsivity principle“ (Orientierung hinsichtlich den spezifischen Lern- und Verarbeitungsweisen, Fähigkeiten und Vorerfahrungen) aus. Die Behandlung der forensischen Patienten erfordert nach Stolpmann die Integration eines breiteren Angebots an psychologischen, pädagogischen und sozialedukativen Maßnahmen als in der Allgemeinpsychiatrie (Stolpmann, 2001: 100). Unter Berücksichtigung des Alters, des Entwicklungsstandes und der Lebensverhältnisse des Patienten wird ein individuell angepasster Behandlungs- und Eingliederungsplan erstellt. Dieser soll mindestens im Abstand von sechs Monaten dem Patienten angepasst werden und die notwendigen Behandlungsmaßnahmen einschließlich medizinischer, pädagogischer, sozialer und beruflicher Maßnahmen zur Eingliederung enthalten (§ 7 Nds. MVollzG aus Volckart & Grünebaum, 2003: 430). Das Maßregelvollzugsgesetz der einzelnen Bundesländer soll dabei eine möglichst konkrete Bestimmung zu dem Therapieplan machen und folgende Punkte einschließen:

- der medizinische Behandlungsplan einschließlich der geplanten psychotherapeutischen Maßnahmen,
- die Zuweisung zu einer bestimmten Wohngruppe,
- die Teilnahme an Therapiegruppen und anderen besonderen Hilfs- und Behandlungsmaßnahmen,
- therapeutische Beschäftigung und Arbeit,
- Schule, berufliche Aus- und Fortbildung und Umschulung,
- die Förderung bestimmter Aktivitäten in der Freizeit,
- Förderung von Außenkontakten,
- Vollzugslockerungen und Urlaub,
- Verlegung in den offenen Vollzug (Volckart & Grünebaum, 2003: 193).

Nach Kistner beinhaltet jede psychiatrische Erkrankung immer einen Verlust an sozialer Beziehungsfähigkeit, so dass die Hauptaufgabe der psychiatrischen Pflege in der Beziehungsgestaltung zwischen Pflegeperson und Patient liegt (Kistner, 1994: 7). In diesem Zusammenhang soll auf die dargestellte Definition der psychischen Gesundheit bzw. Krankheit im Kapitel 2.2 hingewiesen werden. Auch Mahler verlangt wesentliche Aufgaben des psychiatrischen Handelns, so dass die Beziehungspflege im psychiatrischen Maßregelvollzug Möglichkeiten zur Förderung der psychischen Gesundheit bietet (Mahler, 2004: 68).

Hinsichtlich der Maßregel ist allerdings zu beachten, dass sich die Aufnahme einer gesunden Beziehung durch ordnungsrechtliche Aufgaben (wie Freiheitsentzug und Zwangsbehandlung) sowie durch die psychiatrische Erkrankung ausgelöste Beziehungsstörung schwierig gestalten kann. Deshalb ist es nicht nur ausreichend ein angenehmes zwischenmenschliches Klima zu schaffen, sondern in erster Linie problemlösend hinsichtlich der Verbesserung und Wiederherstellung einer gesunden Beziehungsfähigkeit zu handeln. Dabei muss die Beziehung zum Patienten auch Härten und Konflikte aushalten können, ohne dass sie abgebrochen wird, denn Abbrüche von Beziehungen hat der forensische Patient in seiner Sozialisation in ähnlicher Weise immer wieder erlebt. Eine professionelle Beziehungsgestaltung und -pflege in der Psychiatrie zeichnet sich demgegenüber durch Kontinuität aus (Kistner, 1994: 6-7). In dem Bereich der forensisch-psychiatrischen Pflege gibt es vor allem drei Aspekte, die die Aussage von Kistner unterstützen und des Weiteren die forensisch-psychiatrische Pflege von der allgemein psychiatrischen unterscheidet.

1. Das Delikt des Patienten, das als Symptom der Erkrankung gesehen werden kann, schafft zuerst eine emotionale Distanz und spielt sowohl bei der Kontaktaufnahme als auch bei der Beziehungsgestaltung eine zentrale Rolle.
2. Aufgrund der höheren Verweildauer in der forensischen Psychiatrie sind kurzfristige Erfolge kaum zu beobachten, sondern werden nur durch die Betrachtung eines längeren Zeitabschnitts möglich.
3. Das Pflegepersonal muss den Patienten zur Behandlung motivieren (Sternberg & Stuckmann, 1999: 99).

Da besonders forensisch persönlichkeitsgestörte Patienten als schwer therapierbar gelten, ist es vorerst schwierig, eine entwicklungsfördernde Beziehungskultur zu erarbeiten. Die Bezugspflege ist eine Möglichkeit der Beziehungsaufnahme zum Patienten und stellt ein wichtiges Element der Behandlung im Rahmen eines Wohngruppen- und auch Stufenkonzeptes dar (Hax-Schoppenhorst & Schmidt-Quernheim, 2003: 135). Bei diesen beiden Konzepten geht es um die Organisation der Behandlung auf Stationsebene. Sie unterscheiden sich darin, dass das Stufenkonzept den Patienten nach Behandlungsfortschritten durch einen Stationswechsel mit Beziehungsabbrüchen konfrontiert und das Wohngruppenkonzept durch eine Beziehungs- und Behandlungskontinuität charakterisiert ist (Hax-Schoppenhorst & Schmidt-Quernheim, 2003: 61). Die Bezugspflege im Maßregelvollzug ist allerdings nur dann effektiv, wenn zwischen der Pflegeperson und dem Patienten eine Vertrauensbasis besteht, so dass eine gegenseitige Akzeptanz auch hinsichtlich der Straftat notwendig ist. Die Pflegekraft ist hierbei ein kompetenter Ansprechpartner für den Patienten. Grundvoraussetzung für eine professionelle Bezugspflege ist ein homogenes Team, in dem sich die Mitarbeiter gegenseitig unterstützen und ergänzen (Prinz, 1998: 91). Demnach sind die Beziehungen des Patienten (einmal zu sich selbst, zu anderen Menschen und/oder zu seiner Umwelt) und die Gestaltung der Umgebung, der Lebensweise und des Alltages Gegenstand der psychiatrischen Pflege. Die psychiatrische Pflege kann deshalb als Beziehungspflege beschrieben werden und ist ein wesentlicher Bestandteil in der Therapie des Patienten (Schmidt-Rüther, 1990: 125ff). Aber auch die Bearbeitung der familiären Situation durch eine aufsuchende Angehörigenarbeit soll im Maßregelvollzug im Vordergrund stehen. Die Klinik muss deshalb aktiv die Kontaktaufnahme und -pflege zwischen Patient und Angehörigen fördern und begleiten, da unterstützende Angehörige entscheidend bei der Rehabilitation forensischer Patienten mitwirken (Dörner et al, 2002: 361).

Die Behandlung hinsichtlich der Erkrankungen stützt sich im Wesentlichen auf das Therapieverfahren in der allgemeinen klinischen Psychiatrie. Demnach werden unter anderem die Verfahren der Psychotherapie, Soziotherapie und Pharmakotherapie angewendet, die hier nur kurz beschrieben werden sollen. In der Psychotherapie sind tiefenpsychologische Gesprächsansätze und verhaltenstherapeutische Ansätze miteinander verknüpft. Die Soziotherapie ist bei Patienten mit Sozialisationsdefiziten wie auch bei Langzeitpatienten angebracht, um Institutionalisierungs- und Hospitalismussyndrome zu vermeiden (Stolpmann, 2001: 154). Nach Schaumburg ist sie der wichtigste Behandlungsbereich im Maßregelvollzug (Schaumburg, 2003: 88).

Aber auch Co-therapeutische Angebote haben in der forensischen Psychiatrie an Relevanz zugenommen. Nach Hax-Schoppenhorst & Schmidt-Quernheim handelt es sich dabei um pädagogische, kreativtherapeutische Maßnahmen wie Sport-, Musik- und Kunsttherapie, Schule und Ergotherapie (Beschäftigungs- und Arbeitstherapie). Um den Blick auf die Entlassungssituation forensischer Patienten zu richten sind diese neben der Soziotherapie darauf ausgerichtet, soziale Ausgliederung zu vermeiden und eine weitgehende berufliche und soziale Wiedereingliederung und damit Selbstständigkeit zu erreichen (Hax-Schoppenhorst & Schmidt­Quernheim, 2003: 88). Viele Patienten müssen nicht nur den Umgang mit regelmäßiger Arbeit (wieder-)erlernen, sondern auch den Umgang mit ihrer Freizeit. Deshalb „sei es nur realitätsgerecht, die Patienten auf eine spätere Situation der Arbeitslosigkeit vorzubereiten. “ (Rotthaus, 1978 zitiert n. Leygraf & Heinz, 1984: 53)

Die Einstellungen zur medikamentösen Behandlung sind bei den psychisch Kranken unterschiedlich ausgeprägt. Das Spektrum reicht von der unkritischen Einnahme aller verordneten Medikamente bis hin zur konsequenten Ablehnung. Bei vielen Patienten sind auch Wissenslücken über die Pharmakotherapie zu beobachten. In diesem Zusammenhang hat Townsend zwei psychiatrische Pflegediagnosen formuliert:

- „Noncompliance bei der medikamentösen Therapie in Verbindung mit Misstrauen gegenüber anderen,
- Wissensdefizit in Verbindung mit dem Einbezug der medikamentösen Behandlung in den Lebensstil. “ (Townsend 1998 aus Richter, 1999: 165)

Von Beginn an soll die Compliance[4] des Patienten als wichtiges Ziel in der medikamentösen Behandlung gesehen werden. Die Voraussetzung hierfür ist, dass dem Patienten ein Gefühl der Beteiligung an der Behandlung vermittelt wird. Der Patient soll dazu angehalten werden, sich selbstständig um seine Medikamenteneinnahme zu kümmern. Ziel dabei ist, dass der Patient in die Lage versetzt wird, die Medikamente einzunehmen und ihre Wirkungen und Nebenwirkungen im Sinne des therapeutischen Zieles zu beurteilen. Bei einer längerfristigen Medikamenteneinnahme sollte auch das soziale Umfeld des Patienten mit einbezogen werden (Richter, 1999: 65ff; Stolpmann, 2001: 165).

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass durch die psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten, die Bearbeitung der familiären Situation, die Organisation der Bereiche Wohnen, Arbeit und Beschäftigung (bis hin zur Strukturierung der Freizeit) und auch die Anbindung an Selbsthilfegruppen dem Patienten ein gemeinschaftliches Leben ermöglicht werden soll (Dimmek & Bargfrede, 1996).

Die Schwierigkeiten und Probleme, die während einer stationären Behandlung in einer Maßregelklinik auftreten können, sollen nun im Folgenden dargestellt werden.

2.3.1 Schwierigkeiten und Probleme während einer stationären Behandlung

Gerade zu Beginn der stationären Behandlung sind nur sehr wenige forensische Patienten bereit und fähig, freiwillig eine längere Behandlung zu beginnen und auch durchzuhalten, so dass die Behandlungsmotivation ein Problem darstellt. Die fehlende Motivation des Untergebrachten, sich auf eine Therapie einzulassen, ist durch die hohe Verweildauer und der damit verbundenen Perspektivlosigkeit begründet. Sie wird verstärkt durch die bereits erwähnten Merkmale der Persönlichkeitsstörung, nämlich die fehlende Krankheitseinsicht und das fehlende Unrechtsbewusstsein, also letztendlich durch einen fehlenden Leidensdruck. Die Unterbringung und die Anpassung an die Regeln der Maßregelklinik bedeuten zunächst eine Kränkung und Herabsetzung des Selbstwertgefühls des Patienten. Mit der Aufnahme verliert der Patient einen Großteil der Verfügungsgewalt über seinen Besitz und über seine eigene Person. Aber auch die soziale Ausgrenzung ist eine Kränkung und hat nicht selten eine Verunsicherung und Erschütterung der Identität zur Folge. Deshalb stellt der Motivationsprozess einen wichtigen Bestandteil in der Therapie des Patienten dar und muss als therapeutisches Problem gesehen werden (Dörner et al, 2002: 358; Hax-Schoppenhorst & Schmidt-Quernheim, 2003: 58; Schaumburg, 2003: 87; Stolpmann, 2001: 111-114). Dörner et al weisen zudem darauf hin, dass sich die Vollzugslockerungen nach den Behandlungsfortschritten des Patienten richten. Deshalb ist es durchaus möglich, dass der Patient stärker während der Behandlung motiviert ist, da er natürlich Vollzugslockerungen erhalten möchte (Dörner et al, 2002: 358).

Dadurch, dass der Aufenthalt in einer Maßregelklinik für viele forensische Patienten als zusätzliche Strafe erlebt wird, zeigen die Patienten Hoffnungslosigkeit, Mut- und Ratlosigkeit, undifferenzierbare Daueraggressivität oder totale und kritiklose Anpassung. In einem Erfahrungsbericht äußert ein ehemals forensischer Patient: „Vor allem braucht man, um hier zu überleben, auch Hoffnung. Und zwar auch eine insofern konkrete Hoffnung, als daß man durch sie immer wiederkehrende Tiefs überwinden kann. (...) mit der Dauer der Unterbringung wächst die innere Müdigkeit, mit der Müdigkeit die Hoffnungslosigkeit und Resignation. “ (Müller, 1984: 111)

Auch Entweichungen in Form von Gewaltausbrüchen oder Fluchtversuchen sind während eines Ausganges möglich. Hierbei können sorgfältige Prognosestellungen hinsichtlich der Sicherungsmaßnahmen und der Gewährung von Lockerungen Entweichungen vorbeugen, sie jedoch nie ganz ausschließen (Schaumburg, 2003: 106-107).

Eine weitere Schwierigkeit bei der Behandlung und letztendlich auch bei der Entlassung forensischer Patienten ist, dass sie aufgrund ihrer Verweildauer und dem Krankheitsbild ein erhebliches Defizit hinsichtlich der lebenspraktischen Fertigkeiten aufweisen. Der Wunsch des Patienten nach Ungebundenheit und Freiheit ändert sich mit der Verweildauer im Krankenhaus, denn je länger ein Patient im Krankenhaus ist, desto weniger wünscht er sich seine Entlassung (Wing und Brown, 1961 aus Saueracker, 1998: 8). Nach Freudenberg gerät ein Patient nach einem zweijährigen Aufenthalt in Abhängigkeit zum Krankenhaus, so dass sich die Dauer der stationären Behandlung und der Wunsch nach einer Entlassung tief in die Biographie eines forensischen Patienten eingraben, wie die folgende Untersuchung aus Großbritannien bestätigt (Freudenberg, 1962 aus Saueracker, 1998: 8; Dörner et al, 2002: 350). Hier wurden bei 905 psychiatrischen Langzeitpatienten unter anderem die Probleme der äußerst geringen Alltagskompetenz, Selbstgefährdung, Gewalttätigkeit, Angst, Depression, fehlende körperliche Gesundheit, Drogen- und Alkoholmissbrauch, sexuelle Aufdringlichkeit als auch die Neigung zur Verwahrlosung oder Selbstschädigung genannt, die gegen eine Entlassung aus der Psychiatrie sprechen (Lelliot et al 1994 zitiert n. Eikelmann, 1997: 33).

Auch der Kontaktverlust des Langzeitpatienten nimmt durch einen langjährigen Aufenthalt in der Psychiatrie zu und wird aufrechterhalten durch „die Absonderung hinter verschlossenen Türen und die nur widerwillig oder herablassend gewährte Beurlaubung, die oft durch komplizierte bürokratische Rituale zusätzlich erschwert wird. “ (Barton 1974 aus Zimmermann, 1982: 23)

Die resultierende soziale Isolation des psychisch Kranken in der Psychiatrie hat zur Folge, dass er

- „sich einsam fühlt,
- von der Pflege und Versorgung durch die Klinik abhängig wird,
- sich mit seiner Situation abfindet („ hospital world identity “) und
- den Wunsch, entlassen zu werden, nicht mehr äußert, bzw. sich gegen eine Entlassung sträubt. “ (Zimmermann, 1982: 61)

Basierend auf verschiedenen psychiatrischen Untersuchungsergebnissen leitet Zimmermann ein theoretisches Modell ab, welches die Wechselwirkung zwischen der sozialen Isolation des psychiatrischen Langzeitpatienten, seiner Einsamkeit und anderen Variablen verdeutlicht. Dieses Modell der „Bedingungen und Folgeerscheinungen sozialer Isolation bei hospitalisierten Psychiatrie-Patienten“ (Abbildung 2) ist der folgenden Seite zu entnehmen.

[...]


[1] Im Text wird zur sprachlichen Vereinfachung und damit zur besseren Lesbarkeit eine Geschlechtsform verwendet. Die weibliche Form ist ausdrücklich ebenfalls gemeint.

[2] Forensische Medizin: Gerichtsmedizin, Rechtsmedizin (Hoffmann-LaRoche, 1991: 598)

[3] ICD-10 = International Classification of Diseases

[4] Compliance (engl.) = Bereitschaft des Patienten, bei diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen mitzuwirken; „Therapietreue“ (Hoffmann-LaRoche, 1991: 325)

Fin de l'extrait de 126 pages

Résumé des informations

Titre
Die Entlassungssituation forensischer Patienten aus der Psychiatrie
Université
University of Applied Sciences Osnabrück
Note
1,70
Auteur
Année
2005
Pages
126
N° de catalogue
V88041
ISBN (ebook)
9783638023559
ISBN (Livre)
9783638924009
Taille d'un fichier
1651 KB
Langue
allemand
Mots clés
Entlassungssituation, Patienten, Psychiatrie
Citation du texte
Diplom Pflegewirtin (Fh) Michaela Kirchmeier (Auteur), 2005, Die Entlassungssituation forensischer Patienten aus der Psychiatrie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/88041

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