Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Migration - Eine begriffliche Erläuterung
3. Die Theorie der kulturellen Reproduktion nach Pierre Bourdieu
3.1. Habitustheorie
3.2. Sozialer Raum und Soziale Klasse
3.3. Soziale Felder
3.4. Kapital und Kapitalarten
4. Schule und Migration
4.1. Bildungsbenachteiligung durch Migrationshintergrund
4.2. Bildungsbenachteiligung durch Migrationshintergrund vor dem Hintergrund der Theorie der kulturellen Reproduktion nach Pierre Bourdieu
5. Fazit
6. Abbildungsverzeichnis:
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die im Jahre 2015 an ihrem Höhepunkt angelangte Flüchtlingswelle ist mittlerweile etwas abgeschwächt und man behauptet, dass viele neu eingewanderte Kinder im deutschen Schulsystem angekommen sind. Aber sind sie das wirklich? Für mich persönlich bedeutet der Begriff „angekommen“ in diesem Kontext, dass sie im schulischen Bereich keinerlei Benachteiligungen erfahren müssen und sich dementsprechend erfolgreich integrieren können. Die vorliegende Hausarbeit setzt sich mit dem Thema der Bildungsbenachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund auseinander. Ziel dieser Arbeit ist es zu klären, ob Kinder mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem benachteiligt sind und inwieweit ihre soziale Herkunft den individuellen Lern- und Bildungserfolg beeinflusst. Dabei beziehe ich mich auf die Theorie der kulturellen Reproduktion von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Nach der kurzen Einleitung beginnt die Arbeit im zweiten Kapitel mit einer Erläuterung des Begriffes „Migration“, wobei auch darauf eingegangen wird, welche Formen von Migration es gibt und wer in Deutschland als Migrant*in bezeichnet wird. In dem darauf folgenden Kapitel stelle ich die Theorie der kulturellen Reproduktion von Pierre Bourdieu vor, um mich im späteren Verlauf der Hausarbeit darauf stützen und Bildungsbenachteiligung von diesem Hintergrund betrachten zu können. Es beginnt mit einer kleinen Einleitung zu Pierre Bourdieu selbst und seinem Verständnis der Soziologie. Danach erläutere ich die wesentlichen Begriffe seiner Theorie: Habitus, sozialer Raum und Klasse, soziale Felder und Kapitalarten. Darauf folgt im vierten Kapitel eine allgemeine Erläuterung der Bildungsbenachteiligung durch einen Migrationshintergrund, die in einem weiteren Unterpunkt mit Betrachtung der Theorie der kulturellen Reproduktion unterstützt wird. Die Arbeit endet mit einem Fazit, welches die allgemeine Fragestellung, ob Kinder mit Migrationshintergrund aufgrund ihrer sozialen Herkunft im deutschen Bildungssystem benachteiligt sind, versucht zu beantworten.
2. Migration - Eine begriffliche Erläuterung
„Wir leben in einer Migrationsgesellschaft“ (Hummerich/Terstegen 2020, S.1). Unsere gesellschaftliche Realität ist durch eine migrationsbedingte Diversität gekennzeichnet. Jeden Tag begegnen, verbringen und leben wir zusammen mit Menschen, die einen sogenannten „Migrationshintergrund“ besitzen. Oftmals ohne, dass wir es überhaupt bewusst wahrnehmen. Der Begriff „Migration“ stammt von dem lateinischen Wort „migare“, was wörtlich übersetzt so viel wie „Wanderung“ bedeutet. Heutzutage wird jedoch eher seltener von einer Wanderung der Migrant*innen, als von einer ortsverändernden Migration zur Verbesserung persönlicher Lebensverhältnisse, gesprochen (vgl. Hummerich/Terstegen 2020, S. 1). Hierbei unterscheidet man zwischen der Binnenmigration, welche innerhalb eines Landes erfolgt, und der internationalen Migration, welche über Landesgrenzen hinausgeht. Dies ist kein nur eindimensionaler Prozess des Aufbrechens und Ankommens, denn viele Menschen verlassen den Ort, an dem sie einmal angekommen waren und machen ihn zu einem Ort, von dem sie erneut aufbrechen. So gesehen findet ein permanentes Überschreiten von Grenzen statt. Die Entscheidung der Menschen, die einen Ortswechsel anstreben, kann unterschiedliche und vielfältige Ursachen haben, bei denen kein Ursachen-Wirkungs-Zusammenhang, also keine Kausalität, besteht. In den meisten Fällen soll der Ortswechsel der Verbesserung der persönlichen Lebensbedingungen dienen. Dies hat nicht immer nur individuelle Beweggründe, sondern oftmals auch politische und wirtschaftliche. In vielen Zusammenhängen kann von einer Fluchtbewegung gesprochen werden, bei der Menschen vor lebensbedrohlichen Umständen, aus existenzieller Bedrohung, mit der Aussicht auf eine bessere Arbeitsstelle oder gar aufgrund von Vertreibung, fliehen. Dabei gibt es die so genannten „push“ (dt. wegdrücken) Faktoren, wie zum Beispiel politische und ökonomische Krisen, umweltbedingte Desaster und schlechte Lebensverhältnisse, und „pull“ (dt. anziehen) Faktoren, wie zum Beispiel ein höherer Lebensstandard, soziale Sicherheit und Arbeitskräftebedarf im angestrebten Ankunftsland. Eine umfassende Definition mit Berücksichtigung des biografischen Kontextes von Migranten*innen und gleichzeitig der Veränderung von Gesellschaft durch Migration, hat die Soziologin Annette Treibel wie folgt zusammengefasst: Bei der Migration handelt es sich um „gravierende soziale Einschnitte. 1. Für die betroffenen Individuen, deren Orientierungen, Verhaltensweisen und sozialen Kontexte; 2: für die betroffenen Gruppen, zu denen der/die Wandernde a) gehört hat, b) aktuell gehört bzw. sich zugehörig fühlt, c) und auf die er/sie bei der Ankunft stößt; 3. für die aufnehmende und abgebende Gesellschaft (bzw. deren soziale und ökonomische Strukturen)“ (Treibel 1999, S.13). Sie betont, dass es für Migrant*innen ein biografisch bedeutsamer Prozess sein kann, bei dem sie sich aufgrund von neuen Erfahrungen in bisher unbekannten Umgebungen auch selber verändern. Für die Gesellschaft, aus der die Migrierenden auswandern, durch die sie durchwandern und in die sie einwandern bedeutet es aber auch, dass ihre Strukturen verändert werden bzw., dass es Veränderungen von Seiten der Gesellschaft bedarf, um der neuen Situation gerecht werden zu können. Oftmals wird die Veränderung der Gesellschaft, in der die Migranten*innen ankommen, durch die Sprachvielfalt in der Institution Schule deutlich. Von einem Menschen mit Migrationshintergrund wird gesprochen, wenn mindestens eines von drei der folgenden Merkmale erfüllt ist: 1. Nicht-deutsche Staatsangehörigkeit, 2. Nicht-deutsches Geburtsland, 3. Nicht-deutsche Verkehrssprache in der Familie (vgl. Hummerich/Terstegen 2020, S.9). Da ich mich im weiteren Verlauf meiner Arbeit auf die Bildungsbenachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund beziehen möchte, ziehe ich zusätzlich die Erläuterung dieses Begriffes aus Sicht der OECD (Organization for Economic Cooperation and Development), die zuständig für die Durchführung der PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) sind, heran. Schüler*innen ohne Migrationshintergrund sind Kinder, von denen zumindest eins, oder auch beide, der Elternteile in dem Land geboren sind, in dem sie am PISA-Test teilnehmen. Dabei spielt keine Rolle, ob die Schüler*innen selber in diesem Land geboren sind. Schüler*innen mit Migrationshintergrund sind Kinder, deren Elternteile beide in einem anderen Land geboren sind, als dem Land, in dem sie am PISA-Test teilnehmen. Hierbei wird erneut zwischen Schülern*innen der ersten und Schülern*innen der zweiten Zuwanderungsgeneration unterschieden. Schüler*innen der ersten Zuwanderungsgeneration sind im Ausland geborene Kinder, deren Eltern ebenfalls im Ausland geboren sind. Dahingegen sind Schüler*innen der zweiten Zuwanderungsgeneration selber im Land der Datenerhebung geboren, deren Eltern jedoch im Ausland (vgl. Cattaneo/Wolter 2015, S.5).
3. Die Theorie der kulturellen Reproduktion nach Pierre Bourdieu
Pierre Bourdieu (* 1930 in Denguin, † 2002 in Paris), ursprünglich forschender Ethnologe und Soziologe, später auch Philosoph und politisch engagierter Intellektueller, erforschte das französische Bildungssystem und dessen Rolle bei der Reproduktion gesellschaftlicher Klassenverhältnisse. Die Vielfalt seiner wissenschaftlichen und intellektuellen Betätigungsfelder machen seine Arbeiten nicht nur für die Soziologie, sondern auch für die Geschichte, Philosophie, Erziehungs- und Literaturwissenschaft interessant. "Der Ausgangspunkt seiner Soziologie ist ein konstruktivistischer, der den Bruch mit den Primärerfahrungen der "Spontansoziologie" vollzieht, dieser Bruch jedoch in einem zweiten Schritt durch die "Rehabilitierung" der Primärerfahrung sozialer Akteure relativiert." (Schwingel 2011, S.57). In anderen Worten, auf eine Revision mit Erfahrungen, die im direkten Kontakt mit Menschen im unmittelbaren Umfeld gemacht werden, folgt die autorisierte Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis und die Wiederherstellung eines Gleichgewichts. Aus seinen über die Jahre hinweg gewonnenen Erkenntnissen entwickelte Pierre Bourdieu die Theorie der kulturellen Reproduktion, die sich mit den Strukturen sozialer Relation und den Prozessen gesellschaftlicher Reproduktion innerhalb sozialer Felder beschäftigt. Dabei geht es um vor allem um die Erklärung nicht individueller, sondern gesellschaftlicher- bzw. klassenspezifischer Praxisformen (vgl. Schwingel 2011, S.71). Der kulturtheoretische Ansatz weist auf die verborgenen Mechanismen in der Schule hin, die dafür sorgen können, dass der in dem Herkunftsmilieu erworbene Habitus in der Schule zu Fremdheitserfahrungen führen kann (vgl. Soremski 2019, S 17). Ziel seiner Arbeit ist die Erklärung sozialer Ungleichheiten aufgrund von sozialer Herkunft, die Einfluss auf den schulischen Erfolg haben und damit verbunden das Erstreben einer Reformation zum Abbau sozialer Ungleichheit. Die zentralen Begriffe seiner Theorie sind Habitustheorie, sozialer Raum und soziale Klasse, soziale Felder, Kapital und Kapitalarten. Sie stehen in einer relationalen, also sich wechselseitig ergänzenden, Beziehung zueinander und sind, Mittel zum Zweck der empirischen Untersuchung sozialer Wirklichkeiten. Erst wenn sie zusammengeführt werden ermöglichen sie eine umfassende soziologische Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
3.1. Habitustheorie
Pierre Bourdieus Habituskonzept ist in all seinen ethnologischen und soziologischen Untersuchungen präsent. Die Habitustheorie ist grundsätzlich ein relativ offenes Konzept, welches je nach Forschungs- und Argumentationszusammenhang unterschiedliche Schwerpunkte haben kann. Einer der wesentlichen Gegenstände der Theorie ist die konstitutionstheoretische Problematik, wie soziale Praxis zustande kommt. Ausgehend davon stellt sich die Frage, wie Akteure diese gesellschaftliche Praxis, in der sie und ihr Habitus involviert sind, wahrnehmen, erfahren und erkennen (vgl. Schwingel 2011, S.60). Das Erkenntnisinteresse der Theorie ist auf makroskopische Phänomene gesellschaftlicher Reproduktion gerichtet. Dementsprechend wird, wenn man von der Habitustheorie spricht, von einer praktischen Erkenntnis der sozialen Welt gesprochen. Es ist ein System beständiger Dispositionen, in dem Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata kooperieren, das zur Veränderung des Habitus führen kann. Der Habitus ist das zentrale Konzept zur Erklärung der Genese von Praxisformen. In ihm findet die Verinnerlichung externer sozialer Strukturen statt und es vereinen sich kognitive, evaluative und motorische Schemata zu einem Erzeugungsprinzip sozialer Praxisformen. Er ist Produkt einer Geschichte und kann demnach als zum „Leib gewordene Geschichte“ beschrieben werden, der sich jedoch in einem ständigen und unaufhörlichen Wandel befindet. Habituelle Dispositionen sind im Körper verankert und das, was der Habitus einmal gelernt hat, das behält er bei. Allgemein „definiert Bourdieu Habitusformen als Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierter Strukturen, die geeignet sind, sie als strukturierende zu wirken, mit anderen Worten als Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen“ (Schwingel 2011, S.61). Hauptmerkmal des Habitus sind die Dispositionssysteme sozialer Akteure. Akteure sind mit systematisch strukturierten Anlagen ausgestattet und dessen Habitus ist bereits gesellschaftlich prädeterminiert. Diese Prädetermination beeinflusst gegenwärtige und zukünftige Handlungen. Mit anderen Worten, der Habitus eines individuellen Akteurs ist nicht aufgrund von angeborenen Anlagen, sondern durch erworbene Erfahrungen gesellschaftlich bedingt. Dabei spielen drei Schemata, die miteinander verflochten sind und zusammen wirken, eine entscheidende Rolle: 1. Wahrnehmungsschemata: das Strukturieren alltäglicher Wahrnehmungen der sozialen Welt; 2. Denkschemata: Alltagstheorien und Klassifikationsmuster, mit deren Hilfe die Akteure die soziale Welt interpretieren und kognitiv ordnen können; Ethische Normen, zur Beurteilung gesellschaftlicher Handlungen; und Ästhetische Maßstäbe zur Bewertung kultureller Objekte und Praktiken (Geschmack); 3. Handlungsschemata: bringen individuelle und kollektive Praktiken der Akteure hervor (vgl. Schwingel 2011 S. 65). Die vorgestellten Schemata erreichen gewöhnlich nicht die Ebene des Bewusstseins. Grundlage dessen ist ein Orientierungssinn, der einerseits hilft, sich innerhalb der sozialen Welt zurecht zu finden, und andererseits zur Hervorbringung der angemessenen Praktiken beiträgt. Der Habitus besteht, wie zu Beginn erläutert, aus Anlagen, Gewohnheiten, Haltungen, Erscheinungsbildern, Lebensweisen, etc. und ist somit auch Ausdruck sozialer Ungleichheit. Denn, das Aufwachsen in einer bestimmten Klasse prägt den Habitus und somit auch das gesamte Leben. Das heißt, der Habitus ist durch die spezifische Stellung, die ein Akteur innerhalb der Gesellschaft hat, sozialstrukturell bedingt und formt sich im Zuge der Verinnerlichung der äußeren gesellschaftlichen Bedingungen. Somit sind auch die Grenzen seines Wahrnehmens, Denkens und Handelns durch objektiv vorgegebene materielle und kulturelle Existenzbedingungen des Akteurs bestimmt. Diese angesprochenen ökonomisch und kulturell Verfügbaren Ressourcen (siehe Kapitel 3.4.) und Bedingungen legen die Handlungs- und Erfahrungsgrenzen fest und beeinflussen somit auch die praktischen Wahrnehmungen und Erfahrungen des Habitus in der sozialen Welt. Der Habitus ist in seiner inneren Struktur sehr stabil und kann nur durch hartes Training verändert werden. Das Handeln eines Akteurs im sozialen Raum ist von dessen Position im sozialen Raum bestimmt. Die Verbindung zwischen Position und Handeln ist der Habitus: Ein System verinnerlichter Muster die Wahrnehmung und Handeln bestimmen. „Durch transformierende Verinnerlichung der äußeren materiellen und kulturellen Existenzbedingungen entstanden, stellt der Habitus ein dauerhaft wirksames Handlungsschemata dar, das sowohl den Praxisformen sozialer Akteure als auch den mit dieser Praxis verbundenen alltäglichen Wahrnehmung konstitutiv zugrunde liegt" (Schwingel 2011, S.73). Das System dauerhafter Dispositionen, die einen Sinn für die eigene soziale Stellung beinhalten geben dem Habitus ein Gespür dafür, was man sich erlauben darf oder nicht. Demnach bestimmt er die Art und Weise der Ausführung von Praktiken und nicht die Inhalte der Praxis selbst. Abschließend möchte ich anmerken, dass unter den modernen Bedingungen der Ausdifferenzierung relativ autonomer Felder, der Andersartigkeit sozialer Klassen und der damit verbundenen Dynamik des sozialen Wandels, die Wahrscheinlichkeit größer geworden ist, dass ein Habitus unter neuen Verhältnissen zur Anwendung kommt, die sich von denen seiner ursprünglichen Genese unterscheiden.
3.2. Sozialer Raum und Soziale Klasse
Das Modell des sozialen Raumes und der sozialen Klasse steht in dem soziologischen Diskussionszusammenhang der theoretischen Konzeptualisierung und empirischen Analyse sozialer Ungleichheitsverhältnisse. Der soziale Raum ist ein Ort objektiver sozialer Positionen, welche sich korrelativ zueinander definieren. In anderen Worten, jeder Mensch bewegt sich innerhalb dieses sogenannten sozialen Raumes, wobei die individuelle soziale Position in Relation zu der sozialen Position anderer Gesellschaftsmitglieder steht. Als Vermittlungsglied zwischen der Stellung innerhalb des sozialen Raumes und spezifischen Praktiken fungiert der Habitus (vgl. Bourdieu 2015, S. 34). Die folgende zweidimensionale Abbildung des Raum-Modelles dient der Veranschaulichung unterschiedlicher sozialer Positionen anhand der Kriterien Kapitalvolumen (y-Achse) und Kapitalstruktur (x-Achse). Das Kapitalvolumen meint den Umfang an kulturellem, ökonomischem und sozialem Kapital und die Kapitalstruktur betrifft das relative Verhältnis der Kapitalarten zueinander, wobei die Frage im Mittelpunkt steht, ob überwiegend ökonomisches oder vornehmlich kulturelles Kapital vorhanden ist. Anhand dieser beiden Kriterien können nun die unterschiedlichen sozialen Positionen im Raum verortet werden.
Abbildung 1: Raum-Modell nach Pierre Bourdieu
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Diese im Modell dargestellten sozialen Positionen, erfasst durch die jeweilige ökonomische, kulturelle und soziale Bedingungslage einer erfassten Gruppe von Akteuren, lassen sich in drei soziale Klassen (theoretische, konstruierte Klassen, die objektiv vom Wissenschaftler aus Beobachtungsperspektive unter Zugrundelegung eines Klassifikationsschemas konstruiert werden), zusammenfassen: 1. Herrschende Klasse: Über ökonomisches Kapital herrschenden Herrschenden (Unternehmer) und über Kulturkapital verfügenden beherrschten Herrschenden (Intellektuellen); 2. Mittelklasse/Kleinbürgertum: Fraktion des Absteigenden, exekutiven und neuen Kleinbürgertums, bei denen der Mobilitätsprozesse innerhalb des Sozialraums am ausgeprägtesten sind; 3. Klasse der Beherrschten: auch als Volksklasse bezeichnet (vgl. Schwingel 2011, S.110 f.). Innerhalb des Sozialen Raum-Modelles gibt es zwei eigenständige Subräume, welche auch in Korrelation zueinander stehen: 1. Raum der sozialen Positionen und 2. Raum der Lebensstile, womit die Merkmale der Lebensführung, die sich nicht nur aus der objektiven Verfügung über ökonomische und kulturelle Ressourcen, sondern ebenso aus den gruppen- und klassenspezifischen Wahrnehmungen zusammensetzen, gemeint sind. Mit Hilfe dieser können den jeweiligen sozialen Positionen typische Praktiken und Objekte der Lebensführung zugeordnet werden, die die repräsentierte soziale Welt darstellen. In diesem Zusammenhang erwähnt Bourdieu auch den Begriff der sozialen Laufbahn, womit er lediglich den Sachverhalt meint, ob eine bestimmte soziale Klasse sich innerhalb des sozialen Raumes in einem eher relativem sozialen Aufstieg oder Abstieg befindet, oder ob ihre Position während des Untersuchungszeitraumes konstant geblieben ist. Zusätzlich erwähnt er die symbolische Macht, die allgemein dargestellt eine ökonomische, politische, kulturelle oder sonstige Macht ist, die in der Lage ist, sich Anerkennung zu verschaffen. Durch die Vermittlung des Habitus zwischen dem sozialen Raum und dem individuellen Akteur entsteht eine Homologie, also eine Übereinstimmung des Handelns mit der Vernunft. Diese kommt in erster Linie durch die in ihm angelegten Klassifikations-, Bewertungs- und Handlungsschemata, die als Erzeugungsformel einem Lebensstil zugrunde liegen, zustande. Letztendlich ist der Habitus selbst dafür verantwortlich, welcher Lebensstil realisiert wird, da er abwägt, welcher mit den gesellschaftlichen Existenzbedingungen vereinbar ist. Zusammenfassend, eine soziale Klasse ist in dreierlei Hinsicht theoretisch definiert wird. Zunächst durch objektive - ökonomische, kulturelle, soziale, laufbahnspezifische – Lebensbedingungen, dann durch ihre aus der Inkorporation dieser Existenzbedingungen hervorgegangenen Habitusformen und zuletzt durch ihre spezifischen Lebensstile. Dabei resultiert die Distinktion, die den Lebensstil einer Klasse positiv oder negativ auszeichnet, aus dessen differenzieller Beziehung zu den Lebensstilen der übrigen Klassen.
3.3. Soziale Felder
Unsere Gesellschaft besteht aus unzähligen differenzierten sozialen Feldern. Die vom Habitus generierte Praxis findet in einem Feld, einem Praxisfeld, welches ein intelligibler Ort sozialer Praxisformen ist, statt. Nicht nur die verinnerlichten Grenzen des Habitus, sondern auch die Strukturverhältnisse der Felder führen dazu, dass die Praxismöglichkeiten sozialer Akteure eingeschränkt sind. Das Feld befindet sich in einem stetigen Wandel bezogen auf die Struktur des Feldes, also der Verteilung des Kapitals zwischen den verschiedenen Akteuren, den Kapitalbesitzern, und den feldspezifischen Spielregeln und deren Legitimität. Verschiedene soziale Felder sind durch ihre spezifischen Spielräume (autonome Sphären), die jeweiligen feldspezifischen Spielregeln und ihre Einsätze, in Form von Kapitalarten, definiert. Die soziale Praxis innerhalb der verschiedenen Felder ist bedingt durch die Verfügungsgewalt über spezifische Ressourcen, wie zum Beispiel dem Kapital. Das Feld und das Kapital definieren sich wechselseitig und gehören notwendig zusammen, da die Kapitalarten das theoretische Kriterium zur Differenzierung der spezifischen Felder darstellen. Die Praktische Verfügung über die entsprechende Sorte an Kapital, welche man als akkumulierte Arbeit charakterisieren kann, bedingt die Handlungs- und Profitchancen, die ein Akteur innerhalb eines spezifischen sozialen Feldes hat. Die Kapitalformen gelten als Einsätze, die in den sozialen Feldern "auf dem Spiel stehen" und um die sich die Akteure folglich streiten. Die Akteure sind innerhalb der Felder nicht unbedingt gleichermaßen engagiert. Für die Dynamik innerhalb des Feldes ist der Kampf zwischen den Herrschenden und den Anwärtern auf die Herrschaft verantwortlich. Hierbei unterscheidet man zwei Strategietypen: 1. Erhaltungsstrategie, die von etablierten Akteuren innerhalb des Feldes angewandt wird, um die herrschende Position aufrecht zu erhalten, und 2. der Strategie der Häresie, dessen Infragestellung der etablierten Ordnung das Ziel der Eroberung der herrschenden Position verfolgt. Wenn die Zugehörigkeit zu einem sozialen Feld nicht angeboren ist, so muss diese erst erworben werden. Voraussetzung dafür ist sowohl das Interesse an dem jeweiligen Feld und eine affektiv-motivationale Bindung, die die Gegner innerhalb des Spielraums auf gleiche Weise vereint. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass innerhalb sozialer Felder ein permanenter Kampf um die Aneignung und Bewahrung von Kapitalressourcen und um die Definition der in den sozialen Auseinandersetzungen relevanten Einsätze und Gewinnmöglichkeiten, herrscht (vgl. Schwingel 2011, S.102).
3.4. Kapital und Kapitalarten
Wie bereits in den vorherigen Kapiteln angedeutet, sind ein weiterer Hauptbestandteil der kulturellen Reproduktion nach Pierre Bourdieu der Begriff des Kapitals bzw. die verschiedenen Kapitalarten, bei denen es sich um eigenständige Formen von Ressourcen handelt. Das Kapital ist akkumulierte Arbeit, die viel Zeit in Anspruch nimmt. Es kann in drei verschiedenen, grundlegenden Arten auftreten. In welcher dieser drei Gestalten es erscheint, hängt von dem jeweiligen Anwendungsbereich sowie den Transformationskosten ab, die Voraussetzung für sein wirksames Auftreten sind (vgl. Bourdieu 2015, S. 52). Das ökonomische Kapital, welches unmittelbar in Geld konvertierbar und von Person zu Person übertragbar ist, stellt die Gesamtheit der physischen Güter, des materiellen und des finanziellen Vermögens dar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in der Form des Eigentumsrechts. Es reduziert die Gesamtheit der gesellschaftlichen Austauschverhältnisse auf den bloßen Warenaustausch, welcher vom Eigennutz geleitet ist. Das kulturelle Kapital nach Pierre Bourdieu besitzt eine kulturelle Eigenlogik, die ihren Schwerpunkt im spezifischen Interesse an der Kultur legt. Es ist unter bestimmten Voraussetzungen in ökonomisches Kapital konvertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisierung in Form von schulischen Titeln (vgl. Bourdieu 2015, S. 53). Entwickelt wurde es, um die ungleichen Schulleistungen von Kindern aus verschiedenen Klassen begreifen zu können (vgl. Bourdieu/Steinrück 2006, S. 112). Auftreten kann das kulturelle Kapital in drei verschiedenen Formen, die sich nicht gegenseitig ausschließen: 1. Inkorporiertes kulturelles Kapital: sind schwer mess- und nicht übertragbare kulturelle Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensformen, die man erwerben kann. Die verinnerlichten und dauerhaften Dispositionen des Habitus, also die einer Person inne liegenden Fähigkeiten und Kenntnisse, sind Körper- bzw. Personengebunden und müssen durch den Akteur persönlich angeeignet werden. Die wertvolle Währung für diese Aneignung ist Zeit, die zum Lernen kultureller Fähigkeiten notwendig ist und vom Akteur selbstständig und persönlich investiert werden muss. Dennoch muss angemerkt werden, dass die familiale Primärerziehung einen entscheidenden Einfluss auf die Ausbildung des kulturellen Kapitals hat. Die als kulturelles Kapital verinnerlichten Kompetenzen stellen einen festen Bestandteil der Dispositionen des Habitus dar. 2. Objektiviertes kulturelles Kapital: ist ein objektiver Zustand, der den Besitz kultureller Güter beschreibt, die direkt von Person zu Person übertragen werden können. Zum Beispiel: von Gemälden, Kunst, Büchern, Instrumenten etc.. 3. Institutionalisiertes kulturelles Kapital: beschreibt die Institutionalisierung in Form von Bildungstiteln, also Berufs-, Schul- oder Hochschulabschlüssen. Es findet eine Transformation des inkorporierten kulturellen Kapitals in zertifizierte Bildungsabschlüsse statt (vgl. Beck 2015, S. 95), die nicht übertragbar sind. Die Zulassung zu Berufen und somit die Möglichkeit das erworbene kulturelle Kapital in ökonomisches Kapital umzuwandeln, ist von der Verfügung der Legitimationsnachweise des institutionalisierten kulturellen Kapitals abhängig. Das soziale Kapital besteht aus der Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen und ist nicht übertragbar. Es resultiert aus der Benutzung eines dauerhaften Netzwerkes von institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens, auf das der Akteur zurückgreifen kann, falls er Unterstützung bedarf. Je umfassender das Netzwerk an sozialen Bemühungen, desto größer die Profitchancen bei der Reproduktion seines ökonomischen und kulturellen Kapitals.
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