Welches sind Einflussfaktoren für den heutigen Antiziganismus?


Academic Paper, 2020

20 Pages, Grade: 1


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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Terminologie
2.1. Fremdbezeichnung „Zigeuner“
2.2. Rom*nja und Sinti*zze

3. Geschichte der Diskriminierung der Rom*nja und Sinti*zze

4. Antisemitismus und Antiziganismus

5. Bürgerrechtsarbeit ab 1970

6. Widergutmachungspolitik der Bundesrepublik Deutschland

7. Aktuelle Lebenssituation der Rom*nja und Sinti*zze in Deutschland

8. Was kann Soziale Arbeit bei der Integration von Rom*nja und Sinti*zze leisten?

9. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Während meines 400 Stunden-Praktikums in der Obdach- und Wohnungslosenhilfe der XY Diakoniezentrum, war ich im Tagestreff tätig. Dort bin ich zum ersten Mal bewusst mit Rom*nja und Sinti*zze ain Kontakt gekommen und habe miterlebt, dass die Ressentiments gegen diese Volksgruppe nach wie vor Bestand haben. Des Öfteren habe ich von Seiten der unmittelbaren Nachbarschaft sowie von Mitarbeiter*innen des Tagestreffs diskriminierende Äußerungen und Handlungen im Zusammenhang mit der Gruppe der Rom*nja und Sinti*zze wahrgenommen. Warum werden diese Menschen trotz jahrzehntelanger Forschung heute noch von der Mehrheitsbevölkerung ausgegrenzt und abgelehnt? Dies hat mich dazu motiviert, dem nachzugehen und mich näher mit der Lebenssituation und den Problemen dieser Minderheitengruppe zu beschäftigen.

In der folgenden Hausarbeit werde ich mich mit dem Thema „Antiziganismus“ auseinandersetzen. Da die Thematik sehr komplex ist, können die einzelnen, mir in diesem Zusammenhang als wichtig erscheinenden Punkte, nur recht oberflächlich behandelt werden. Da Rom*nja und Sinti*zze die politisch korrekte Bezeichnung (im deutschen Sprachraum) für diese Volksgruppe sind, wird sie durchgängig von mir in dieser Hausarbeit benutzt.

Eine Erläuterung der Terminologien ‚Zigeuner‘ und ‚Rom*nja und Sinti*zze’ wird deshalb zu Beginn meiner Hausarbeit aufgeführt. Danach werde ich mich detailliert mit der Geschichte der Diskriminierung dieser Minderheitengruppe beschäftigen. Obwohl sich die Ethnien Rom*nja und Sinti*zze auf der einen Seite und Juden auf der anderen Seite im Hinblick auf Herkunft, Sprache Religion etc. völlig voneinander unterscheiden, haben beide jedoch auch Gemeinsamkeiten. Den Unterschied zwischen Antiziganismus und Antisemitismus habe ich im Anschluss an die Historie der Rom*nja und Sinti*zze herausgearbeitet. Zur Abrundung des Bildes werde ich kurz auf die Bürgerrechtsarbeit ab 1970 sowie die Wiedergutmachungspolitik der Bundesrepublik eingehen, bevor ich mich mit der aktuellen Lebenssituation der Rom*nja und Sinti*zze in Deutschland befasse. Abschließen möchte ich mit den Überlegungen, was Soziale Arbeit in der Integration von Rom*nja und Sinti*zze leisten kann und dem Fazit, welches ich aus dieser Hausarbeit gezogen habe.

2. Terminologie

2.1. Fremdbezeichnung „Zigeuner“

Bei dem Begriff „Zigeuner“ handelt es sich um ein rassistisches Konstrukt, welches aus der Tradition heraus bis heute in der Gesellschaft Verwendung findet, von den meisten der als solche bezeichneten Menschen jedoch abgelehnt wird. Einer Studie aus dem Jahre 2011 zu folge lag die Ablehnungsquote in der Umfrage bei über 90% (Strauß 2017: 10). Die Herkunft „Zigeuner“ Begriffs ist unklar. Man nimmt an, dass er auf die Zeit der Völkerwanderungen zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert, welche in Schüben über Persien, Armenien und dem Byzantinischen Reich nach Europa eingewandert sind, zurückzuführen ist. Die Griechen hatten angenommen, dass es sich bei den eingewanderten Roma um Angehörige der christlichen Religionsgemeinschaft „athinganoi“ (die Unberührbaren) gehandelt hatte und nannten sie deswegen „atsigganoi“. Später wurden daraus die lateinischen „cingari“ und die deutschen „Zigeuner“.

Diejenigen Roma, die im 13. und 14. Jahrhundert nach Griechenland kamen und sich auf einem Teil der Peleponnes niedergelassen haben, welcher damals als ‚Kleinägypten‘ bezeichnet wurde, nannten die Griechen „aigypsios“ (Ägypter). Daraus hat sich in England und Spanien der Begriff „gypsies“ und „gitanos“ entwickelt. Egal welche Namen man den Roma gab, alle waren schon damals negativ mit Kriminalität und Gefahr konnotiert (vgl. Wippermann 2015: 16ff). Die Identität der „Zigeuner“ setzt sich aus der Sprache (Romanes), der Auseinandersetzung mit der Kultur der Mehrheitsbevölkerung und aus der Erfahrung der über Jahrhunderte andauernden Ausgrenzung und Benachteiligung, zusammen.

2.2. Rom*nja und Sinti*zze

Roma (Rom: Mann, Mensch) ist die Selbstbezeichnung einer Volksgruppe, zu der zusammen mit den Sinti etwa 10 bis 12 Millionen Menschen zählen. Roma besitzen keine einheitliche Kultur, sondern bestehen aus etlichen Untergruppen, zu denen z.B. auch die Sinti gehören. Diese leben seit ca. 600 Jahren auf deutschsprechendem Gebiet und fühlen sich der deutschen Kultur, Sprache und Geschichte sehr nahe (vgl. Reemtsma 1996: 8). Vor über 1000 Jahren sind diese Menschen aus dem Nordwesten Indiens nach Westen ausgewandert. Sie leben als Minderheit meist in Südost-, Osteuropa und in Spanien, wo sie mitunter bis zu 10 % der Bevölkerung ausmachen. Roma leben auch in allen amerikanischen und einigen außereuropäischen Ländern. Die Bezeichnung Sinti kommt wahrscheinlich durch Vorfahren, welche aus der Region Sindh im Nordwesten Indiens (heute Pakistan) stammen. Rom*nja und Sinti*zze machen zwar unter den „Zigeunern“ den größten Teil aus, daneben gibt es auch noch kleinere Gruppen, wie zum Beispiel die Kalderash oder die Lalleri. „Träger der sozialen Organisation und kultureller Überlieferung ist die Familie. Die ältere Generation genießt die besondere Achtung der Jüngeren.“ (Weiß 2005: 7281). Rom*nja und Sinti*zze ist die politisch korrekte Bezeichnung. Wobei Sinti die in West- und Mitteleuropa beheimateten Angehörigen der Minderheit sind und Roma diejenigen mit ost- und südosteuropäischen Wurzeln bezeichnet.

3. Geschichte der Diskriminierung der Rom*nja und Sinti*zze

Der geschichtliche Hintergrund der Rom*nja und Sinti*zze ist sehr komplex. Da in dieser Hausarbeit die gegenwärtige Situation der Rom*nja und Sinti*zze im Mittelpunkt stehen soll, wird der geschichtliche Hintergrund nur relativ kurz dargestellt. Insgesamt basiert dieser im Wesentlichen aus dem Wissen der Nicht-Sinti und Nicht-Roma, da deren Sprache -Romanes- keine standardisierte Schreibweise oder Grammatik aufweist und bis heute meist mündlich überliefert wurde (vgl. Reemtsma 1996: 70ff). Deshalb lassen sich auch nur Vermutungen über die Herkunft der Rom*nja und Sinti*zze anstellen. Wissenschaftler haben durch Sprach- und Kulturvergleich herausgefunden, dass Roma und Sinti aus Indien (dem heutigen Pakistan) stammen. Vom 8.-10. Jhd. verließen sie Indien und gelangten über Persien, Kleinasien oder dem heutigen Armenien nach Griechenland und dem Balkan. Von dort aus gelangten sie dann im 13. und 14. Jhd. nach Mittel-,West- und Nordeuropa – einige sogar weiter bis nach Amerika. Die Rom*nja und Sinti*zze besaßen handwerkliche Fähigkeiten, die bei ihrer Ankunft in Altrumänien gebraucht wurden. So konnten sie ihre Produkte entlang der Handelsroute verkaufen. Nachdem die Walachei (1396) und die Moldau (um 1500) im Osmanischen Reich aufgegangen sind, kam dieser fast völlig zum Erliegen. Die landwirtschaftlichen Erträge wurden von den Osmanen zu niedrigen Preisen nach Konstantinopel gebracht. Die Großgrundbesitzer (Boyaren), Bauern und alle anderen Berufsstände mussten zusätzlich zu ihrem geringen Einkommen noch hohe Steuern bezahlen. In diesem Zusammenhang gelangten die Roma als Sklaven in den Besitz der Kirche und der Boyaren; alle die nicht versklavt wurden, wurden zum Eigentum des Staates und konnten bzw. durften nicht mehr abwandern (vgl. Reemtsma 1996: 22ff).

Neben den versklavten Roma in Altrumänien blieb ein großer weiterer Teil der Roma in den osmanisch besetzten Balkanländern und wurden von den osmanischen Herrschern als Menschen zweiter Klasse angesehen, da die Roma zu den besiegten nichtmuslimischen Völkern gehörten.

Anfang des 15. Jahrhunderts gelangten erste Roma nach Deutschland. Die Bevölkerung war damals verpflichtet Pilger und Büßer mit Nahrung, Geld und Obdach zu unterstützen. Und da man angenommen hatte, dass die Roma aus Ägypten gekommen seien, konnten diese davon profitieren. Schon damals wurden ihnen Diebstahl, Wahrsagerei durch die Frauen der Roma, sowie Kundschaftertätigkeit für die Türken kollektiv negativ zugeschrieben und zum vermeintlichen Merkmal ihrer Ethnie (vgl. Reemtsma 1996: 30). Die Stereotype von einer sozial minderwertigen und kulturell fremden Bevölkerungsgruppe setzte sich weiter fort, was die Zahl der Verordnungen gegen Roma in Deutschland - ca. 148 - zwischen 1500-1800 deutlich macht. Schon etwas früher, nämlich Mitte des 15. Jahrhunderts, wurden die Roma erstmals auf dem Reichstag von Freiburg für vogelfrei erklärt und danach noch einmal Anfang des 18. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit meldet sich der „Zigeunerexperte“ Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann zu Wort. Dieser berichtet, dass die „Zigeuner“ ihre schwarze Hautfarbe nicht von Geburt an, sondern durch ihre Erziehung und Lebensart bekommen hätten. Hund führt dazu die Sichtweise Grellmanns in folgendem Zitat an: „Längst würden sie aufgehört haben, negerartig zu seyn, wenn sie aufgehört hätten, zigeunerisch zu leben“ (Hund 1996: 26, mit einem Zitat von Grellmann 1783). Dies jedoch erst nachdem „[…] jeder Zigeuner ein Vaterland erkennen und gezwungen seyn wird, sich seiner Hände Arbeit zu nähren“ (vgl. ebd: 26). Die im 19. Jahrhundert beginnende Ethnisierung führt zur Polarisierung rassistischer Diskriminierung. So wird der „Zigeuner“ der vermeintlich unterentwickelten Rasse zugeordnet und die Stereotype, asozial, unangepasst, primitiv und arbeitsscheu zu sein, setzt sich weiter fort (vgl. Hund 1996: 33 f).

Bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten sahen Rom*nja und Sinti*zze sich immer wieder Ausgrenzung, rassistischer Diskriminierungen, Vertreibungen und Verfolgungen ausgesetzt. Mit dem Erlass des „Zigeuner- und Arbeitsscheuengestzes“ (ab 1933) wollte man sowohl die Lebensform des Reisegewerbes, von der viele Rom*nja und Sinti*zze lebten, als auch sesshafte Sinti vernichten. „Mit der Einführung der Rassenlehre in die Gesetzgebung durch die Nationalsozialisten wurde schließlich aus der beabsichtigten Vernichtung von Lebensformen die Vernichtung von Menschen“ (Reemtsma 1996: 99). Im Reichstag wurde der Stereotypisierung der „Zigeuner“ freien Raum gelassen: Den „Zigeunern“ schrieb man weiterhin „(…) ethnische Fremdheit, soziale Unangepasstheit und unbekümmerte Freiheit“ zu (vgl. Hund 2017: 75). Eine ‚endgültige Lösung der Zigeunerfrage‘ machte Heinrich Himmler 1938 an den ‚rassenbiologischen Forschungen‘ Robert Ritters fest. Dieser kam zu der Auffassung, dass ‚Mischlinge‘, welche aus einer Beziehung mit Asozialen und Kriminellen des deutschen Volkes hervorgekommen sind, sozusagen doppelt minderwertig seien, da hier noch zusätzlich minderwertiges ‚asoziales und kriminelles Blut‘ dazugekommen sei. Es wird jedoch angemerkt, dass es sich bei diesen Thesen Ritters um eine Ideologie handelt, die als Begründung für die Verfolgung und Ermordung der Roma diente (vgl. Wippermann 2015: 68ff). Die Nürnberger Rassengesetze, welche sich eigentlich nur auf die Juden bezogen, wurden Ende 1935 auch auf die deutschen Rom*nja und Sinti*zze angewandt. Juden, Roma, ‚Neger und ihre Bastarde‘ wurden zusammengefasst und als ‚Träger nicht deutschen oder artverwandten Blutes‘ (Wippermann 2015: 69, mit einem Zitat von Stuckart/Globke, Kommentar zur deutschen Rassegesetzgebung, München/Berlin 1936: 55) bezeichnet. Der Druck durch Städte und Polizei war enorm – eine Berufsausübung war nahezu unmöglich. 1938 wurden ‚Asoziale‘ und ‚Zigeuner‘ in ‚polizeiliche Vorbeugungshaft‘ genommen und zunächst in Zwangslager untergebracht. Durch die sogenannte „Festsetzung“ im Oktober 1939 durften Rom*nja und Sinti*zze den Ort, an dem sie sich gerade aufhielten, nicht mehr verlassen. 1940 begannen dann die Deportationen (vgl. Ernst 2020). Anfang 1943 wurde ein Großteil (etwa 20.000) der deutschen Rom*nja und Sinti*zze in das Vernichtungslager nach Auschwitz deportiert. Dort wurden sie nicht nach Geschlecht getrennt, sondern alle kamen zusammen in das „Zigeunerlager“ und mussten dort unter entsetzlichen hygienischen Bedingungen leben. Wie überall im KZ herrschte auch hier eine Unterversorgung an Essen und medizinischer Hilfe. „Mehr als die Hälfte der Deportierten erlag einer planmäßigen Mangelernährung und unbehandelten Krankheiten und Seuchen“ (Wippermann 2015: 71). In der Zeit des Nationalsozialismus starben unter deutscher Besatzung ca. 200 000 Rom*nja und Sinti*zze. Die Dunkelziffer ist wesentlich höher und liegt bei ca. 500 000 (vgl. Ernst 2020). Nach Angaben der Historikerin Karola Fings ist die Dunkelziffer deshalb so hoch, weil sich auch nach Kriegsende die Menschen nicht dafür interessiert haben. Der Völkermord an den Rom*nja und Sinti*zze wurde nicht als schwerwiegendes Verbrechen wahrgenommen (vgl. ebd.) Der Recherche von Wippermann zufolge haben nicht nur ‚Zigeunerpolizisten‘ sondern auch Pfarrer und Pastoren ihre Daten (aus den Kirchenbüchern) über vermeintliche ‚Zigeuner‘ an die Nazis weitergegeben. Zu dieser ‚Beihilfe zum Völkermord‘ haben sie sich jedoch bis heute nicht bekannt (vgl. Wippermann 2015: 71). Ein Paradox war, dass trotz der rassistischen Diskriminierung und Verachtung im Faschismus aufgrund der oben geschilderten Stereotype gegenüber Rom*nja und Sinti*zze, auf der anderen Seite wegen ihrer maßgelblich sorglosen Lebensweise -ohne zu arbeiten und ohne Not- beneidete (Romantisierung). Brahms, Schuhmann und Liszt haben diese Klischees erfolgreich vertont und Lieder wie „Lustig ist das Zigeunerleben“ wurden durchaus gesungen. (Auch ich habe dieses Lied noch in der Schule im Musikunterricht gesungen.) Selbst die Operette „Der Zigeunerbaron“ von Johann Strauss (ein Achteljude) wurde zwischen 1933 und 1945 ständig auf deutschen Bühnen aufgeführt.Bilder der ‚verführerischen Zigeunerin‘, des ‚geigenspielenden Zigans‘ oder das ‚malerische Zigeunerlager‘ hatten und haben bis ins 20. Jahrhundert hinein Bestand. Die Schergen stellten in den Konzentrationslagern ‚Zigeunerkapellen‘ zusammen, die lustige Märsche spielen mussten, während Häftlinge misshandelt oder Häftlinge ihre toten oder sterbenden Kameraden ins Lager zurückgetragen haben (vgl.Hund 2017: 72ff). Eine in Auschwitz internierte Frau namens Fania Fénelon gehörte dem dortigen Orchester an und musste den Alltag der Nazis musikalisch begleiten. Sie erzählte Jahre später: „Mitten in der Nacht wurden die Frauen von einem betrunkenen SS-Mann geweckt, der von ihnen verlangte, ihm aufzuspielen: „Was er hören wolle? Schlager und Zigeunermusik […]. Lily spielt ihm mit ihrer Geige sehnsüchtige Zigeunerweisen ins Ohr, er weint dicke Tränen“ (Hund 2017: 77).

4. Antisemitismus und Antiziganismus

Als Antisemitismus wird heute pauschal die Judenfeindlichkeit, der Judenhass und die Judenverfolgung bezeichnet, welche sich durch religiöse, soziale, politische und rassistische Feindbilder und Vorurteile unterscheiden.

Der christliche Antisemitismus ist dabei bis heute der nachhaltigste. Dieser wurde „[…] von Paulus und den Evangelisten (vor allem von Johannes) erfunden, von den Kirchenvätern, Päpsten und mittelalterlichen Theologen weiterentwickelt und vom Kirchenvolk geglaubt […]“ (Wippermann 2013: 21). Dem Neuen Testament nach wurde Jesus von den Juden nicht als Messias anerkannt. Diese haben sich gegen ihn verschworen und schließlich getötet. Juden werden als ‚Teufelskinder‘ bezeichnet, die der Hostienschändung, Ritualmord und Brunnenvergiftung bezichtigt werden. 1543 hat Martin Luther den Hass auf Juden in der Gesellschaft mit seinen Schriften „Von den Juden und ihren Lügen“ weiter zugespitzt. Auch er sah in den Juden ‚Teufelskinder‘ und ‚Wucherer‘, „[…] weshalb er sie nicht bekehren, sondern entrechten, die Ausübung ihrer Religion verbieten, sie ihres Eigentums berauben, versklaven, vertreiben und ermorden wollte“ (Wippermann 2013: 21f). Wippermann bezeichnet den christlichen Antisemitismus als einen ‚nicht bewältigten Antisemitismus‘, weil er bis heute nicht ausreichend aufgearbeitet worden ist.

Der soziale Antisemitismus hat eine gegensätzliche Entwicklung vollzogen. Während die Juden in der frühen Neuzeit (späte Mittelalter bis zum Übergang 18./19. Jhdt) noch als arm und unangepasst galten, wurden sie im 19. Und 20. Jhdt. bezichtigt, zu reich und der Mehrheitsgesellschaft gegenüber zu angepasst zu sein. Genau in dieser Zeit fügte sich der politische Antisemitismus ein. „Die Protokolle der Weisen von Zion“ bewirkten, dass sich antisemitische Verschwörungstheorien ausbreiteten, welche wiederum zur faschistischen Ideologie der ‚Weltverschwörung‘ geführt haben. Sowohl damit als auch mit dem ‚Rassenantisemitismus‘, gegenüber Jüdinnen und Juden, die als ‚minderwertige und gefährliche Rasse‘ galten, wurde deren Vernichtung gerechtfertigt. Nach 1945 ist zu den aufgeführten, verschiedenen Ausprägungen des Antisemitismus der ‚sekundäre Antisemitismus‘ dazugekommen. Den Juden und Jüdinnen wird hierbei vorgeworfen, die Shoa für ihre politischen und finanziellen Zwecke zu nutzen, um ihre Weltmacht- und Herrschaftsposition zu stärken (vgl. Wippermann 2013: 22).

Im Gegensatz zur Geschichte des Antisemitismus kam der Begriff Antiziganismus (aus dem Französischen„I’antitsiganisme‘) erst in den 1980er Jahren auf. Antiziganismus erinnert durch das Lexem ‚zigan‘ stark an die abwertende Bezeichnung ‚Zigeuner‘, und ist „eine ‚vergessene‘ Variante des modernen Rassismus“ (Scholz 2007). Der Begriff ‚Antiziganismus‘ ist in die Kritik und den Diskurs geraten, weil man befürchtete, dass durch die Verwendung Rassismus reproduziert oder Traumata wachgerufen werden könnten. Unter Antiziganismus versteht man die Diskriminierung und Verfolgung von Menschen, welche stigmatisierend als „Zigeuner“ bezeichnet werden. Dabei handelt es sich bei dem Begriff „Zigeuner“ um ein Konstrukt, welches sich im Wesentlichen auf Rom*nja und Sinti*zze bezieht. Markus End geht davon aus, dass Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze aus den Stereotypen und der Vorstellungswelt der Mehrheitsgesellschaft bestehen. (End in seinem Vortrag der Fachtagung ‚Antiziganismus in der sozialen Arbeit‘, Frankfurt University of Applied Sciences am 21.11.2019). Antiziganismus zielt nicht nur auf Roma ab, sondern schließt andere Gruppen, wie z.B. Sinti, kosovarische Ashkali, französische Manouche und Irish Traveller mit ein (vgl. Amaro Foro e.V. Jugendorganisation von Roma und Nicht-Roma). Aber auch Menschen, wie z.B. wohnungslose Menschen oder Personen, die im Zirkus arbeiten und nicht zu den (beiden) oben genannten Gruppen dazugehören, werden aufgrund der noch immer gültigen Stereotype für ‚Zigeuner‘ gehalten und diskriminiert.

Auch hier gibt es, gleich dem Antisemitismus, unterschiedlich motivierte Formen des Antiziganismus. Der religiös motivierte Antiziganismus beruht auf der biblischen Geschichte des Brudermörders Kain, dessen Abkömmlinge die ‚Zigeuner‘ sein sollen. Weiter wird ihnen vorgeworfen, die Heilige Familie auf ihrer Flucht nach Ägypten nicht beherbergt zu haben und letztlich, dass ‚Zigeuner‘ die Nägel für das Kreuz Christi geschmiedet oder aber, dass sie den vierten Nagel gestohlen hätten. Dem schwerwiegendsten und bis heute existierenden Vorurteil nach, sind ‚Zigeuner‘ ein Bündnis mit dem Teufel eingegangen, der ihnen dafür magische Kräfte verliehen und mit der gleichen schwarzen Hautfarbe ausgestattet hätte.

Der soziale Antiziganismus kommt durch die noch immer bestehenden Vorurteile zum Ausdruck, wonach sich Roma nicht gezwungener Maßen, sondern freiwillig für ein Nomadenleben entschieden haben und statt einem regulären Arbeitsverhältnis nachzugehen, sich lieber durch Stehlen und/oder sonstigen kriminellen Taten ernähren. Da den Rom*nja und Sinti*zze dieses asoziale Verhalten bereits seit Ende des 18. Jhdt als erblich und ‚rassisch‘ zugeschrieben wurde, handelt es sich auch hier um ‚Rassenantiziganismus‘. Im Unterschied zum Antisemitismus gibt es im Antiziganismus keinen ‚sekundären Antiziganismus‘. Bislang wurden den Rom*nja und Sinti*zze nicht vorgeworfen, sich aus dem an ihnen begangenen Völkermord (Porrajmos) finanzielle oder politische Vorteile verschafft zu haben (vgl. Wippermann 2013: 22f).

In den Augen der ‚einfachen Leute‘ gehörten Rom*nja und Sinti*zze durch die im dritten Kapitel dargestellte Romantisierung zu den glücklicheren Menschen. Juden dagegen hat man mit solch romantischen Gedanken nicht in Verbindung gebracht. Obwohl man auch sie -wie die ‚Zigeuner‘- als ‚arbeitsscheue Parasiten‘ betrachtete, galten Juden als reich, gebildet und mächtig (vgl. Scholz 2013: 28).

5. Bürgerrechtsarbeit ab 1970

Nach 1945 wurden einige Schlüsselpositionen im Staatsdienst durch ehemalige SS-Offiziere oder Amtsträger aus der NS-Zeit besetzt. Diese waren jedoch in keiner Weise daran interessiert den Völkermord an den Rom*nja und Sinti*zze aufzuarbeiten. Den überlebenden Rom*nja und Sinti*zze wurden teilweise die deutschen Pässe nicht zurückgegeben und eine angemessene Wiedergutmachung zunächst verweigert (vgl. Scholz 2013: 31). Die Diskriminierung und Ausgrenzung durch die Mehrheitsbevölkerung setzte sich weiter fort, weil ein Neuanfang durch ein gleichberechtigtes Miteinander nicht gegeben war. Versagte Entschädigungen führten viele der Rom*nja und Sinti*zze noch tiefer in ihre prekäre Situation. Allgemein wurde wohl eher auf Abschiebung als auf Integration gesetzt. „Vielerorts gab es bis in die 80er Jahre hinein grundgesetzwidrige Campingplatz-, sowie Gaststätten- und Diskothekenverbote. Doch kaum jemand störte sich daran“ (Krausnick 1995: 213). Anfang der 70er Jahre begannen Roma international ihre Interessen zu vertreten und damit an die Öffentlichkeit zu gehen. 1971 gründete Vinzenz Rose den „Verband deutscher Sinti“. Auch in Deutschland wurden Rom*nja und Sinti*zze weiterhin als soziale Randgruppe und kriminelles Problem gesehen. In Modul 12 haben wir bei Frau Schrader die bei Michel Foucault beschriebene pastorale Macht besprochen, welche im Zusammenhang mit dieser Hausarbeit angewendet werden kann. „Es handelt sich nicht um eine triumphierende, sondern um eine wohltätige Macht“ (Foucault 2003: 707). Sozialarbeiter*innen übernahmen die pastorale Macht über Rom*nja und Sinti*zze, indem sie diese bevormundeten und ihre Unselbständigkeit förderten. Sinti-Bürgerrechtlern gelang es durch gezielte Aktionen und Demonstrationen der Medien auf sich aufmerksam zu machen. Mit deren Unterstützung gelang es, den Völkermord und die weiterhin bestehende Diskriminierung in den öffentlichen Diskurs zu bringen. Im Oktober 1979 fand im Konzentrationslager Bergen-Belsen eine Gedenkkundgebung statt, an der Simone Veil (ehemalige jüd. Gefangene und Präsidentin des Europa-Parlaments) ihre Solidarität und Anteilnahme gegenüber Rom*nja und Sinti*zze aussprach. Dem schlossen sich verschiedene politische Vertreter, sowie der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Berlin an. Damit konnte eine breite Öffentlichkeit über die Grenzen Deutschlands hinaus erreicht werden. Nachdem weitere öffentlichkeitswirksame Aktionen folgten „[…] (wurden) 1982 und 1985 endlich durch Kanzler Schmidt und Kohl sowie 1989 vom Deutschen Bundestag der nationalsozialistische Völkermord »aus rassischen Gründen« offiziell anerkannt“ (Krausnick 1995: 218). Es folgten Pauschalentschädigungen von bis zu 5000,-- DM, deren Bewilligung allerdings oftmals Jahre dauerte.

6. Widergutmachungspolitik der Bundesrepublik Deutschland

Reparationszahlungen sollte nach Ansicht der Alliierten nur an die Staaten gewährt werden, die sich am Krieg gegen Deutschland beteiligt haben. Dadurch wurde, ebenso wie den Rom*nja und Sinti*zze, auch den Juden anfangs eine ‚Wiedergutmachung‘ verweigert. Des Weiteren galten rassisch, politisch oder/und religiös Verfolgte ebenfalls als ‚entschädigungswürdig‘, während Krimimelle und als ‚asozial‘ eingestufte Menschen, die in KZ-Haft saßen, nicht als verfolgte galten. Im Fall der Kriminellen wurde dies als eine legitime Form der Verbrechensbekämpfung angesehen. Um die Anträge der Rom*nja und Sinti*zze dahingehend zu prüfen, ob es sich im Einzelfall wirklich um NS-Verfolgte handelte, wurden die Unterlagen zur Begutachtung an die Kriminalpolizei weitergeleitet. Hier arbeiteten zum Teil die gleichen Polizeibeamten (NS-Täter), die nach 1945 mit der polizeilichen Sondererfassung von ‚Zigeuner‘ beauftragt wurden. Natürlich haben diese Beamte ihre Gutachten nicht gegen ihre eigenen Verfolgungsmaßnahme gegen Rom*nja und Sinti*zze während der NS-Zeit ausgestellt. Statt aus rassischen Gründen wurde „Asozialität“ als Inhaftierungsgrund angegeben. Auf diese Weise wurden Entschädigungszahlungen blockiert und eine eigene Teilnahme am Völkermord geleugnet. (vgl. Sparing 2011). Lediglich deren Deportation nach Auschwitz (Frühjahr 1943) sei nicht rechtens gewesen. Da die Juden international gut organisiert waren/sind und der Staat Israel im Mai 1948 gegründet wurde, konnte schließlich 1952 – gegen den Willen der Alliierten- ein Abkommen ausgehandelt werden, der die Bundesrepublik Deutschland verpflichtete an die überlebenden Juden sowie den Staat Israel ‚Wiedergutmachungszahlungen‘ zu leisten (vgl. Wippermann 2015: 82ff). Rom*nja und Sinti*zze verfügen nicht über international anerkannte Repräsentanten, so dass für sie solch ein Abkommen nie zustande kam. Noch 1956 schrieb der Bundesgerichtshof in einem Urteil über „Zigeuner“: „Sie neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien, es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist“ (Link 16.9.2018). Bis in die 60er Jahre hinein wurde jeder Versuch eine ‚rassisch motivierte Verfolgung‘ nachzuweisen mit der Begründung abgewiesen, „[…] sondern weil sie ziel- und planlos umherzogen, sich über ihre Person nicht ausweisen konnten oder für Spione gehalten wurden“ (Wippermann 2015: 85).

Der Beschluss des Bundesgerichtshofes vom Dezember 1963, welcher damit seine Entscheidung von 1956 teilweise geändert hat, gestattete den Rom*nja und Sinti*zze Entschädigungen für Verfolgungsmaßnahmen nach Dezember 1938 (Himmler-Erlass) zu beantragen. Bedenkt man jedoch, dass Rom*nja und Sinti*zze schon weit vor 1938 (im Kaiserreich und der Weimarer Republik) diskriminiert, ausgegrenzt und verfolgt wurden und dass, obwohl in der Reichsverfassung der Gleichheitsgrundsatz für alle deutschen Staatsbürger festgeschrieben war, erscheint das Urteil vom Dez. 1963 nur als schwer nachvollziehbar.

Die Antragsfrist für eine ‚Beihilfe‘ von maximal 5000 DM (siehe auch Punkt 5), welche den Rom*nja und Sinti*zze 1979 durch Bundestagsbeschluss gewährt wurde, lief im Dezember 1982 aus. Viele der Rom*nja und Sinti*zze, welche dafür in Frage gekommenen wären, waren zu diesem Zeitpunkt aber bereits verstorben. Während eine „Wiedergutmachung“ durch die Bundesregierung auch an Juden gezahlt wurde, die keine deutsche Staatsbürgerschaft besaßen (da nach deren Ansicht, osteuropäische Juden zum ‚deutschen Kulturkreis‘ gehören), gingen ausländische Rom*nja und Sinti*zze leer aus. Bis heute tun sich die deutschen NS-Historiker schwer damit, den Völkermord (Porrajmos) an Rom*nja und Sinti*zze als intendiert und rassistisch motiviert anzuerkennen. Obwohl der Zentralrat Deutscher Rom*nja und Sinti*zze immer wieder durch Demonstrationen und geschichtspolitische Aktivitäten auf sich aufmerksam macht und Aufklärungsarbeit leistet, haben sich in den 90er Jahren erneut in- und ausländische Historiker zusammengefunden, die die Meinung vertreten, dass der Völkermord an den Juden nicht vergleichbar mit dem an Rom*nja und Sinti*zze sei und damit die Grundlage für eine fortgesetzte Diskriminierung der Rom*nja und Sinti*zze in Deutschland geschaffen (vgl. Wippermann 2015: 86ff).

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Details

Title
Welches sind Einflussfaktoren für den heutigen Antiziganismus?
College
University of Applied Sciences Frankfurt am Main
Course
Ausgrenzung und Integration
Grade
1
Author
Year
2020
Pages
20
Catalog Number
V907155
ISBN (eBook)
9783346226914
ISBN (Book)
9783346226921
Language
German
Keywords
welches, einflussfaktoren, antiziganismus
Quote paper
Gabriele Sieck (Author), 2020, Welches sind Einflussfaktoren für den heutigen Antiziganismus?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/907155

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