Achtsamkeit zwischen Online-Vigilanz und wahrgenommenem Stress. Quantitative Untersuchung an einem Sample der Digital Natives


Bachelor Thesis, 2020

123 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretischer und empirischer Hintergrund
2.1 Online-Vigilanz
2.1.1 POPC-Forschung
2.1.2 Definition von Online-Vigilanz
2.1.3 Abgrenzung der Online-Vigilanz von Gewohnheit, Sucht und Multitasking
2.1.4 Verstärkungsfaktoren von Online-Vigilanz
2.2 Achtsamkeit
2.2.1 Definition und Geschichte von Achtsamkeit
2.2.2 Achtsamkeitsbasierte Interventionen
2.2.3 Auswirkungen von Achtsamkeit
2.3 Digitaler Stress
2.3.1 Definition und Konzeptualisierung von Stress
2.3.2 Entstehung von digitalem Stress
2.3.3 Forschungsstand von digitalem Stress
2.4 Achtsamkeit und POPC-Verhalten
2.4.1 Herausforderungen von POPC-Bedingungen
2.4.2 Vorteilhaftes POPC-Verhalten durch Achtsamkeit
2.4.3 Forschungsstand von Achtsamkeit und Online-Vigilanz
2.5 Überblick über die vorliegende Studie
2.6 Fragestellung und Hypothesen

3 Methode
3.1 Stichprobe
3.2 Planung und Durchführung der Untersuchung
3.3 Fragebogenverfahren

4 Ergebnisse
4.1 Deskriptivstatistische Ergebnisse
4.2 Inferenzstatistische Ergebnisse

5 Diskussion
5.1 Implikationen und Bedeutung der Ergebnisse
5.2 Einordnung in den aktuellen Forschungsstand
5.3 Limitation
5.4 Fazit und Ausblick

6 Literaturverzeichnis

Anhang A: Untersuchungsmaterialien

Anhang B: Ergänzende Ergebnisse

Abstract

Due to the ubiquity of digital media, people think, feel and act in the expectation of being permanently connected via the Internet. The concept of online vigilance describes how media users face their inner and outer world. There is increasing evidence that permanent engagement with media (content) entails various health-related risks and favors stress development, in particular. Therefore, there is growing interest in strategies, mostly based on mindfullness, to promote beneficial media handling and stress management. The present study examines whether mindfulness acts as an intervening variable between online vigilance and perceived stress. Interrelationships between the named constructs and their dimensions are examined, based thereon. Transferred to the generation and management of digital stress, the transactional stress model by Lazarus and Launier (1981) serves as a theoretical basis. The data was collected using an online survey with a sample of 322 Digital Natives. The hypothesis was tested by calculation of both the regression and correlation analyzes. It demonstrates that the relationship between online vigilance and perceived stress is partially mediated by mindfulness. Furthermore, mindfulness shows negative connections to both online vigilance and perceived stress, which in turn are both positively associated with each other. Acting with awareness had a stronger negative connection to the individual online vigilance dimensions than all other aspects of mindfulness. The results indicate the relevance of mindfulness for the intervention of digital stress. The context of digital stress caused by online vigilance and the coping with it in particular, offers great potential for further studies.

Zusammenfassung

Aufgrund der Ubiquität digitaler Medien denken, fühlen und handeln Menschen in der Erwartung, permanent über das Internet vernetzt zu sein. Das Konzept der Online-Vigilanz beschreibt, wie MediennutzerInnen ihrer inneren und äußeren Welt gegenüberstehen. Zunehmend mehr Belege deuten darauf hin, dass die dauerhafte Auseinandersetzung mit Medien(inhalten) diverse gesundheitsrelevante Risiken nach sich zieht und insbesondere die Entstehung von Stress begünstigt. Aus diesem Grund wächst das Interesse an Strategien zur Förderung eines vorteilhaften Medienumgangs sowie zur Stressbewältigung, welche zumeist auf Achtsamkeit beruhen. In der vorliegenden Arbeit wird überprüft, ob Achtsamkeit als intervenierende Variable zwischen Online-Vigilanz und wahrgenommenem Stress wirkt. Darauf aufbauend werden die Zusammenhänge der genannten Konstrukte und deren Dimensionen untereinander untersucht. Als theoretische Grundlage dient das transaktionale Stressmodell von Lazarus und Launier (1981), welches auf die Entstehung und Bewältigung von digitalem Stress übertragen wurde. Die Datenerhebung erfolgte anhand einer Online-Befragung mit einer Stichprobe von 322 Digital Natives. Zum Zwecke der Hypothesenüberprüfung wurden sowohl Regressions- als auch Korrelationsanalysen gerechnet. Es zeigt sich, dass das Verhältnis zwischen Online-Vigilanz und wahrgenommenem Stress partiell durch Achtsamkeit mediiert wird. Achtsamkeit weist darüber hinaus negative Zusammenhänge sowohl zu Online-Vigilanz als auch zu wahrgenommenem Stress auf, welche wiederrum beide positiv miteinander assoziiert sind. Bewusstes Handeln hatte einen stärkeren negativen Zusammenhang zu den einzelnen Online-Vigilanz-Dimensionen als alle anderen Achtsamkeits-Aspekte. Die Ergebnisse weisen auf die Relevanz von Achtsamkeit zur Intervention von digitalem Stress hin. Es gibt großes Potenzial für weiterführende Studien im Kontext des durch Online-Vigilanz entstehenden digitalen Stress und insbesondere dessen Bewältigung.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 2.1. Transaktionales Stressmodell. Eigene Darstellung in Anlehnung an Lazarus und Launier (1981)

Abbildung 2.2. Entstehung und Bewältigung von digitalem Stress. Eigene Darstellung in Anlehnung an Lazarus und Launier (1981)

Abbildung 2.3. Vier Schritte zur Förderung von Kompetenzen im Umgang mit POPC-Gewohnheiten. Eigene Darstellung in Anlehnung an Hefner, Knop, & Klimmt, 2018

Abbildung 2.4. Mediationsmodell zur Überprüfung der Hypothesen

Abbildung 3.1. Zusammensetzung der Stichprobe hinsichtlich des Alters

Abbildung 4.1. Darstellung der Ergebnisse innerhalb des Mediationsmodells

Abbildung 5.1. Ansatzpunkte zur Bewältigung von digitalem Stress. Eigene Darstellung in Anlehnung an Kaluza (2015, 2018).

Tabellenverzeichnis

Tabelle 4.1. Deskriptive Ergebnisse inklusive Cronbach‘s Alpha der Selbstberichtsmaße

Tabelle 4.2. Schwierigkeitsindizes der einzelnen Items von Skala OV

Tabelle 4.3. Schwierigkeitsindizes der einzelnen Items von Skala AC

Tabelle 4.4. Schwierigkeitsindizes der einzelnen Items von Skala PS

Tabelle 4.5. Interkorrelationen der Skalen AC und OV auf Basis des Spearman-Rangkorrelationskoeffizienten (N =322)

Abkürzungsverzeichnis

CAMS-R Cognitive and Affective Mindfulness Scale - Revised

CHIME Comprehensive Inventory of Mindfulness Experiences

DOM Digital Overload Managemet

DN Digital Natives

engl. englisch

FFMQ Five Facet Mindfulness Questionnaire

FMI Freiburg Mindfulness Inventory

FoMO Fear of Missing Out

ICT Information and Communication Technologies

IKT Informations- und Kommunikationstechnologien

KIMS Kentucky Inventory of Mindfulness Scale

KVT Kognitive Verhaltenstherapie

MAAS Mindful Attention Awareness Scale

MBI Mindfulness-Based Interventions

MBRE Mindfulness-Based Relationship Enhancement

MBRP Mindfulness-Based Relapse Prevention

MBSR Mindfulness-Based Stress Reduction

OVS Online Vigilance Scale

POPC permanently online, permanently connected

PSS-10 Perceived Stress Scale (10-Item Version)

PVS Phantom Vibration Syndrome

PHLMS Philadelphia Mindfulness Scale

SMQ Southampton Mindfulness Questionnaire

SNS Soziale Netzwerk Seiten

SPSS Statistical Product and Service Solutions

TMS Toronto Mindfulness Scale

URL Uniform Resource Locator

U&G Uses-and-Gratification-Approach

1 Einleitung

In eine mediale Konversation involviert zu sein oder die Verfügbarkeit für diese sicherzustellen, wird nahezu an jedem Ort und zu jeder Zeit vorausgesetzt. Auch wenn sich Menschen im Gespräch mit einer physisch anwesenden Person befinden, im Straßenverkehr unterwegs sind oder eine Mahlzeit zu sich nehmen, wird die Aufmerksamkeit häufig auf das Smartphone-Display gerichtet. Die permanente Vernetzung impliziert, dass kein eigener Kontext für die Internetnutzung geschaffen werden muss. “Vielmehr ‚passiert‘ Kommunikation stets als Teil eines dichten Stroms von kommunikativen Online- und Offline-Alltagshandlungen ohne bewusste, botschafts- oder situationsspezifische Ausgestaltung innerhalb der Umstände, die gerade vorliegen.” (Vorderer, 2015, S. 274). Als Folge dessen wird die Online-Umgebung häufig als zusätzliche Ebene der Realität in diversen Offline-Settings wahrgenommen (Klimmt et al., 2018). Bevor sich Smartphones auf dem Massenmarkt etablierten, war eine klare Trennung zwischen Online- und Offline-Kontexten alleine von technischer Seite gegeben. Durch die Mediatisierung des Alltags erscheint der Verzicht auf die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) jedoch als “quite exotic action that requires unusual intentions and conscious planning and may even trigger negative affect and anxiety.” (Reinecke et al., 2018, p. 1). Es ergeben sich aus der Ubiquität von Online-Diensten und der damit einhergehenden Dauervernetzung neue Phänomene der Mediatisierung, welche mit einer Vielzahl an Chancen und Risiken einhergehen (Steinmaurer, 2016).

Anhand des „permanently online, permanently connected“- Phänomens (POPC), wird die Frage nach den Auswirkungen der Vernetzung und Mediatisierung auf das menschliche Denken, Fühlen und Handeln aufgegriffen (Vorderer, 2015). Den Kern der POPC-Forschung bildet das Konstrukt der Online-Vigilanz, welches den psychischen Zustand des permanenten Online-Seins erfasst. Es erweist sich unter POPC-Bedingungen als große Herausforderung, digitale Medien als Ressource zu nutzen, während die Gefahren abgewehrt werden (Hefner, Knop, & Klimmt, 2018). Aufgrund der durch IKT bereitgestellten schnellen und zuverlässigen Belohnungen sowie Formen der Bedürfnisbefriedigung, richten Menschen ihre Kognitionen oftmals habituell auf die Online-Umgebung aus (Reinecke et al., 2018). Aus der Intensivierung und Beschleunigung der Informationsübermittlung ergeben sich sowohl Episoden des Multitaskings als auch verschiedene Formen kognitiver Überlastungen (vgl. Misra & Stokols, 2012). Diese können in einer Überlastung der Sinne sowie in einer zunehmend fragmentierten und diskontinuierlichen Wahrnehmung der Gegenwart resultieren (O'Donnell, 2015).

Sowohl Online-Vigilanz und die die damit einhergehenden Mediengewohnheiten als auch Multitasking und kognitive Überstimulation können sich nachteilig auf das Wohlbefinden der NutzerIn auswirken, indem z.B. Stressreaktionen ausgelöst werden (Hefner & Vorderer, 2017; Reinecke, 2018). Nach Lazarus (1993) wird Stress dann wahrgenommen, wenn der Druck einer Situation die Fähigkeit übersteigt, diese zu bewältigen. “Stress zählt zu den wichtigsten gesundheitlichen Risikofaktoren mit denen Menschen in den modernen westlichen Gesellschaften konfrontiert sind” (Kaluza, 2018, S. 4). In Hinblick darauf, dass wahrgenommener Stress unter anderem signifikant mit Burnout, Ängsten und Depressionen zusammenhängt (Reinecke et al., 2017), steigt die Relevanz von adaptiven Bewältigungsstrategien. Es exisitiert eine steigende Anzahl an Belegen dafür, dass eine achtsame Haltung maßgeblich zu einem förderlichen Umgang mit Stresssituationen beiträgt (Pflügner & Maier, 2019). Achtsamkeit umfasst in den gängigen Konzeptualisierungen eine Aufmerksamkeitslenkung auf den gegenwärtigen Moment sowie ein offenes und nicht wertendes Bewusstsein für innere und äußere Reize (vgl. Bergomi, Tschacher, & Kupper, 2013a). Ein urteilsfreies und offenes Gewahrsein stellt die Voraussetzung dafür dar, dass nachteilige Mediengewohnheiten und dysfunktionale Copingstrategien von Stress als solche enttarnt und schließlich gezielt eingegrenzt werden können (Klimmt & Brand, 2018).

Auf diese Debatte Bezug nehmend untersucht die vorliegende Forschungsarbeit die Zusammenhänge zwischen Online-Vigilanz, Achtsamkeit und wahrgenommenem Stress sowie der einzelnen Achtsamkeits- und Online-Vigilanz-Dimensionen untereinander. Ziel der Arbeit ist es zu überprüfen, ob Achtsamkeit als intervenierende Variable zwischen Online-Vigilanz und wahrgenommenem Stress wirkt. Die Forschungsfrage lautet demnach: „ Fungiert Achtsamkeit als intervenierende Variable zwischen Online-Vigilanz und wahrgenommenem Stress? “. Darauf aufbauend lassen sich zwei weitere Forschungsfragen ableiten, welche im Verlauf der Forschungsarbeit beantwortet werden sollen. Diese lauten: „ Hängen Online-Vigilanz und wahrgenommener Stress miteinander und mit Achtsamkeit zusammen? “ und „ Welche Aspekte der Achtsamkeit korrelieren am stärksten mit den Online-Vigilanz-Dimensionen Salienz, Reaktionsbereitschaft und Monitoring? “. Die Relevanz der Untersuchung begründet sich durch die thematische Aktualität, die aus der permanenten Vernetzung resultierende steigende Prävalenz von digitalem Stress sowie die stressmindernde Wirkung von Achtsamkeit.

Im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit werden zunächst die zu untersuchenden Merkmale Online-Vigilanz, Achtsamkeit und digitaler Stress umrissen. Die Abschnitte eins bis drei umfassen demnach jeweils eine nähere Begriffsdefinition, typische Charakteristika sowie ein Überblick über die für das Untersuchungsziel relevanten Ergebnisse bereits durchgeführter Forschungen. Zusätzlich wird ein Überblick über die geschichtliche Entwicklung von Achtsamkeit und achtsamkeitsbasierte Interventionen geboten. Innerhalb des Themenblocks zu digitalem Stress wird das transaktionale Stressmodell nach Lazarus und Launier (1981) vorgestellt und auf digitalen Stress übertragen. In diesem Zusammenhang wird die Entstehung von digitalem Stress unter Bezugnahme von Online-Vigilanz, IKT-Multitasking und kognitiven Überlastungen erläutert. Der vierte Abschnitt bezieht sich auf die Schnittstelle von Achtsamkeit und POPC-Verhalten. Nach der Darstellung der Herausforderungen von POPC-Bedingungen, wird beschrieben, inwiefern Achtsamkeit zu einem vorteilhaften POPC-Verhalten beitragen kann. Darüber hinaus werden existierende Studien präsentiert, die auf einen Zusammenhang zwischen Achtsamkeit und Online-Vigilanz hindeuten. Es folgt ein Überblick über die vorliegende Studie sowie die Vorstellung von sieben abgeleiteten Forschungshypothesen. Innerhalb des dritten Kapitels werden nähere Informationen zu der Stichprobe sowie dem Forschungsdesign und der Durchführung der Studie dargelegt. Im vierten Kapitel werden dekriptiv- und inferenzstatistische Ergebnisse gezeigt, welche anschließend im fünften Kapitel erläutert, interpretiert und diskutiert werden. Die zentralen Aussagen der Arbeit werden vor dem Hintergrund des Forschungsgegenstands, den Ergebnissen sowie der theoretischen Ausarbeitung beschrieben und es werden Limitationen der Arbeit genannt. Abschließend wird ein Fazit gezogen und auf potenzielle weiterführende Studien ausgeblickt.

2 Theoretischer und empirischer Hintergrund

2.1 Online-Vigilanz

In diesem Abschnitt wird zunächst die POPC-Forschung erläutert und in der Forschungslandschaft eingeordnet (Unterabschnitt 2.1.1). Es folgt eine Definition von Online-Vigilanz (Unterabschnitt 2.1.2) und eine Abgrenzung von anderen Ansätzen der Online-Forschung (Unterabschnitt 2.1.3), bevor abschließend in Unterabschnitt 2.1.4 die Verstärkungsfaktoren von Online-Vigilanz beschrieben werden.

2.1.1 POPC-Forschung

Die Kommunikation über mobile Medien ist insbesondere durch die Ortsunabhängigkeit dieser, sowie die der Kommunikationspartner geprägt (Hartmann, 2016). Beide Aspekte werden durch das Smartphone vereint, welches individualisierte, flexible und mobile Kommunikation im Vergleich zu stationären Computern erst möglich macht (Bächle & Thimm, 2016). Der Trend zum Smartphone ist seit 2007 weltweit permanent gewachsen (ebd.), sodass laut einer Umfrage von Deloitte (2019) fast 90% aller Deutschen in Besitz eines Smartphones sind. Die Einsatzorte und -gebiete von Smartphones sind vielfältiger denn je, wodurch die Grenzen zwischen der Online- und Offline-Welt zunehmend verschwimmen(Silberman, 2011). „[Smartphones] represent a change in usage patterns, as many people utilize them for entertainment and information seeking via the web, for navigating space, and purchasing goods and services, all in addition to interpersonal communication.” (Malka, Ariel, Avidar, & Cohen, 2018, p. 43). Mobilkommunikation stellt einen zunehmend relevanten Impulsgeber in der Medienpsychologie und Kommunikationswissenschaft dar (Döring, 2008). Studien der Mobilkommunikationsforschung weisen auf ein hohes Ausmaß der Dauer, Frequenz und Intensität der Nutzung von Mobilkommunikation sowie auf eine gewohnheitsmäßige Nutzung dieser hin (vgl. Deloitte, 2019). In einer representative Studie mit 1.000 deutschen Smartphone-NutzerInnen gaben 74% der 18- bis 29-Jährigen und 69% der 30- bis 49-Jährigen an, dass das Smartphone eine Schaltzentrale des digitalen Alltags und den Mittelpunkt der persönlichen Unterhaltung darstellt (Telefónica, 2019). Der große Einfluss von IKT kann daher nicht nur auf quantitative Aspekte, wie der weitfassenden Reichweite medienvermittelter Kommunikation, zurückgeführt werden, sondern wird insbesondere durch qualitative Aspekte geprägt. Dazu zählt unter anderem der Bedeutungs- und Sinngehalt mobiler Kommunikation auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene(Lingenberg, 2014). Es hat sich mit zunehmender technischer Funktionalität ein Wandel in der Internetnutzung vollzogen(Silberman, 2011), welcher sich dadurch äußert, dass das menschliche Fühlen, Denken, Erleben und Handeln von der Erwartung geprägt wird, permanent online und vernetzt zu sein(Vorderer, 2015). Aufgrunddessen, dass mobile Kommunikation sehr individuell, personalisiert und teilweise intim ist, werden die “Grenzen des Beobachtbaren einer-, des Erfragbaren andererseits“ ausgereizt (Hartmann, 2016, S. 470). Die POPC-Forschung setzt genau an diesem Punkt an, indem die Folgen der Mediatisierung für das Alltagserleben sowie den Lebenswandel von Individuen betrachtet werden. Sogenannte „ always-online technologies“ ermöglichen nach Vorderer, Hefner, Reinecke, & Klimmt (2018), dass Menschen zu jeder Zeit und an jedem Ort Informationen aus dem Internet abrufen (permanently online [PO]) und sich über verschiedene Formen der Online-Kommunikation mit anderen Individuen verbinden (permanently connected [PC]) können. Die mit diesen Verhaltensweisen in Verbindung stehenden kognitiven Spuren sollen durch Online-Vigilanz greifbar und messbar gemacht werden.

Die Betrachtung von kognitionspsychologischen Fragestellungen im Kontext der POPC-Forschung bildet nach Klimmt et al. (2018) die Voraussetzung dafür, um dessen Auswirkungen auf der Mikro-, Meso- und Makroebene erforschen zu können. Als Ergänzung zu der herkömmlichen Mobilkommunikationsforschung, werden die kognitiven Spuren, die auf die Ubiquität und die intensive Nutzung von Smartphones zurück zu führen sind, durch Online-Vigilanz erfasst und systematisiert. Die POPC-Forschung lässt sich demnach an der Schnittstelle zwischen Kommunikationswissenschaft, Medien- und Kognitionspsychologie einordnen.

2.1.2 Definition von Online-Vigilanz

Das Konstrukt der Online-Vigilanz lehnt sich nach Reinecke et al. (2018) an dem psychologischen Konzept der Vigilanz an, welches definiert werden kann als „the ability to sustain attention to a task”(Oken, Salinsky, & Elsas, 2006, p. 1885). Online-Vigilanz bildet den Kern der kognitiven Präsenz der Online-Sphäre und bezieht sich auf die enge und intensive Beziehung, die NutzerInnen mit ihren Informations- und Kommunikationstechnologien pflegen (Klimmt, Hefner, Reinecke, Rieger, & Vorderer, 2018). Auch wenn sich das Wirkungsfeld der Online-Vigilanz auf alle IKT erstreckt, beschränkt sich der Fokus der vorliegenden Arbeit hauptsächlich auf Smartphones. „Das Smartphone ist vor allem deswegen so virulent im Hinblick auf Risiken und Nebenwirkungen, weil es mit entsprechenden Programmen kombiniert eine Fülle von Funktionalitäten bietet.“ (Spitzer, 2015, S. 599). Im Folgenden werden die drei Komponenten von Online-Vigilanz erläutert, die eine POPC-Denkweise beschreiben.

Salienz (engl. Salience) beschreibt die dauerhafte, oftmals automatisierte gedankliche Auseinandersetzung mit der Online-Umgebung in alltäglichen Situationen, in welchen keine physische Verbindung zum Internet besteht (Klimmt etal., 2018; Reinecke et al., 2018). Selbst wenn das Smartphone in diesem Moment nicht aktiv im Einsatz ist, so widmet sich ein Teil der Aufmerksamkeit oftmals unbewusst der Frage, was sich derzeit in der Online-Medienumgebung ereignet. Die Online-Sphäre wird aufgrund der dauerhaften Verfügbarkeit als zusätzliche Ebene der Realität in jeder Offline-Umgebung wahrgenommen (Klimmt et al., 2018).

Menschen mit einer ausgeprägten Reaktionsbreitschaft (engl. reactibility) haben sich zur Routine gemacht auf Benachrichtigungen und Inhalte in der Online-Umgebung (z. B. Neuigkeiten aus sozialen Medien, Warnungen aus einem Online-Spiel und eingehende Textnachrichten) zu reagieren, wodurch dieses Verhalten zunehmend antrainiert und verstärkt wird. Durch Smartphonesignale werden automatisierte, positiv oder negativ verstärkte Reaktionen in Menschen ausgelöst, die dazu führen, dass die Aufmerksamkeit schnellstmöglich bzw. sofort auf eingehende Benachrichtigungen gerichtet wird (Klimmt et al., 2018; Reinecke et al., 2018). Diese Bereitschaft bezieht sich sowohl auf Situationen, in denen während der Smartphone-Nutzung entschieden werden muss, ob auf bestimmte Inhalte reagiert wird, als auch Momente, in welchen die Aufmerksamkeit durch ein Signal (z.B. Blinken oder Vibrieren) auf den Bildschirm gerichtet wird. Dadurch, dass Menschen mit einer hohen Reaktionsbereitschaft IKT-Nutzung hoch priorisieren, werden Offline-Aktivitäten häufig zugunsten dieser unterbrochen (Klimmt et al., 2018). Desweiteren werden Geräusche in der Umgebung oft fälschlicherweise als Smartphone-Signale wahrgenommen (Tanis, Beukeboom, Hartmann, & Vermeulen, 2015). Dies wird als Phantom Vibration Syndrome (PVS) beschrieben (Rothberg, et al., 2010).

Als dritte Komponente der Online-Vigilanz, bezieht sich Monitoring auf das kontinuierliche Beobachten des Online-Geschehens, indem die neuesten Entwicklungen auf verschiedenen IKT-Kanälen und das Verhalten von relevanten Personen verfolgt werden. Durch diese Überwachung und permanente Informiertheit wird ein Gefühl von Beständigkeit, insbesondere in Verbindung mit der Online-Community, aufrechterhalten (Klimmt et al., 2018; Reinecke et al., 2018). Menschen mit einer hohen Ausprägung von Monitoring zeichnen sich durch das Verhalten aus, relevante Informationen und Veränderungen in der Online-Umgebung genauso im Blick zu haben wie in einem Offline-Kontext (Klimmt et al., 2018).

2.1.3 Abgrenzung der Online-Vigilanz von Gewohnheit, Sucht und Multitasking

Um Online-Vigilanz erforschen und von seinen Antreibern und Konsequenzen unterscheiden zu könnnen, muss das Konstrukt zunächst theoretisch von verwandten Konzepten getrennt werden (Schneider, Reich, & Reinecke, 2018). Da die Nutzung von IKT mit immer wieder auftretenden und zuverlässigen positiven Assoziationen verknüpft ist, entstehen leicht Gewohnheitsmuster, welche potenziell süchtig machen (Klimmt et al., 2018; Oulasvirta, Rattenbury, Ma, & Raita, 2012; Reinecke et al., 2018; Wang & Tchernev, 2012). Bei Gewohnheiten handelt es sich um automatisch entstehende Assoziationen, welche sich dadurch bilden und verstärken, dass ein Verhalten unter ähnlichen Bedingungen wiederholte Male ausgeführt wird und dieses schließlich automatisch durch situative Umweltsignale ausgelöst werden kann. Wie jedes Verhalten, kann auch die Nutzung von Online-Medien zur Gewohnheit werden. Alle drei Dimensionen der Online-Vigilanz beinhalten habituelle Verhaltensweisen, die durch situationsbedingte Reize gesteuert werden und automatisches, unkontrolliertes und impulsives Verhalten bzw. Kognitionen auslösen. Die Online-Vigilanz-Dimensionen umfassen jedoch zudem bewusste und zielgereichtete Aufmerksamkeitsformen sowie Bemühungen zur Befriedigung situativer Bedürfnisse, welche keine Gewohnheiten darstellen (Reinecke et al., 2018). Online-Vigilanz und Mediengewohnheiten sind daher als eng verwandte und dennoch unterschiedliche Konzepte zu verstehen (Reinecke et al., 2018; Schneider et al., 2018).

Ein weiteres Konzept, das häufig von Gewohnheitsmustern durchzogen ist und eng mit Online-Vigilanz verbunden ist, stellt IKT-Multitasking dar (Reinecke et al., 2017). Multitasking ist allgemein definiert als das gleichzeitige oder parallele Ausüben von zwei oder mehreren Aktivitäten (David, 2018; Xu & Wang, 2018). Der Begriff wird in der wissenschaftlichen Literatur und im allgemeinen Sprachgebrauch allerdings zumeist mit Task-Switching (Aktivitätswechsel) vermischt. Obwohl es so scheint als würden zwei Aktivitäten zur selben Zeit und ohne Unterbrechung ausgeübt werden, findet tatsächlich ein sehr feiner und schneller Wechsel zwischen diesen statt (David, 2018; Urner, 2019). Wenn mindestens eine der beim Multitasking ausgeübten Aktivitäten eine Form von IKT einschließt, wird dies als IKT-Multitasking bezeichnet (Hefner & Vorderer, 2017). Auch innerhalb eines Geräts kann IKT-Multitasking auftreten, wenn z.B. im Internetbrowser mehrere Fenster geöfnet sind (Kononova & Chiang, 2015). Salvucci & Taatgen (2011) unterscheiden zwischen simultanem und sequentiellem Multitasking. Während die Aufgaben bei dem simultanen Multitasking entweder gleichzeitig ausgeführt oder innerhalb von (Sub-)Sekunden gewechselt werden, können die Zeitintervalle des Aufgabenwechsels beim sequentiellen Multitasking in Minuten oder Stunden gemessen werden. In einer Studie von Reinecke et al. (2018) wurde eine hohe Korrelation zwischen Online-Vigilanz und Internet-Multitasking festgestellt. Medien-Multitasking stellt nicht nur ein Symptom, sondern auch eine Konsequenz von Online-Vigilanz dar (Reinecke et al., 2018; Schneider et al., 2018). Die Tendenz über Online-Inhalte und -Kommunikation nachzudenken, auf diese zu reagieren oder sie regelmäßig zu überprüfen, gilt als Voraussetzung dafür, dass Online-Medien in die Offline-Aktivitäten von Menschen integriert werden (Reinecke et al., 2018). „Der Trend des Phänomens Multitasking, zunehmend auch gefördert durch das Medium Internet […], führt zu einer zunehmenden Abhängigkeit von diesen Medien und fördert Suchtverhalten, wie pathologisches Mediennutzungsverhalten sowie die Manifestation von Medien- und Onlinesucht.“ (Kläser, 2015, S. 27).

Es existiert eine Uneinigkeit darüber wie Internetsucht bzw. -abhängigkeit definiert und von problematischer Internetnutzung abgegrenzt werden kann(Pontes, Kuss, & Griffiths, 2015). Nach Gámez-Guadix und Calvete (2016) umfassen sowohl problematische Internetnutzung als auch Internetnetsucht die folgenden vier Komponenten: Priorisierung von sozialen Online-Interaktionen vor Face-to-Face-Beziehungen; Stimmungsregulierung durch das Internet; mangelhafte Selbst-regulierung von Kognitionen und Verhaltensweisen im Zusammenhang mit der Nutzung des Internets; und das Auftreten negativer Ergebnisse als Folge der Internetnutzung. Ein intensiver und anhaltender Konsum des Internets stellt laut Marino, Gini, Vieno und Spada (2018) im Gegensatz zu einer mangelnden Impulskontrolle an sich kein Suchtsymptom oder problematisches Nutzungsverhalten dar. Owen, Heisterkamp, Halfmann und Vorderer (2018) beschreiben Online-Vigilanz als “a condition which falls short of addiction but still may yield some […] problematic outcomes […], and appears to be widespread.“ (p. 3). Online-Vigilanz zeigt einige Überschneidungen zu Symptomen, die mit Internetsucht im Allgemeinen und speziell Smartphonesucht assoziiert sind. Dies wird insbesondere anhand der Salienz-Dimension der Online-Vigilanz deutlich, welche häufig als Indikator für Internet- und Smartphonesucht bewertet wird (Pontes et al., 2015). Im Kontext der Internet- und Smartphonesucht handelt es sich jedoch um eine extreme und pathologische Form der Salienz, die mit obsessiven Gedanken sowie einem unwiderstehlichen Drang nach der Online-Umgebung einhergeht (Reinecke et al., 2018). Auch hinsichtlich der Prävalenz von Online-Vigilanz und Internetsucht lassen sich große Unterschiede erkennen. Lediglich ein sehr kleiner Teil der allgemeinen Bevölkerung leidet an einer Internetsucht (Klimmt & Brand, 2018; Pontes et al., 2015), während Online-Vigilanz eine direkte Folge alltäglicher Internetnutzung darstellt und somit eine große Anzahl an NutzerInnen betrifft (Reinecke et al., 2018). Internet- und Smartphonesucht ist ausschließlich negativ und kann ernsthaft negative Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit und psychische Gesundheit der Betroffenen haben (Johannes et al., 2018; Kläser, 2015; Reinecke et al., 2018). Online-Vigilanz hat im Gegensatz dazu sowohl positive als auch negative Funktionen, welche in dem anschließenden Unterabschnitt beschrieben werden.

2.1.4 Verstärkungsfaktoren von Online-Vigilanz

Die Erforschung von den der Mediennutzung zugrundeliegenden Motiven hat eine lange Vorgeschichte. Der Forschungsansatz lässt sich dem Nutzen- und Belohnungsansatz (engl. Uses-and-Gratification-Approach [U&G]) von Katz, Haas und Gurevitch (1973) zuordnen. „In the domain of mass communication, U&G studies typically identified five generic clusters of needs that media can fulfill: cognitive, affective, personal integrative, social integrative, and diversion (Katz, Haas, & Gurevitch, 1973).“ (Malka et al., 2018, p. 44). Einige dieser Bedürfnisse decken sich mit den Motiven der Nutzung von neuen digitalen Medien. Nach Hofmann, Reinecke und Meier (2017) werden Medien häufig zur Erfüllung von psychologischen und sozialen Bedürfnissen genutzt, weshalb gelernt wird, bestimmte Medienverhaltensweisen mit positiven affektiven Zuständen zu verbinden. Dieses Verhalten kann durch die Lerntheorie der operanten Konditionierung (Skinner, 1938) beschrieben werden. Demnach lernt ein Individuum so zu handeln, dass bestimmte Effekte erzielt werden (Schlag, 2013). Durch operante Konditionierung (und insbesondere positive und negative Verstärkung) wird gelernt, sich den Medien(inhalten) zuzuwenden, welche die aktuelle Stimmung verbessern können (vgl. Skinner, 1938; Zillmann, 1988). In einer Studie von Engel (2019) wurde herausgefunden, dass IKT insbesondere dann als Instrument der Stimmungsregulierung eingesetzt werden, wenn versucht wird, negativ assoziierte Stimmunglagen (wie z. B. Müdigkeit, Einsamkeit und Ärger) zu vermeiden. Die Regulation der Stimmung wird durch die Mood-Management-Theorie von Zillmann (1988) beschrieben. „[B]ecause mood management processes are based on operant conditioning, people may, but need not, be cognizant of the reasons for their choices.” (Nabi, 2009, p. 207).

Viele NutzerInnen schreiben ihrem Smartphone eine besondere Relevanz in ihrem Leben sowie Wertschätzung und Anerkennung zu, da sie viele positive Erfahrungen mit diesem verbinden. Dazu zählt eine schnelle und zuverlässige Bereitstellung verschiedenartiger Belohnungen und die damit häufig einhergehende schnelle Form der Bedürfnissbefriedigung (Klimmt et al., 2018). Das Leben in einer POPC-Umgebung beinhaltet zahlreiche Möglichkeiten, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Hierzu zählt insbesondere das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Informiertheit, sozialem Vergleich (Hefner et al. 2018), Bindung, Beziehungen, Kommunikation und Bestätigung (Schneider et al., 2018). Die Ausprägung der individuellen Online-Vigilanz ist umso höher, je mehr die durch mobile Medien entstehende Befriedigung mit der Bedürfnisstruktur der NutzerIn übereinstimmt (Reinecke et al., 2018). Smartphones bieten Zugang zu diversen Quellen der sozialen Unterstützung, Ressourcen zur Wissensaneignung, Programmen, die unterstützend bei der Selbstoptimierung wirken, sowie vielseitigen Formen der Unterhaltung (Johannes et al., 2018; Klimmt et al., 2018). Somit hat Online-Vigilanz laut Johannes et al. (2018) das Potenzial zu einem gesteigerten Wohlbefinden beizutragen. Online-Vigilanz wird insbesondere bei Personen mit einer mangelnden Selbst- und Impulskontrolle festgestellt (Schneider et al., 2018). Kononova und Chiang (2015) fanden heraus, dass Kontrolle, Unterhaltung, Sucht sowie die Verbindung zu anderen Menschen als Hauptmotive der Nutzung von IKT gelten. Der permanente Zugang zu Unterhaltung kann in Menschen die Erwartung wecken, dass aversive Zustände, wie Langeweile, Traurigkeit und Wut, jederzeit vermieden werden können (Klimmt et al., 2018). Die Nutzung mobiler Medien ermöglicht eine mentale Loslösung und somit eine psychologische Distanz von dem, was eine Person vor der Nutzung getan hat. Aus diesem Grund bieten Smartphones die Möglichkeit eine Pause von alltäglichen und insbesondere jobbezogenen Aufgaben einzulegen und so zu einer Erholung von der Belastung beizutragen (Rieger, Hefner, & Vorderer, 2017). Es konnte gezeigt werden, dass das Smartphone zu einer besseren Erholung von Menschen beitragen kann, wenn diese bspw. online in Verbindung zu nahestehenden Personen stehen (Laakso, 2014).

Online-Vigilanz kann jedoch auch durch negative Assoziationen mit IKT verstärkt werden. Viele Menschen verspüren im beruflichen und im privaten Kontext eine soziale Verpflichtung eingehende Mobilkommunikation schnellstmöglich zu verarbeiten, um negative Konsequenzen zu vermeiden (Klimmt et al., 2018). Der soziale Druck, erreichbar zu sein, kann als Verstärkungsfaktor der Nutzung von IKT und insbesondere Online-Vigilanz betrachtet werden (Reinecke et al., 2018). Auch Angst stellt einen Verstärkungsfaktor von Online-Vigilanz dar. Eine mit IKT und insbesondere Smartphones einhergende Form der Angst ist die Angst vor dem Verpassen erfreulicher (sozialer) Ereignisse und Erfahrungen, welche unter dem Akronym FoMO (engl. Fear of Missing Out) bekannt ist (Przybylski, Murayama, DeHaan, & Gladwell, 2013). Obwohl das Gefühl, etwas zu versäumen, schon immer existiert, hat diese Angst durch IKT und dessen Ubiquität enorm zugenommen (Spitzer, 2015). Eine Vielzahl an Studien hat die Angst, etwas zu verpassen, als einen zentralen Antreiber der kognitiven Beschäftigung mit Sozialen Netzwerk Seiten (SNS) und Online-Kommunikation identifiziert (vgl. Fox & Moreland, 2015; Przybylski et al., 2013; Reinecke et al., 2017). Beyens, Frison und Eggermont (2016) zeigten, dass die Mediennutzung von Jugendlichen durch FoMo verstärkt wird und zu mehr wahrgenommenem Stress führt. Ein weiterer durch Angst ausgelöster Antreiber der Smartphone-Nutzung bezieht sich auf die Angst das Smartphone nicht nutzen zu können und somit nicht erreichbar zu sein. Diese wird als Nomophobie (engl. nomophobia) bezeichnet (Gabriel & Röhrs, 2017). Genau wie FoMo resultiert auch Nomophobie zumeist in einer häufigen IKT-Nutzung sowie Stress(Bhattacharya, Bashar, Srivastava, & Singh, 2019). Es gibt jedoch auch Situationen, in denen Angst durch das Smartphone entschärft und somit das Sicherheitsbedürfnis von Menschen gestillt wird. Durch die Gewissheit, dass durch das Handy jederzeit Hilfe gerufen werden kann, erscheinen einige ursprünglich angstbehaftete Gegebenheiten (z.B. nächtliche Heimwege) weniger bedrohlich (Spitzer, 2015). Allgemein lässt sich sagen, dass die spezifischen Umwelt- und Situationsfaktoren, wie technische Fähigkeiten und Normen, zu einer unterschiedlich hoch ausfallenden Priorisierung von Smartphones beitragen (Schneider et al., 2018).

2.2 Achtsamkeit

In diesem Abschnitt wird die Definition und Geschichte von Achtsamkeit erläutert (Unterabschnitt 2.2.1) und anschließend ein Überblick über achtsamkeitsbasierte Interventionen gegeben (Unterabschnitt 2.2.2). In Unterabschnitt 2.2.3 wird der aktuelle Forschungsstand des Konstrukts hinsichtlich der Auswirkungen beschrieben.

2.2.1 Definition und Geschichte von Achtsamkeit

Achtsamkeit findet seinen Ursprung im Buddhismus um das Jahr 500 v. Chr. (Lomas et al., 2017; Michalak, Hofheinz, & Heidenreich, 2016) und stößt erst seit ca. 1980 auf großes Interesse in der westlichen Welt (Heschel, 2018). Es existiert eine große Bandbreite verschiedener, teilweise nicht konsistenter Definitionen sowie damit einhergehend auch Dimensionen und Aspekte von Achtsamkeit(Berthon & Pitt, 2019) . Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Achtsamkeit großen Anklang in der Wissenschaft findet und je nach Forschungsbereich unterschiedliche Aspekte des Konstrukts hervorgehoben werden(Heschel, 2018). Kabat-Zinn gilt als Pionier der Integration von Achtsamkeit in den klinisch-psychologischen Bereich (Michalak et al., 2016). Er weist darauf hin, dass Achtsamkeit erst durch eigene praktische Erfahrungen verstanden werden kann. „Mindfulness can only be understood from the inside out. It is not one more cognitive-behavioural technique […] but a way of being and a way of seeing that has profound implications for understanding our own minds and bodies […]“ (Kabat-Zinn, 2011, p. 284). Aufgrund sowohl mangelnder als auch individuell ausfallender Achtsamkeitspraktiken existieren zwangsläufig unzählig viele Versionen des Achtsamkeitsverständnisses (Böhme, Geiger, Grossman, Schrader, & Stanzus, 2016).

Der Begriff Achtsamkeit (engl. mindfulness) wird häufig als die gängigste Übersetzung des Pāli-Wortes sati verstanden, welche auf den britischen Übersetzer T.W. Rhys Davids zurückzuführen ist (Berthon & Pitt, 2019). Sati wird als zentrales Konzept der buddhistischen Lehre verstanden und bedeutet etymologisch „to remember “ (Berthon & Pitt, 2019) bzw. „Gedächtnis“ (vgl. Heschel, 2018). Die ursprüngliche Bedeutung von sati beinhaltet nach Berthon & Pitt (2019) zwei Perspektiven. Die erste Perspektive beschreibt den Akt des Erinnerns, indem zu einem Objekt der Aufmerksamkeit oder einem offenen Bewusstsein zurückgekehrt wird. Die Fähigkeit, sich selbst zu überwachen und auf Ablenkungen des Verstands aufmerksam zu machen, wird in der zweiten Perspektive aufgegriffen. Laut Stanley (2015) stellt sati im Buddhismus ein komplexes Konzept dar, dessen Bedeutung je nach dem Kontext variiert, in dem es verwendet wird(Stanley, 2015). Lomas (2016) argumentiert, dass sati in der westlichen Welt als die konzeptuelle Wurzel von Achtsamkeit dargestellt wurde, um das Konzept für ein säkulares, westliches Publikum zugänglich zu machen. Es existieren im Pāli Kanon (in welchem die Lehren Buddhas in schriftlicher Form festgehalten sind) jedoch zwei weitere Wörter, die konzeptuell mit Aufmerksamkeit verbunden sind: appamada (von ethischer Fürsorge geprägte Aufmerksamkeit) und sampajañña (Bewusstsein, das von einem Gefühl spirituellen Fortschritts durchdrungen ist) (ebd.). Die Gelehrten und Praktiker, die dazu beigetragen haben, Achtsamkeit in der westlichen Welt zu kultivieren, haben allgemein versucht die religiösen, ethischen und esoterischen Dimensionen des Konzepts auszuklammern, welche eine potenziell abschreckende Wirkung haben. Diese Säkularisierung ist dadurch vorangetrieben worden, dass Achtsamkeit in der Psychologie und in den klinischen Wissenschaften vor allem durch kognitive Theorien der Aufmerksamkeit operationalisiert wurde (ebd.). Ohne die Säkularisierung hätten achtsamkeitsbasierte Interventionen und Achtsamkeit im Allgemeinen nach O’Donell (2015) keinen Einzug in Institutionen und Organisationen gefunden, da dort großen Wert auf experimentelle wissenschaftliche Beweise gelegt wird.

Als das gängigste Achtsamkeitsverständnis in der westlichen Welt gilt das Zwei-Komponenten-Modell der Achtsamkeit von Bishop et al. (2004). Das Modell ist das Resultat des 2004 veranstalteten Konsensustreffens in Toronto, bei welchem die Entwicklung einer wissenschaftlich zugänglichen und operationalisierbaren Definition von Achtsamkeit angestrebt wurde (ebd.). Achtsamkeit kann demnach durch die folgenden zwei miteinander verbundenen Prozesse konzeptualisiert werden: (1) Selbstregulation der Aufmerksamkeit und (2) Orientierung an der Erfahrung. Der erste Aspekt bezieht sich darauf, dass die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment (einschließlich Gefühle, Wahrnehmungen und Empfindungen) gerichtet und dort gehalten wird (ebd.). Diese Fähigkeit kann insbesondere durch Meditationen trainiert werden (Schmidt, 2015). Nach Bergomi et al. (2013a) beinhaltet die Selbstregulation der Aufmerksamkeit ebenfalls bewusstes Handeln. Dies sagt aus, dass keine Aktivitäten gleichzeitig oder im „Autopilot-Modus“ ausgeführt werden. Die zweite Komponente bezieht sich auf eine Orientierung auf das gegenwärtige Erleben, welche sich durch Offenheit, Neugier und Akzeptanz kennzeichnet (ebd.). In weiteren einflussreichen Definitionen von Achtsamkeit wird diese Komponente unter anderem durch eine nicht-urteilende, nicht-reaktive, nicht-vermeidende, mitfühlende, dezentrierte und offenherzige Haltung, einsichtsvolles Verstehen sowie eine Nicht-Identifikation mit Erfahrungen ergänzt (Böhme et al. 2016; Brown & Ryan 2004; Kabat-Zinn, 2003; Lau et al. 2006; Robins 2002; Teasdale et al. 2002; Walach et al. 2006). Das grundsätzliche Ziel einer Achtsamkeitspraxis stellt nach Bishop et al. (2004) die Entwicklung von einsichtsvollem Verstehen dar. Aufmerksamkeit und eine einsichtsvolle, annehmende Haltung hängen eng miteinander zusammen und begünstigen sich gegenseitig (Bergomi, Tschacher, Kupper, 2014). „ Insightful understanding means understanding thoughts and feelings from a broader perspective, being aware of their relativity and caducity, and gaining insight into the inner workings of the mind.“ (Bergomi et al., 2013a, p. 21). Die Bereitschaft mit angenehmen und unangenehmen Erfahrungen konfrontiert zu werden, drückt sich durch eine offene und nicht-vermeidende Haltung aus. Diese gilt als Voraussetzung für die Entwicklung von Achtsamkeit, und insbesondere für die Aufmerksamkeitslenkung auf den gegenwärtigen Moment. Eine nicht-reaktive, dezentrierte Orientierung sagt aus, dass Emotionen und Gedanken beobachtet werden können, ohne sich mit ihnen zu identifizieren (Bergomi et al., 2014). „Hence, mindfulness can be conceptualized as a form of attention characterized by a range of attributes or aspects, which are distinct but overlapping (e.g., acceptance and non- judgment).“ (Bergomi, Tschacher, & Kupper, 2013b, p. 192). In der vorliegenden Untersuchung wird analog zu der in Abschnitt 3.3 erläuterten CHIME-Skala die Achtsamkeitsdefinition von Böhme et al. (2016) übernommen, welche auf das buddhistisch tradierte Verständnis von Achtsamkeit zurückgeht und durch eine regelmäßige Meditationspraxis kultiviert wird. „Achtsamkeit ist definiert als das unvoreingenommene Gewahrsein, welches durch das absichtsvolle und kontinuierliche Beachten eigener augenblicklicher Erfahrungen mit einer offenen, annehmenden, wohlwollenden und mitfühlenden Haltung entsteht.“ ( Böhme et al. 2016, S. 5).

2.2.2 Achtsamkeitsbasierte Interventionen

Achtsamkeitsbasierte Interventionen (Mindfulness-Based Interventions [MBIs]) finden insbesondere Anwendung im Kontext der Medizin und Gesundheitsförderung (Kohls, 2013), wobei die Stressbewältigung durch Achtsamkeit (Mindfulness-Based Stress Reduction [MBSR]) den ältesten und bekanntesten Ansatz darstellt. MBSR ist ein in den späten 1970er Jahren entwickeltes standardisiertes und psychoedukatives achtwöchiges Programm und beinhaltet eine strukturierte Trainingsintervention (Wimmer et al., 2016). Das Programm wurde von dem US-amerikanischen Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn entwickelt, welcher eine Schlüsselrolle bei der Einführung von Achtsamkeit im Westen spielte (Berthon & Pitt, 2019; Kohls, 2013, Lomas, 2017). MBSR beruht hauptsächlich auf verschiedenen introspektiven, achtsamkeitsbasierten Techniken wie BodyScan, formeller Meditation, achtsamen Essens sowie Yoga-Übungen (Ernst, Esch & Esch, 2009; Kohls, 2013, Tang, 2019). Der Kern achtsamkeitsbezogener Interventionen wird durch formale Meditationspraktiken und Achtsamkeitsübungen gebildet (Creswell, 2017), welche sich wiederrum in fokussierte Achtsamkeit und breite Achtsamkeit unterteilen lassen. Bei der fokussierten Achtsamkeit wird die Aufmerksamkeit auf eine Sache (z.B. auf die Atmung) gelenkt, und bei der breiten Achtsamkeit wird mit allen Sinnen aufmerksam wahrgenommen, was in dem aktuellen Moment sowohl innerhalb der Person als auch in der Umwelt (z.B. während achtsamer Bewegungen) passiert (Good et al., 2016). Häufig beginnen achtsamkeitsbasierte Therapieprogramme mit fokussierter Achtsamkeit, da die breite Achtsamkeit eine gewisse Erfahrung voraussetzt (Michalak et al., 2016). Im klinischen Kontext konnte MBSR häufig effektive Wirkungen zeigen (vgl. Hofmann, Sawyer, Witt, & Oh, 2010; Keng, Smoski, & Robins, 2011; Eberth & Sedlmeier, 2012). MBSR hat die Entwicklung vieler weiterer Achtsamkeitsinterventionen gefördert, welche dieselbe grundlegende Programmstruktur aufweisen und lediglich hinsichtlich der zu behandelnden Populationen oder Wirkungen modifiziert wurden(Creswell, 2017). Dazu zählt z.B die Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT) von Segal, Williams und Teasdale (2002), welche Verfahren aus der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) mit achtsamkeitsbezogenen Elementen verknüpft und Anwendung bei Menschen mit rezidivierenden Depressionen findet (Ernst et al., 2009; Tang, 2019). Andere später aufkommende Interventionen beziehen sich bspw. auf verbesserte zwischenmenschliche Beziehungen (Mindfulness-Based Relationship Enhancement [MBRE]) oder Drogensucht (Mindfulness-Based Relapse Prevention [MBRP])(Creswell, 2017). “Achtsamkeitsmethoden [beinhalten] immer mehrere Komponenten […] und […] es [gibt] kein Programm für ‘reine’ Achtsamkeit […], dessen einzige Komponente in Achtsamkeit an sich besteh[t].” (Tang, 2019, S. 19). Viele Programme beinhalten achtsamkeitsfokussierte Verfahren ohne explizit den Begriff “Achtsamkeit” im Namen zu tragen (Tang, 2019). Es existieren eine Reihe an Internet- und Smartphonebasierten Achtsamkeitsinterventionen wie z.B. Headspace, welches weltweit mehr als zwei Millionen aktive NutzerInnen hat. Diese digitalen Programme profitieren von POPC-Bedingungen insofern, dass sie im Vergleich zu herkömmlichen Interventionen überall verfügbar sind und eine größere Reichweite (darunter schwer erreichbare Bevölkerungsgruppen) erzielen (Creswell, 2017). Appbasierte Achtsamkeitstrainings (welche als mHealth Apps kategorisiert werden können, vgl. Eftychiou & El Morr, 2017) zeigen ähnlich positive Wirkungen wie herkömmliche Achtsamkeitsinterventionen (vgl. Howells, Ivtzan, & Eiroa-Orosa, 2016 für Headspace und Möltner, Leve, & Esch, 2018 für 7Mind).

Auch in der Führungsforschung(Sauer & Kohls, 2011; Lange & Rowold, 2019), in der Pädagogik (Kaltwasser 2008, 2010, 2016), im Militär (Brintz et al., 2019), im Strafrvollzug(Samuelson, Carmody, Kabat-Zinn, & Bratt, 2007), sowie in zahlreichen weiteren Bereichen, werden MBI eingesetzt. „ Sucht man mit Google nach Videos zu ‚Achtsamkeit‘, werden über 150.000 Treffer angezeigt – zu ‚mindfulness‘ sind es über 16Mio. [sic!] Eine Suche über Thalia.de zu ‚Achtsamkeit‘ in der Rubrik ‚Ratgeber‘ ergab knapp 700 Treffer […]“ (Schindler, 2020, S. 112). Das steigende Interesse an Achtsamkeittraining kann unter anderem auf die psychosomatischen Symptome von Angst und Stress zurückgeführt werden, welche zum Teil eine Folge der digitalen Ablenkung und permanenten Vernetzung darstellen (O’Donell, 2015) (vgl. Unterabschnitt 2.3.2). Selbst kurze Achtsamkeitsinterventionen, welche z.B. 3-4 Sitzungen mit 5-10-minütigen geführten Meditationen beinhalten, können affektive Reaktivität und impulsives Verhalten unmittelbar nach dem Training eindämmen (vgl. Papies, Pronk, Keesman, & Barsalou, 2015; Westbrooket al., 2013).

2.2.3 Auswirkungen von Achtsamkeit

In den ersten Studien, die die Effekte von achtsamkeitsbasierter Therapie ergründeten, wurde auf die Erfassung von Achtsamkeit verzichtet, da vorausgesetzt wurde, dass sich die StudienteilnehmerInnen durch die vorher ausgewählten Meditations- und Achtsamkeitsübungen eine höhere Achtsamkeit antrainiert hatten (Michalak et al., 2016). Viele Forscher sind sich jedoch heutzutage darin einig, dass zur Untersuchung der Auswirkungen von Achtsamkeit, valide Messmethoden von großer Bedeutung sind (Bergomi et al., 2013a; Michalak et al., 2016). „Gemessen an der enorm gestiegenen Zahl der wissenschaftlichen Publikationen (mittlerweile weit über 1000; Van Dam et al. 2018), hat sich Achtsamkeit in den letzten zwanzig Jahren in der psychologischen Forschung zu einem hot topic entwickelt (Brown et al. 2015).“ (Schindler, 2020, S. 112). Seit Anfang der 2000er Jahre wurden zahlreiche Achtsamkeitsfragebögen entwickelt und validiert, welche das Konstrukt über Selbstberichte messen. Achtsamkeit kann sowohl als kurzfristig veränderbarer, momentaner Zustand (State) als auch als grundlegende Persönlichkeitseigenschaft (Trait) definiert und gemessen werden (Böhme et al., 2016). Während Traits interindividuelle Unterschiede abbilden, können States innerhalb einer Person aufgrund situativer Faktoren variieren (Michalak et al., 2016). Trait-Mindfulness und State-Mindfulness beschreiben zwei verwandte und dennoch unterschiedliche Konstrukte (Bergomi et al., 2013a; Böhme et al., 2016). In Hinblick darauf, dass sich Achtsamkeit durch ein Bewusstsein des gegenwärtigen Moments auszeichnet, erscheint es nach Böhme et al. (2016) plausibel, das Konstrukt als State zu definieren. Andererseits sei zu überlegen, ob sich Achtsamkeit zu einer Eigenschaft oder einem Persönlichkeitsmerkmal entwickeln kann, wenn sich ein Individuum über einen langen Zeitraum hinweg in Achtsamkeit übt. Auch bei achtsamkeitsbasierten Interventionen wird davon ausgegangen, dass eine wiederholte Meditationspraxis Achtsamkeit als Zustand kultiviert, und im Laufe der Zeit voraussichtlich zu einer Zunahme der Achtsamkeit als Eigenschaft führt(Kiken, Garland, Bluth, Palsson, & Gayland, 2015). Es wird kontrovers diskutiert, ob es überhaupt möglich ist, Achtsamkeit quantitativ zu erfassen (Böhme et al., 2016). Alternativ wird vorgeschlagen den Forschungsschwerpunkt von Achtsamkeit auf qualitative Untersuchungen und den Einsatz von Interviewmethoden zu legen (ebd.).

Der Fokus der aktuellen Achtsamkeitsforschung liegt zunehmend darauf, inwiefern Achtsamkeit die psychische und physische Gesundheit beeinflusst (Baer 2010; Coffey und Hartman 2008). Das Konstrukt der Achtsamkeit ist assoziiert mit gesünderen Essensgewohnheiten, besserer Schlafqualität, körperlicher Gesundheit (z.B. Murphy, Mermelstein, Edwards, & Gidycz, 2012) sowie verminderten Angst- und Depressionssymptomen (Masuda & Tully, 2012). Achtsamkeit hat große Auswirkungen auf die Stressregulation (Creswell & Lindsay, 2014) und kann (bspw. durch einen sinkenden Cortisol-Spiegel) Stressreaktionen abdämpfen (Brown, Weinstein, & Creswell, 2012; Hickset al., 2020). Eine Fülle an Untersuchungen weisen auf einen negativen Zusammenhang zwischen selbstberichteter Achtsamkeit und wahrgenommenem Stress hin (z.B. Ataneset al., 2015; Black, Sussman, Johnson, & Milam, 2012; Chu, 2010; Gard et al., 2012; Vivian et al., 2019). „[ D]as Einüben von Achtsamkeit [hat] nicht nur gesundheitsbezogene […] Nutzen […], sondern [kann] sich auch positiv auf die Potenzialentfaltung in Bezug auf Dimensionen wie Lernen, Kreativität oder soziale und ethisch-moralische Kompetenz auswirken“ (Kohls, 2013, S. 88) .

Im Vergleich zu den gesundheitswissenschaftlichen Folgen, gibt es weit weniger wissenschaftliche Untersuchungen, welche die Auswirkungen von Achtsamkeit in anderen Bereichen untersuchen (Kohls, 2013). Empirische Beweise deuten jedoch darauf hin, dass Achtsamkeit die kognitive Leistungsfähigkeit von gesunden Menschen in einer Reihe von Bereichen von der Schule bis zum Geschäftsleben verbessert. Dazu zählen bspw. Verbesserungen bezüglich der kognitiven Kapazität(Smallwood & Schooler, 2015) sowie fluider Intelligenz (Gard et al., 2014). Nach Vago und Silbersweig (2012) führt Achtsamkeit zu „ meta-awareness (self-awareness), an ability to effectively modulate one’s behavior (self-regulation), and a positive relationship between self and other that transcends self-focused needs.” (p.1). Ostafin, Robinson und Meier (2015) merken an, dass es eine Reihe verschiedener und teilweise verflochtener Argumente gibt, welche auf den Zusammenhang zwischen Achtsamkeit und Selbstregulation hinweisen. Achtsamkeit wird positiv mit Emotionsregulation assoziiert (Eberth & Sedlmeier, 2012), unter anderem in Bezug auf negativen Affekt als Reaktion auf Stressoren (Arch & Craske, 2010). Tief verwurzelte und oftmals automatisierte Verhaltensweisen können mithilfe von Achtsamkeit verändert werden (Good et al., 2016). Eine wachsende Anzahl an Forschungsarbeiten zeigen die positiven Auswirkungen von Achtsamkeitstraining bei der Behandlung von zwanghaft-süchtigem Verhalten (z.B. Nikotinsucht: Westbrook, Creswell, Tabibnia, Julson, Kober, Tindle, 2013; Sex- und Essenszwang: Papies et al., 2014). „[T]he success of these trainings is explained by their potential to strengthen the ability of an individual and to accept negative states that usually trigger craving and performing compulsive behavior.“ (Hefner et al., 2018, p. 182) . Durch Achtsamkeit soll eine Pause zwischen dem Stimulus und der habituellen Reaktion erzeugt werden, wodurch Menschen ermöglicht wird, frei zu entscheiden und demnach ihr Verhalten selbst zu regulieren (Good et al, 2016). Allgemein unterstützt Achtsamkeit nach Ostafin et al. (2015) „more reflective, less reactive mode[s] of brain functioning.“ (p. 3).

Die beschriebenen Auswirkungen weisen auf eine Vielzahl an ausschließlich vorteilhaften Funktionen von Achtsamkeit hin. Daher ist nach Schindler (2020) „[e]in nüchterner, prüfender, ja achtsamer Blick auf den aktuellen Forschungsstand […] gefordert, um eventuelle Fehl- bzw. Überinterpretationen und Limitationen zu identifizieren.“ (S. 112). Es gibt eine geringe Anzahl an ersten Publikationen, in denen unerwünschte Effekte von Achtsamkeit aufgezeigt werden. In einer Studie von Creswell, Pacilio, Lindsay, Warren und Brown (2014) wurde gezeigt, dass eine 25-minütige Achtsamkeitsmeditation an drei aufeinanderfolgenden Tagen zu einer geringeren Wahrnehmung von Stress während einer im Labor erzeugten Stressherausforderung führte. Gleichzeitig wurde eine erhöhte Cortisol-Reaktivität der ProbandInnen vermerkt, welche vermutlich aus der zusätzlichen Anstrengung durch die Anwendung der neuen Aufmerksamkeitsstrategie während der Stressaufgabe resultiert. Creswell (2017) macht zudem auf negative kognitive und emotionale Auswirkungen von Menschen aufmerksam, die keine Vorerfahrung mit Achtsamkeit haben. Diese können z.B. Unruhe, Angst, Unbehagen oder kognitive Erschöpfung empfinden. Wilson, Mickes, Stolarz-Fantino, Evrard und Fantino (2015) fanden heraus, dass sich die TeilnehmerInnen nach einer 15-minütigen Meditation schlechter an gelernte Wörter erinnern konnten. Dies sei auf das nicht-urteilnde Bewusstsein und die akzeptierende Haltung bei Achtsamkeit zurückzuführen, wodurch die Unterscheidung zwischen intern und extern generierten Informationen erschwert wird.

2.3 Digitaler Stress

Dieser Abschnitt beginnt mit der Definition und Konzeptualisierung von Stress (Unterabschnitt 2.3.1), um darauf aufbauend die Enstehung von digitalem Stress zu erläutern (Unterabschnitt 2.3.2). Abschließend wird ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand von digitalem Stress gegeben (Unterabschnitt 2.3.3).

2.3.1 Definition und Konzeptualisierung von Stress

The experience of stress is moderated by many cognitive, social, and behavioral factors that can be difficult to identify, describe, and measure.“ (Reif, 2017, p. 9) . Es kann zwischen Stressoren und Stressreaktionen unterschieden werden. Stressoren beschreiben belastende bzw. stressauslösende Anforderungsbedingungen in der Umwelt, welche sowohl psychische als auch physische Stimuli darstellen. Die Auswirkungen als Reaktion auf die Stressoren werden als Stressreaktionen bezeichnet(Lee, Son, & Kim, 2015). Kaluza (2018) beschreibt persönliche Stressverstärker als dritte Komponente von Stress. Diese prägen die subjektive Stressverarbeitung durch individuelle Erfahrungen, Einstellungen, Ziele, Erwartungen, Befürchtungen, Motive und Neigungen. Verstärker von Stress können bspw. Überforderung, Kontrollstreben und Perfektionismus darstellen. Oftmals sind Stressverstärker von Gewohnheitsmustern geprägt und bleiben unreflektiert. Stress kann hinsichtlich der spezifischen Dauer (akuter und chronischer Stress; vgl. Wincewicz & Braszko, 2015) oder der subjektiven Bewertung (Distress und Eustress; vgl. Branson, Dry, Palmer, & Turnbull, 2019) differenziert werden.

Es existieren in der Stressforschung eine Fülle von unterschiedlichen Modellen und Theorien zur Erklärung der Entstehung von Stress. Nach Hefner & Vorderer (2017) wird in den meisten Konzeptionalisierungen von Stress, die Wechselwirkung zwischen Stressoren und einer potenziell gestressten Person hervorgehoben. Das physiologische Stressmodell von Seyle (1981, zitiert nach Lanz, 2010) beschreibt bspw. einen reaktionsorientierten Erklärungsansatz der Stressentstehung. In diesem Fall wird Stress als allgemeine Anpassungsreaktion auf Anforderungen, unabhängig von der Art des auslösenden Stimulus, betrachtet. Darüber hinaus existieren reizorientierte bzw. stimulusorientierte Stressmodelle, wie z.B. das Anforderungs-/ Belastungs-Konzept von Oesterreich und Volpert (1998), bei welchem die Identifizierung und Analyse von Stressoren im Vordergrund steht (Lanz, 2010). Durch das transaktionale Stressmodell von Lazarus und Launier (1981), welches in Abbildung 2.1 abgebildet ist, kann im Gegensatz zu dem physiologischen oder stimulusorientiertem Stressmodell erklärt werden, wieso objektiv gleiche Belastungen zu unterschiedlich starken Stressreaktionen bei Menschen führen können.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.1. Transaktionales Stressmodell. Eigene Darstellung in Anlehnung an Lazarus und Launier (1981).

„[S]tress is the result of an inequity between one’s demands and resources (Lazarus, 1993). Thus, stress is experienced when the pressure of a situation exceeds the ability to cope with what is happening.“ (Reif, 2017, p. 10) . Die kognitive sowie emotionale Bewertung steht zwischen den Umweltanforderungen sowie der Stressreaktion und beschreibt den Prozess, in welchem permanent abgewogen wird, inwiefern sich das Geschehen auf das eigene Wohlbefinden auswirkt (Kaluza, 2018). Es wird zwischen drei Bewertungsprozessen (engl. appraisal) unterschieden. Die Stimuli werden zunächst dahingehend beurteilt, ob sie in Bezug auf das Wohlbefinden günstig, belastend oder irrelevant sind (Primäre Beurteilung). In einem zweiten Beurteilungsprozess wird abgeschätzt, ob genügend Ressourcen zur Bewältigung des Stimulus vorhanden sind (Sekundäre Beurteilung)(Rusch, 2019). Lanz (2010) weist darauf hin, dass die primäre und sekundäre Beurteilung nicht als zwei separate, zeitlich getrennte Prozesse zu verstehen sind. „Letztere müssen zeitlich nicht notwendig Ersteren folgen, sondern können diesen auch vorausgehen.“ (Klauer, 2012, S. 269). Anschließend folgt eine dritte Bewertung (re-appraisal), bei der überprüft wird, ob die Situation weiterhin als belastend beurteilt wird. Bei den Bewertungen handelt es sich insbesondere um automatisierte und intuitive Prozesse, welche sich mehrfach wiederholen können. Die Vernetzung der einzelnen Bewertungsprozesse sowie die Schwierigkeit bei der Benennung der Faktoren, die bei der Beurteilung einer Stresserfahrung involviert sind, stellen Kritikpunkte an dem Modell dar (Reif, 2017). Ein großer Vorteil des transaktionalen Stressmodells ist jedoch, dass Ansatzpunkte für Interventionen bestehen(Kauffeld, 2011). „Nahezu alle gängigen Trainingsprogramme zur Stressbewältigung nehmen Bezug auf die transaktionale Stresskonzeption und deren zentrales Konzept ‚coping‘, das in die deutsche Sprache zumeist mit ‚Bewältigungsverhalten‘ übersetzt wird.“ (Klauer, 2012, S. 268). Es wird zwischen instrumenteller bzw. problemorientierter und palliativer bzw. emotionsfokussierter Bewältigung (engl. problem-focused and emotion-focused coping) unterschieden (Lazarus & Folkman, 1984; Lazarus & Launier, 1981). Palliative Strategien eignen sich am besten für die Bewältigung von unkontrollierbaren Stressoren, während instrumentelle Strategien die größte Wirksamkeit zeigen, wenn eine Situation durch eigenes Handeln kontrolliert oder bewältigt werden kann(Werdecker & Esch, 2019). „ A problem-focused strategy might involve defining the problem, identifying alternative solutions, and learning new strategies for managing the stressor. “ (Reif, 2017, p. 11). Beispiele für emotionsbezogene Copingstrategien sind Vermeidung, Verleugnung, Abstumpfung (bspw. durch Alkohol oder Drogen), die Suche nach emotionaler Unterstützung sowie Yoga, Meditationen oder sportliche Betätigungen (Deshpande, 2012; Reif, 2017).

2.3.2 Entstehung von digitalem Stress

Als digitaler Stress (synonym auch Technostress vgl. Gimpel et al., 2018) wird das Stresserleben bezeichnet, das durch die Nutzung von IKT entsteht (Pflügner & Maier, 2019; Ragu-Nathan, Tarafdar, Ragu-Nathan, & Tu, 2008). Auch wenn dieser ursprünglich als Krankheit kategorisiert wurde, beschreibt Technostress eher „an inability to adapt the changes brought by Information and Communication Technology (ICT)“ (Jena, 2015, p. 117) . Die Stimuli und Anforderungen, die Technostress auslösen, werden als Technostressoren (engl. techno-stressors) bezeichnet(Tarafdar, Cooper, & Stich, 2019). In Abbildung 2.2 ist ein Modell abgebildet, das die Entstehung und Bewältigung von digitalem Stress in Anlehnung an das transaktionale Stressmodell darstellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2.2. Entstehung und Bewältigung von digitalem Stress. Eigene Darstellung in Anlehnung an Lazarus und Launier (1981).

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Details

Title
Achtsamkeit zwischen Online-Vigilanz und wahrgenommenem Stress. Quantitative Untersuchung an einem Sample der Digital Natives
College
Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft
Grade
1,0
Author
Year
2020
Pages
123
Catalog Number
V946985
ISBN (eBook)
9783346294500
ISBN (Book)
9783346294517
Language
German
Keywords
Achtsamkeit, Meditation, Smartphones, Internetabhängigkeit, Digitaler Stress, Coping, Transaktionales Stressmodell, Psychologie, Internetsucht, Smartphonesucht, Online-Vigilanz, Perceived Stress Scale, Mindfulness, Problematische Internetnutzung, Regression, Mediator, Intervenierende Variable, Bewusstsein, Aufmerksamkeit, POPC, Online-Welt, Medienhygiene
Quote paper
Charlotte Gehm (Author), 2020, Achtsamkeit zwischen Online-Vigilanz und wahrgenommenem Stress. Quantitative Untersuchung an einem Sample der Digital Natives, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/946985

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