Opernfehden und Opernreformen

Ästhetische Kontroversen im Paris des 18. Jahrhunderts


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

39 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort und historisch-inhaltliche Einführung

1. Jean-Baptiste Lully und seine Zeit
1.1 Das französische Musiktheater in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts
1.2 Jean-Baptiste Lully (1632-1687)

2. Jean-Philippe Rameau und der erste französische Opernstreit
2.1 Politische Tendenzen und ästhetische Auffassungen zu Beginn des 18. Jhdts
2.2 Jean-Philippe Rameau (1683-1764)

3. „Querelle des buffons“ – Der Buffonistenstreit von 1752-
3.1 Ereignisse und Strömungen im Vorfeld der Streitigkeiten
3.1.1 Die Encyclopédie Francaise
3.1.2 Die Vorläufer der Opéra comique
3.1.3 Friedrich Melchior Grimm (1723-1807)
3.2 Die Pariser Aufführung von La Serva Padrona und die Folgen
3.2.1 „Guerre des Coins“
3.2.2 Le devin du village
3.2.3 Verschärfung der öffentlichen Debatte
3.2.4 Einfluss der gesellschaftspolitischen Komponente

4. Gluckisten gegen Piccinnisten – Die wachsende Bedeutung der Medien
4.1 Die Zeit nach dem Buffonistenstreit
4.2 Du Roullet, Gluck und die Rolle von Werbung und Medien
4.2.1 Ein kurzer Rückblick auf Glucks Tätigkeit am Wiener Hof
4.2.2 Zusammentreffen mit Du Roullet und publizistische Vorbereitung
4.2.3 Weitgehende Einlösung der ästhetischen Forderungen
4.3 Der konstruierte Wettkampf zwischen Gluck und Piccinni (1776-1779)

5. Zusammenfassung

6. Literatur

Vorwort und historisch-inhaltliche Einführung

„Den größten Fortschritt hat von allen Künsten in den letzten fünfzehn Jahren die Musik aufzuweisen. Die Arbeiten eines männlich-kraftvollen, kühnen und fruchtbaren Meisters haben erreicht, dass auch die bisher unseren Symphonien völlig ablehnend gegenüberstehenden Ausländer jetzt an ihnen Gefallen zu finden beginnen und dass die Franzosen sich nun endlich an den Gedanken zu gewöhnen scheinen, dass Lully auf diesem Gebiet noch ziemlich viel zu tun übrig gelassen hat. Rameau brachte die Ausübung seiner Kunst auf einen sehr hohen

Gradder Vollkommenheit und wurde dadurch Vorbild, aber auch Zielscheibe des Neides sehr vieler Künstler, die ihn durch ihre Nachahmungsversuche herabsetzen.“1

Dieses von Jean Le Rond d’Alembert stammende, erstmals in der im Jahre 1751 erschienenen

„Einleitung zur Enzyklopädie“ veröffentlichte Zitat erscheint geeignet, an den Beginn einer Arbeit gestellt zu werden, die einen musikwissenschaftlichen Themenkomplex zusammenfassend darstellen soll, welcher einen historisch relativ langen Zeitraum umfasst und außer musikspezifischen auch philosophische, allgemein-ästhetische sowie gesellschaftspolitische Aspekte einschließt.

Gemeint ist ein Phänomen, das in der Literatur verschiedenster Sachgebiete meist als die

„Pariser Opernfehden“ und in deren Folge als „Pariser Opernreform“ bezeichnet wird.

Das Zitat umreißt die wesentlichen geschichtlichen und personellen Marksteine des Themas recht genau, und hat dadurch bei der Festlegung einer Gliederung aller nachfolgenden Abschnitte geholfen:

Die erste Persönlichkeit, die namentlich erwähnt wird, ist Lully . Dieser Komponist des 17. Jahrhunderts gilt in der historischen Musikwissenschaft als Schöpfer eines nationalen franzö- sischen Opernstils.2 Sein Werk wurde zum Maßstab für alle nachfolgenden Entwicklungen und Veränderungen in der Musikdramatik Frankreichs. Jean-Baptiste Lully soll somit das erste Kapitel gewidmet sein – eine Vorstellung seiner Zeit, seines Lebens und Schaffens.

Rameau ist der Komponist, auf den sich der zitierte Abschnitt eigentlich bezieht. Wie man bemerkt, erschien d’Alembert die Arbeit Rameaus im Verhältnis zu der von Lully als eine Weiterentwicklung. Mit Jean-Philippe Rameau, dessen Oeuvre vor allem die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts prägte, wird sich das zweite Kapitel auseinandersetzen – mit der Zeit und den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen.

Der Verfasser des einleitenden Zitats ist, wie schon erwähnt, d’Alembert. Er gehörte an vorderster Front zu einer Gruppe von Autoren, Philosophen und Wissenschaftlern die als die Enzyklopädisten bekannt geworden sind. Aufgrund der Tatsache, dass einige Personen dieser Pariser Gruppierung und aus deren Umfeld wesentlich am sogenannten „Buffonistenstreit“ zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beteiligt waren, wird im dritten Abschnitt das Hauptaugenmerk auf diesen Ereignissen liegen.

Die Enzyklopädisten bestimmten auch in der Folgezeit die öffentlichen Debatten über die Ästhetik des Musiktheaters und bereiteten so auch den Nährboden für das Erscheinen Christoph Willibald Glucks in Paris und die von ihm eingeleitete so genannte „Opernreform“. Das vierte Kapitel wird diesen Zeitraum genauer untersuchen.

Im fünften Kapitel werden die in den vorhergehenden Abschnitten erläuterten Ereignisse zusammengefasst und vergleichend gegenübergestellt.

Die im Zitat erwähnten Formulierungen der „ablehnend gegenüberstehenden Ausländer“ sowie des „Neides vieler Künstler“ weisen zusätzlich bereits darauf hin, dass es in dieser Epoche auch um eine Emanzipation französischen Musikschaffens gegenüber äußeren und inneren Widerständen ging. Diese Problematik mit ihren jeweils spezifischen Ausprägungen wird sich durch alle folgenden Abschnitte ziehen.

Um zu verstehen, wie es zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über eine nationale Musik- und speziell Opernästhetik in Frankreich kommen konnte, erscheint es sinnvoll, zu Beginn des folgenden Abschnitts die Gegebenheiten in Frankreich während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu erläutern und außerdem zu erklären, welche Auswirkungen sie auf die Arbeit Lullys und die gesamte musikalische Entwicklung Frankreichs in den darauffolgenden Jahrzehnten haben sollten.

Da diese Arbeit ein Ergebnis des Seminars „Critica Musica – Musik, Kritik und Öffentlichkeit im unruhigen 18. Jahrhundert“ ist, scheint dieser Abschnitt über das 17. Jahrhundert unverhältnismäßig viel Platz einzunehmen; jedoch erleichtern die hier dargestellten Zusammenhänge das Verständnis für die zentralen Kapitel 2 bis 4 wesentlich und sind somit als deren Einführung zu betrachten.

1. Jean-Baptiste Lully und seine Zeit

1.1 Das französische Musiktheater in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts

Bereits Ende des 16. Jahrhunderts versuchte man in Frankreich, ebenso wie in Italien, nach antikem Vorbild eine Theatergattung zu schaffen, welche alle anderen Kunstformen in sich vereinte. Sowohl darstellende Künste, wie Dichtung, Musik und Tanz, als auch die bildenden, wie Architektur, Malerei und Kostümbildnerei sollten darin verschmelzen.

In Italien entstanden durch die Kombination von Pastoraldramen, madrigalesken und motettischen Chören, Instrumentalritornellen, Tänzen sowie der damals in Anlehnung an griechische Überlieferungen neu entwickelten Monodie die ersten Opern – Dafne (1597) und Euridice (1600) beide mit Musik von Jacopo Peri (1561-1633) und Texten von Ottavio Rinuccini (1562-1621), ebenso eine weitere Euridice mit Musik von Giulio Romano Caccini (1550- 1610). In Frankreich hingegen bildete sich nach Gründung der Académie de Poésie et de Musique (1570) das „Ballet de Cour“ als Hauptform eines musikalischen Theaters heraus.

Basierend auf einer höfisch-aristokratischen Gesellschaftsstruktur sind die wichtigsten Elemente dieser Gattung neben opulenten Bühnenbildern und Kostümen, vor allem die mythologisch geprägte, oft allegorisch gestaltete dichterische Handlung sowie die Musik, welche sich aus „Chants“ (vierbis fünfstimmige Chöre), „Récits“ (Vorläufer von Air und Rezitativ) und Instrumentalmusiken in Form von Orchesterzwischenspielen und Tänzen zusammensetzte.

Tänze, die ursprünglich in Anlehnung an Renaissancemaskeraden vom Hofstand selbst getanzt wurden, bevor diese Rollen nach und nach Berufstänzer übernahmen, wurden als Balletteinlagen zum Hauptmerkmal der französischen Oper und damit ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zum italienischen Modell.

Sowohl durch die Hochzeit der Maria de’ Medici mit Heinrich IV., König von Frankreich, in Florenz im Jahre 1600, als auch aufgrund der 1643 erfolgten Ernennung des Kardinal Mazarin zum leitenden Minister durch Anna von Österreich nach dem Tode Ludwig XIII., übten am französischen Hof über ein halbes Jahrhundert Italiener direkten Einfluss auf das kulturelle Leben aus.

Zu erwähnter Hochzeit wurden die oben bereits genannte Oper Euridice von Peri und Rinuccini und die „favola pastorale“ Rapimento di Cefalo von Caccini aufgeführt.

In den Folgejahren holte Maria de’ Medici sowohl Rinuccini als auch Caccini mit ihren Familien nach Paris und sorgte außerdem dafür, dass berühmte italienische Komödiantentruppen ihre Stücke einem französischen Publikum vorstellen durften – und dies nicht ohne Erfolg.

Kardinal Mazarin (1602 –1661) hieß eigentlich Giulio Mazarini (auch: Mazzarino) und war gebürtiger Italiener. Er, der Frankreich stellvertretend für den noch minderjährigen Ludwig XIV. regierte, sorgte in den kommenden Jahrzehnten dafür, dass damals bedeutende italienische Opernkomponisten wie Francesco Paolo Sacrati (1605-1650) und Pier Francesco Cavalli (1602-1676) ihre Werke in Paris zur Aufführung brachten. Außerdem wurde 1647 durch Mazarins Initiative mit L’Orfeo die erste speziell für die französische Hauptstadt komponierte Oper, mit Musik von Luigi Rossi (1598-1653) über einen Text von Francesco Buti (1604- 1682), zur Aufführung gebracht.

Obwohl das Werk durch Zugeständnisse an den französischen Geschmack – Anlehnung der Abfolge ans Ballet de Cour, prächtige Ausstattung, viele Balletteinlagen – ein großer Erfolg wurde, regten sich auch erste kritische Stimmen gegen das Fremde in der Kunst, wie zum Beispiel die „affektgesättigten“ „weitgeschwungenen“ Arien oder das „Verströmen des Gesangs um seiner selbst willen“.3 Die Kritiker waren sich dessen bewusst, „dass die eigene Nation auf der Bühne etwas ganz Gleichwertiges, wenn auch ganz andersartiges zu schaffen imstande war“.4

Bei Hofe blieben die durch Mazarins Einfluss entstandenen Opern jedoch weiterhin beliebt, nicht zuletzt deshalb, weil der König selbst bei den „Entrées“ als Tänzer mitwirken durfte.

Im Jahre 1653 trat ein gerade zwanzigjähriger Komponist am Pariser Hof erstmals in Erscheinung, der im Mittelpunkt des folgenden Abschnitts stehen soll.

1.2 Jean-Baptiste Lully (1632-1687)

Lully, der in Florenz als Sohn eines Müllers geboren wurde, soll in seiner Kindheit durch einen Franziskaner elementaren Musikunterricht erhalten und das Gitarrenspiel erlernt haben.

Nach Frankreich gelangte er 1646 durch das Angebot, als „garcon de la chambre“ und Lehrer der italienischen Sprache in den Dienst der Prinzessin de Montpensier zu treten. Hier wurde er aufgrund seiner Musikalität bald Mitglied der Hauskapelle. Er erlebte eine ganze Reihe wertvoller musikalischer Aufführungen mit und bildete eine Begabung für die Ballettkunst heraus. Außerdem erhielt er durch mehrere Komponisten höhere Kenntnisse der Musik und komponierte erste Tänze sowie kleinere Musikstücke für die Prinzessin. Nach der politisch bedingten Emigration der Prinzessin als Sympathisantin der Fronde, gelangte Lully durch Kontakte zum jungen König im besagten Jahr 1653 an den Pariser Hof, um für die Aufführung des Grand Ballet de la nuit mehrere Airs zu komponieren. Noch im selben Jahr ernannte ihn der König zum „Compositeur de la musique instrumentale“.

Im Rahmen dieser Tätigkeit, die auch unter dem Einfluss Mazarins stand, erschuf Lully Instrumentalmusiken (z.B. Tänze, italienische Divertissements), wirkte in Aufführungen selbst als Tänzer und Schauspieler mit und wurde Geiger bei „Les 24 violons“, dem Orchester des Königs.

Ludwig XIV. betraute ihn darauf mit der Leitung eines eigenen Orchesters, das die Bezeichnung „Les petits violons“ erhielt und bald aufgrund der präzisen Einstudierung durch Lully einen hervorragenden Ruf genoss. Im Laufe der Folgejahre komponierte er weitere Ballets und Divertissements und schrieb Musiken für die Lustspielballette Molières, wobei ihm seine Schauspielerfahrung zugute kam.5

Entscheidend für die weitere Entwicklung einer eigenständigen französischen Oper, sollte Lullys Umgang mit der Sprache werden.

Während die ihn umgebende Kompositionspraxis trotz aller italienischen Einflüsse französisch geprägt war, verwendete Lully für seine ersten Gehversuche auf dem Gebiet der Vokalmusik noch die italienische Muttersprache, weil seine kritische Selbsteinschätzung ihn spüren ließ, dass er für einen angemessenen künstlerischen Umgang mit dem Französischen noch nicht reif genug war.6

Zur Verbesserung seiner Sprachkenntnisse beschäftigte sich Lully mit den bekannten Dichtern Frankreichs. Die französische Tragödie – als erstes Werk dieser Gattung gilt die Médée aus dem Jahre 1635 von Pierre Corneille (1606-1684) – erschien am geeignetsten das Spezifische des französischen Geists zum Ausdruck zu bringen und war deshalb wichtiger Gegenstand seiner Studien.

Besonderes Interesse zeigte er an den Werken seines Zeitgenossen Jean Racine (1639-1699), dessen Strophenaufbau und Versmaß und die sich daraus ergebende Deklamation besonderen Einfluss auf die Sprachbehandlung in seinem weiteren Schaffen haben sollten.

Mit dem Dichter Isaac de Benserade (1613-1691) schuf Lully zum ersten Mal Musik für ein Werk, das von nur einem Textautor und einem Komponisten erschaffen wurde – ein Novum im Frankreich der damaligen Zeit. Für das 1658 aufgeführte Ballet de Cour Alcidiane entwickelte Lully die damals neue Form der „Französischen Ouvertüre“, deren Abfolge gekennzeichnet ist durch:

1.einen feierlich punktierten Teil
2.einen imitierend beginnenden, dann frei kontrapunktisch fließenden lebhaften Teil
3.die Rückkehr zum Tempo des ersten Teils mit thematischer Abwandlung.

Wichtig war in diesem Werk auch, dass gesprochene Verse sich mit gesungenen Rezitativen abwechselten und dass Lieder, Chöre und Wechselgesänge immer mehr in die Handlung eingebunden wurden und sich zu lyrischen Szenen vereinten.

Als Zeichen seiner Anerkennung verlieh der König Lully weitere höfische Titel; so ernannte er ihn nach seiner Machtübernahme infolge von Mazarins Tod 1661 zum „Surintandant de la musique“ und ein Jahr später, im Juli 1662, sogar zum „Maitre de la musique de la famille royale“.

Jean-Baptiste Molière (1622-1673), der bis heute berühmte französische Komödiendichter, wurde nächster wichtiger Partner bei Lullys Suche nach einer besseren Verbindung von französischer Sprache und Musik. Unter Molières Leitung schufen beide im Jahre 1664 mit La princesse d’Élide die neue Gattung des „Commédie-ballet“, welche eine Verbindung zwischen der gesprochenen Komödie und einer Weiterentwicklung der durch Lully erschaffenen Einbindung von Rezitativen, Airs und Ensembles darstellte und sich über viele Jahre großer Beliebtheit am Pariser Hof erfreute.

Im Jahr 1672 erhielt Lully vom König das Opernprivileg, nachdem es vorher dem Librettisten Pierre Perrin (1620-1675) und dem Komponisten Robert Cambert (1628-1677) aberkannt worden war. Er gründete daraufhin die „Académie royale de Musique“, eine Einrichtung, die für das französische Opernschaffen des kommenden Jahrhunderts von großer Bedeutung sein sollte.

Mit der Pastorale Les fêtes de l’Amour et de Bacchus begann im selben Jahr die Zusammenarbeit mit dem Textdichter Philippe Quinault (1635-1688), wodurch die wohl wichtigste Schaffensphase im Leben des Jean-Baptiste Lully eingeleitet wurde.

Philippe Quinault besaß nicht nur dichterische Fähigkeiten, sondern war auch in der Lage, die besonderen Erwartungen, die sowohl Lully als auch der Hof an ein Opernlibretto knüpfte, umzusetzen.

Die genaue Kenntnis der französischen „tragédie“, die beide aufgrund ihrer jahrelangen Auseinandersetzung mit der Gattung besaßen, führte zur Entwicklung der „tragédie lyrique“7

– einer völlig neuartigen Kombination, die als erste eigenständige Form einer französischen Oper in die Geschichte einging.

Wichtige Merkmale dieser neuen Gattung sollen hier kurz erläutert werden:

Die „tragédie lyrique“ bestand stets aus 5 Akten, das jeweilige Werk wurde durch die bereits beschriebene „Französische Ouvertüre“ eingeleitet. Ihr folgte ein allegorischer Prolog zu Ehren des Königs, der, ausgeschmückt mit Chören, Entrées, Märschen und Tänzen, das große

Eröffnungsdivertissement bildete. Höfische Konvention und Förmlichkeit waren inhaltliches Hauptprinzip. Die in einer anspruchsvollen offenen Form gehaltenen Rezitative waren den höfischen Hauptfiguren vorbehalten; die in einfacherer, geschlossener Form komponierten volkstümlichen Airs wurden von Nebenfiguren niederen Standes vorgetragen. Im Laufe der Jahre wurde diese strenge Regel etwas gelöst, so dass auch für die Protagonisten Airs komponiert wurden.

Die erste nach diesem Prinzip erschaffene Oper war Cadmus et Hermione (1673), die zwölfte und letzte hieß Armide und erschien ein Jahr vor Lullys Tod im Jahre 1687.

2. Jean-Philippe Rameau und der erste französische Opernstreit

2.1 Politische Tendenzen und ästhetische Auffassungen zu Beginn des 18. Jahrhunderts

Im Jahre 1702, fünfzehn Jahre nach Lullys Tod, veröffentlichte Francois Raguenet (1660- 1722) in Paris eine Schrift mit dem Titel Parallèle des Italiens et des Francois en ce qui regarde la musique et les opéras . Raguenet, der einige Jahre in Italien verbracht hatte, um dort die schönen Künste und Wissenschaften zu studieren und der dabei auch die italienische Musik kennen lernte, verglich in seiner Streitschrift die Hauptformen des musikalischen Ausdrucks im Frankreich und Italien seiner Zeit. Hierbei konnte beim Leser der Eindruck entstehen, Raguenet bevorzuge die italienische Form und kritisiere die französische. In mehreren Periodika Frankreichs, die sich unter anderem mit dem Musikwesen auseinander setzten, wurde diese Schrift besprochen und löste damit eine langanhaltende kontroverse Diskussion über ästhetische Auffassungen und Prinzipien unter französischen Musikliebhabern und Gelehrten aus.

Wie konnte es zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu derartigen Konflikten kommen, nachdem doch mit der Herausbildung von französischer Tragödie und Oper allem Anschein nach eigenständige künstlerische Ausdrucksformen Frankreichs entwickelt worden waren?

Infolge des Ablebens Lullys am 22. März 1687 und durch einige andere einschneidende Ereignisse, wie die Aufhebung des Ediktes von Nantes durch Ludwig XIV. im Jahre 1685, änderte sich die kulturpolitische Situation in Frankreich grundlegend.

Lully hatte in den letzten 26 Jahren seiner höfischen Laufbahn ab 1661 nach dem Amtsantritt des Königs, der Bewunderer und Gönner des Komponisten war, enorm viel Macht anhäufen können. Im Bereich des französischen Musiklebens agierte auch Lully wie ein absolutistischer Herrscher, indem er beispielsweise dafür sorgte, dass der Einfluss italienischer Komponisten und Interpreten zurückgedrängt und durch Zensur beschnitten wurde.

Nach Lullys Tod verlagerten sich die vormals konzentriert in Paris stattfindenden Vergnü- gungen zunehmend an kleinere Fürstenhöfe. Die sogenannten „fêtes galantes“ waren ein Zeichen dafür, dass dem französischen Adel Vergnügungen wichtiger waren, als die „trügerische Frömmigkeit von Versailles“.8

Eine zunehmende Bevorzugung pastoralen Stils mit seinen Naturbeschreibungen und idyllischen Szenen verdeutlicht zusätzlich, dass es eine Abwendung vom Drama hin zu unterhaltsameren, weniger bedeutungsschweren Sujets gab. In Frankreich, wo der Tanz immer schon eine große Rolle gespielt hatte, bedeutete dies auch, dass es zu einer weiteren Entwicklung der Ballettmusik kam.

Mit der Uraufführung von L’Europe Galante des Librettisten Antoine Houdar de la Motte (1672-1731), des Komponisten André Campra (1660-1744) sowie dessen Schüler André Destouches (1672-1749) wurden alle genannten Tendenzen in einer neuartigen Gattung vereint – dem „opéra ballet“ .

Eines seiner Hauptmerkmale ist das Nacheinander mehrerer eigenständiger Handlungen (quasi Episoden), die unter einem Titel, der eine allgemeine Idee versinnbildlicht, vereint werden. In diesen Episoden, die man „Entrées“ nannte, tritt die dramatische Handlung gegenüber der Musik und dem Tanz in den Hintergrund. Dies steht im Gegensatz zur tragédie lyrique , in der ein Divertissement immer erst durch die Handlung ausgelöst und begründet wurde. Das opéra ballet besitzt anstatt der 5 Akte meist nur 2 bis 4, manchmal auch nur einen Akt. Diese Gegensätzlichkeit der beiden Gattungen führte dazu, dass sie bis spät ins 18. Jahrhundert als quasi komplementäre, eigenständige Erscheinungen gleichwertig nebeneinander existieren konnten. Ihrem Wesen nach sind beide jedoch französisch.

Im Jahr 1693 wurde in der Académie royale de musique die Oper Medée des in Italien ausgebildeten und lange Jahre von Lully unterdrückten Komponisten Marc-Antoine Charpentier aufgeführt. Die Tatsache, dass dieses Werk für Aufsehen, ja sogar für emotionelle Verwirrung beim Publikum sorgte, zeigt, dass der Einfluss der italienischen Musik, ihrer Schöpfer und Anhänger wieder zunahm und sogar als Bereicherung empfunden wurde. Die weiter entwickelte Form der Kantate mit ihren Da-capo-Arien, ihrer Echodynamik und der beweglicheren Harmonik, aber auch rein instrumentale Werke, wie die des Arcangelo Corelli (1653-1713), trugen zusätzlich zum steigenden Erfolg des italienischen Geschmacks in Frankreich bei.

Eine Reihe von Komponisten, wie der bereits genannte André Destouches, welcher sich durch eine besonders geschickte Gestaltung der Rezitative auszeichnete, und vor allem André Campra, strebten in den folgenden Jahren in zunehmendem Maße eine „réunion des goûts“ („Wiedervereinigung der Geschmäcker“) an.

Die erwähnte Streitschrift Raguenets kann also rückwirkend als eine Folge langjähriger, kultureller und politischer Veränderungen angesehen werden. Jean Laurent Le Cerf de la Viéville (1674-1707) veröffentlichte 1704 seine Abhandlung Comparasion de la musique Italienne et de la musique Francoise , in welcher er – im Gegensatz zu Raguenet – die Vorzüge der französischen Musik lobpreiste. Infolgedessen wurde eine polemische Auseinandersetzung in Bewegung gesetzt, die in der kontroversen Beurteilung des Werkes eines weiteren Komponisten ihren vorläufigen Höhepunkt finden sollte.

2.2 Jean-Philippe Rameau (1683-1764)

Die Aufführung der Oper Hippolyte et Aricie des damals bereits fünfzigjährigen Rameau im Jahre 1733 wurde die „Initialzündung“ für den ersten französischen Opernstreit des 18. Jahrhunderts.

Rameau, der als Sohn eines Organisten in der Nähe von Dijon aufgewachsen war, hatte sich im Alter von 18 Jahren entschlossen, ebenfalls Musiker zu werden. Nach einem kurzen Italien-Aufenthalt nahm er nacheinander mehrere Organistenstellen an, unter anderem in Avignon, Clermont-Ferrand, Dijon, Lyon und Paris. Die ersten von ihm stammenden Kompositionen, die bereits in Paris veröffentlicht wurden, waren Cembalostücke aus dem Jahr 1706.

Neben diesen Tätigkeiten beschäftigte er sich intensiv und systematisch mit musiktheoretischen Sachverhalten. Erstes zusammenfassendes Ergebnis dieser Studien war die 1722 veröffentlichte Schrift Traité de l’harmonie réduite à ses principes naturels . In dieser, seiner wahrscheinlich wichtigsten musiktheoretischen Schrift, hatte Rameau erstmals Zusammenhänge benannt und erläutert, welche die Grundlage unserer noch heute gebräuchlichen Funktionsharmonik bilden. Dazu gehören das Prinzip des Grundoder Fundamentaltons („son fondamental“), der Grundsatz der Oktavidentität („identité des octaves“) und die sich daraus ergebende Theorie der Akkordumkehrung („renversement des accords“). Seine Erkenntnisse, die im Sinne der Aufklärung ganz auf der Idee von naturgegebenen physikalischen Gesetzmäßigkeiten („corps sonore“), der Suche nach Wahrheit und der Erkennbarkeit durch Vernunft beruhen, brachten ihm bei seinen Anhängern bald die Bezeichnung „Newton der Musik“9 ein.

In den Jahren nach der Veröffentlichung dieser Schrift, lebte er, unterstützt von seinem Gönner und Mäzen Alexandre-Jean-Joseph Le Riche de La Poupliniére (1693-1762), dessen Privatorchester er leitete, in Paris. Poupliniére und seine Gattin Thérèse Deshayes sorgten auch dafür, dass Rameau bei Treffen in ihrem Salon bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen und kulturellen Pariser Lebens kennen lernte.

Wie schon erwähnt, erlebte Rameaus Hippolyte et Aricie 1733 seine Uraufführung. Obwohl er sich bei diesem Werk grundsätzlich an die seit Lully etablierten formalen Grundsätze der tragédie lyrique hielt, schieden sich hieran die Geister des Pariser Publikums.

Der Kritiker Fréron, ein Bewunderer Rameaus, beschrieb seine Eindrücke indem er ausführte: die Musik Rameaus sei „weder ganz französisch noch ganz italienisch. Sie hat die Gefälligkeit und Lieblichkeit der einen, ohne monoton zu sein, und die Tiefe und das Genie der anderen, ohne gelehrt zu sein.“10

Vielleicht hatte er das erreicht, was andere Komponisten vor ihm als „réunion des goûts“ jahrelang angestrebt hatten?

In jedem Fall hatte er es geschafft, eine neue, intensivere Musiksprache zu entwickeln. Da sich Rameau nachweislich mit den Werken italienischer Komponisten seiner Zeit beschäftigt hatte, ist deren Einfluss auf seine kunstvoll gestalteten Arien sicher nicht unwahrscheinlich. Durch die Auseinandersetzung mit der Harmonielehre und die Verwendung zusätzlicher Instrumente, wie Horn und Klarinette wurde seine Orchesterbegleitung komplexer und farbiger, polyphone Anteile nahmen zugunsten der homophonen ab.

Die Verfechter der Beibehaltung des Stils von Lully, welche von Destouches’ Librettist Pierre Charles Roy angeführt wurden und als „Les Lullistes“ bezeichnet wurden, hatten wohl erkannt, dass es einen Komponisten gab, der die Fähigkeit besaß, das Werk ihres als gottgleich empfundenen Meisters in den Schatten zu stellen und an Bedeutung zu übertreffen.

Das erste opéra ballet von Rameau mit dem Titel „Les Indes galantes“ wurde 1735 erstmals aufgeführt. Wenn er auch hier die vor allem durch Destouches und Campra etablierten formalen Grundsätze beibehielt, gelang es ihm, bisher nicht gehörte, illustrative, klangmalerische Orchesterstücke zu entwerfen. Vulkanausbrüche, Erdbeben sowie fremdländische Feste wurden musikalisch dargestellt und untermalt.

Die „Lullisten“ behaupteten, Rameau sei zu künstlich, zu gelehrt und zu italienisch. Sie warfen ihm vor, er betone die Harmonie zu ungunsten der Melodie.

Die Anhänger Rameaus, die „Ramisten“ zu denen neben den erwähnten La Poupliniére und Fréron auch Desfontaines und Voltaire gehörten, wetterten gegen den von ihnen als zu „barock“ und altmodisch eingestuften Stil Lullys.

Sachlich vergleichend kann aus heutiger Sicht Folgendes festgestellt werden:

In der Person Rameaus hatte der Musiker Vorrang vor dem Dramatiker. Bezogen auf die Verfeinerung einer musikalischen Form und Sprache und der Erweiterung der Palette ihrer Ausdrucksmittel war dies von Vorteil. Um einem seiner Ziele, der wahrheitsgemäßen Darstellung des Affekts, näher zu kommen, legte er wert auf eine enge Bindung von Affekt und Akkord, was dazu führte, dass bestimmte Kategorien von Gefühlsregungen und Leidenschaften immer auch ähnlichen oder identischen harmonischen Verbindungen zugeordnet wurden.

Andererseits hatte sein ungenügend ausgeprägter dramatischer Sinn Auswirkungen auf die Auswahl der Libretti seiner Bühnenwerke – die Texte konnten oft nicht mit der Qualität derer eines Quinault mithalten, was häufig auch zu Recht von den „Lullisten“ bemängelt wurde.

Die grundsätzliche Beibehaltung der in Frankreich entstandenen Gattungen tragédie lyrique und opéra ballet trug zur weiteren Festigung einer spezifisch französischen Ausdrucksform bei; das Einfließen von Anteilen aus der italienischen Musik, wie beispielsweise Merkmalen des bel canto und der Da-capo-Arie, stellte keine Beschmutzung sondern eine Bereicherung der Gattungen dar. Eine Weiterentwicklung der „französischen Ouvertüre“, in Richtung klarer Dreiteiligkeit mit programmatischen Anteilen, ist ebenfalls ein Verdienst Rameaus.

Im Laufe der Jahre entspannte sich die Situation der entgegengesetzten Parteien. Rameaus Postion als neuer Beherrscher der Académie royale und die Ernennung zum „Compositeur du cabinet du roy“ durch Ludwig XV. im Jahre 1745 wurden zunehmend allgemein anerkannt.

Der Autor Friedrich Melchior Grimm, welcher bei den Geschehnissen des nun folgenden Abschnitts eine Rolle spielte, schrieb am 20. November des Jahres 1752 an seinen ehemaligen Leipziger Lehrer Gottsched: „M. Rameau wird von allen Kennern für einen der größten Tonkünstler, die jemals gewesen, gehalten, und mit Recht.“11

[...]


1 Mensching (1997), S. 87/88

2 Blume (2001), S. 48252

3 Abert (1994), S. 146

4 Ebd.

5 vgl. Blume (2001), S. 48244 ff.

6 vgl. Abert (1994), S. 147

7 anfangs auch „tragédie en musique“

8 Blume (2001), S. 24170

9 Blume (2001), S. 16469

10 vgl. Nestler (1993), S. 250 und Blume (2001), S. 24179

11 Blume (2001), S. 30121

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
Opernfehden und Opernreformen
Untertitel
Ästhetische Kontroversen im Paris des 18. Jahrhunderts
Hochschule
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg  (Institut für Musik)
Veranstaltung
Hauptseminar: „Critica Musica“ – Musik, Kritik und Öffentlichkeit im unruhigen 18.Jhdt.
Note
2,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
39
Katalognummer
V120809
ISBN (eBook)
9783640250943
ISBN (Buch)
9783640250868
Dateigröße
542 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In der Arbeit ist es dem Autor gelungen "einen lebendigen und gut lesbaren Überblick über die Pariser Opernkontroversen im dix-huitième zu geben"! (Zitat aus dem schriftlichen Kommentar des Dozenten)
Schlagworte
Lullisten, Ramisten, Jean-Philippe Rameau, Jean-Baptiste Lully, Piccinni, Piccini, Gluck, Piccinnisten, Gluckisten, Enzyklopädisten, Buffonistenstreit, Du Roullet, Reformoper, Lullistes, Ramistes, Querelle des Buffons, Gluckistes, Piccinistes, Le devin du village, Jean-Jacques Rousseau, Guerre des Coins
Arbeit zitieren
Stefan Huth (Autor:in), 2007, Opernfehden und Opernreformen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/120809

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