Entwicklung einer Vorgehensweise zur Verbesserung der Patientensicherheit am Beispiel des innerklinischen Intensivtransports


Tesis de Máster, 2008

109 Páginas, Calificación: 1,3


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Situation
1.1 Arbeitssystem Krankenhaus
1.2 Patientensicherheit in der Medizin

2 Problemstellung

3 Ziel der Arbeit

4 Theoretischer Bezugsrahmen
4.1 Fehlertheorie nach Reason
4.2 Handeln unter Unsicherheit
4.3 Mensch, Technik und Organisation

5 Methodisches Vorgehen zur Entwicklung
5.1 Abgrenzung und Beschreibung des Problembereichs
5.2 Analyse bestehender Lösungsansätze
5.3 Anforderungskatalog für die zu entwickelnde Vorgehensweise
5.4 Entwicklung der Vorgehensweise
5.5 Praktische Erprobung der Vorgehensweise

6 Ergebnisse der Entwicklung
6.1 Abgrenzung und Beschreibung des Problembereichs
6.1.1 Patientensicherheit - wie groß ist das Problem
6.1.2 Mögliche Ursachen des Problems
6.1.3 Zukünftige Entwicklungen
6.2 Bestehende Lösungsansätze
6.2.1 Komplexitätsbewältigung, Partizipation und Empathie
6.2.2 Identifikation, Analyse und Bewertung
6.3 Definition des Anforderungskatalogs
6.4 Die SPS-Vorgehensweise
6.5 Vorstudie zum innerklinischen Intensivtransport

7 Transfer auf andere risikokritische Arbeitssysteme

8 Diskussion
8.1 Diskussion der SPS-Vorgehensweise
8.2 Diskussion des methodischen Vorgehens zur Entwicklung

9 Ausblick

Danksagung

Literaturverzeichnis

Glossar

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Arbeitssystem Krankenhaus mit Subsystemen

Abbildung 2: Medizinisches Arbeitssystem

Abbildung 3: Gestaltungsbereiche für Mensch-Maschine-Systeme

Abbildung 4: Stages of development of organizational accident

Abbildung 5: Organisational failure in relation to technical/ human failure

Abbildung 6: Arbeitsmodell nach Schmidtke

Abbildung 7: System Engineering

Abbildung 8: Basiseinheiten eines lebensfähigen Systems

Abbildung 9: Pyramide der sicherheitsrelevanten Ereignisse

Abbildung 10: Task-Process-Task-Methode

Abbildung 11: A near miss involving a medical device, and lessons learnt

Abbildung 12: Fault tree of an undesirable event

Abbildung 13: Durchführungsphasen einer FMEA

Abbildung 14: SPS-Vorgehensweise

Abbildung 15: Vor- und nachgelagerte Stationen des zentralen OP-Bereichs

Abbildung 16: FMEA-Med „Medizintechnische Transportkomplikationen“

Abbildung 17: FMEA-Med „Lösungen und Maßnahmen“

Abbildung 18: Weiterentwicklung der SPS-Vorgehensweise

Abbildung 19: Potenzielle Erhöhung der Patientensicherheit

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Hierarchien des Arbeitssystems Gesundheitswesen

Tabelle 2: Stärken von Mensch und Technik

Tabelle 3: Schwächen von Mensch und Technik

Tabelle 4: Dominierende Heuristiken der Ideenfindung

Tabelle 5: Anforderungskatalog an die zu entwickelnde Vorgehensweise

Tabelle 6: Hierarchische Tätigkeitsanalyse zum innerklinischen Intensivtransport

Tabelle 7: Anforderungskatalog an ein Transportmodul

Tabelle 8: Rahmenbedingungen in den Arbeitswelten Medizin und Luftfahrt

Tabelle A-1: Bewertungsrichtlinien der FMEA-Med für die Bedeutung

Tabelle A-2: Bewertungsrichtlinien der FMEA-Med für die Auftrittswahrscheinlichkeit

Tabelle A-3: Bewertungsrichtlinien der FMEA-Med für Entdeckungswahrscheinlichkeiten

Zusammenfassung

Situation

Risikoumwelten umfassen risikokritische Arbeitssysteme, in denen „Fehlpassungen“ zwischen Mensch, Technik und Organisation zu weitreichenden Folgen führen können. Das Interesse an der Aufdeckung von diesen Fehlpassungen ist im medizinischen Bereich in den letzten Jahren erheblich gestiegen und auch die Forderung nach der Verbesserung der Patientensicherheit wird immer lauter. Unterschiedliche Studien zeigen, dass im Bereich der Patientensicherheit erhebliches Verbesserungspotenzial steckt.

Der klinische Alltag ist gekennzeichnet durch Komplexität, Intransparenz und Informationsdefizite in einem sowohl horizontal als auch vertikal stark strukturierten Arbeitssystem. Durch technische Entwicklungen sind viele Untersuchungs- und Behandlungsverfahren in der Medizin erfolgreicher geworden, allerdings auch komplizierter und gefahrenträchtiger.

Im Gesundheitswesen ist ein neues Risiko- und Fehlerverständnis auf dem Vormarsch, das dieses Risiko erkennt und Systemfaktoren gezielt in den Vordergrund stellt.

Problemstellung

Veränderungsprozesse, wie die verstärkte Ausrichtung hin zur Patientensicherheit, müssen systematisch begleitet und strukturiert werden, damit sich diese in der Praxis auch verwurzeln können.

Eine allgemeine Vorgehensweise zur Verbesserung der Patientensicherheit existiert in der Praxis nicht und auch die einfache Übertragung von Vorgehensweisen aus anderen sicherheitskritischen Bereichen ist schwierig, da beim Arbeitssystem Krankenhaus ein komplexes System mit vielen kleinen Einzelrisiken vorliegt.

Ziel der Arbeit

Das Ziel der Ausarbeitung ist die Entwicklung einer Vorgehensweise zur

Verbesserung der Patientensicherheit - SPS - S ystematische P atienten S icherheit.

Im Mittelpunkt steht dabei das Analysieren und Bewerten von Ursachen und Fehlern, um daraus Verbesserungsmal3nahmen abzuleiten und aktiv zu lernen. Eine erste praxisorientierte Erprobung der SPS-Vorgehensweise findet im Rahmen einer Vorstudie am Beispiel des innerklinischen Intensivtransports statt.

Theoretischer Bezugsrahmen

Der theoretische Bezugsrahmen umfasst die Faktoren Mensch, Technik und Organisation und ihre Interaktion. Es werden wissenschaftliche Erkenntnisse zur Theorie von Fehlern vorgestellt und anschliel3end ein Einblick in das menschliche Handeln unter Unsicherheit gegeben. Vom Menschen ausgehend folgt der Übergang zur Technik. Eine Gegenüberstellung von Stärken und Schwächen von Mensch und Technik beschreibt die Rahmenbedingungen beider Faktoren, die in die „Mensch-Maschine-Interaktion“ einfliel3en. Abgeschlossen wird der theoretische Bezugsrahmen mit einer Betrachtung des dritten Faktors, der Organisation, und seiner Auswirkung auf Mensch und Technik.

Methodisches Vorgehen zur Entwicklung

Von einem arbeitswissenschaftlichen Grundverständnis für die Problemstellung ausgehend, basiert das methodische Vorgehen auf dem Problemlösungsmodell aus dem Systems Engineering nach Haberfellner, Nagel, Becker, Büchel & Massow (1992). Es unterteilt sich in die folgenden Teilschritte:

Im Rahmen der system-, ursachen- und zukunftsorientierten Situationsanalyse wird der Problembereich „Patientensicherheit“ näher beleuchtet und analysiert. Durch eine lösungsorientierte Situationsanalyse werden mögliche Lösungsansätze aus der Industrie vorgestellt und angedacht.

Aufbauend auf den beiden vorangestellten Ergebnisschritten erfolgt die Zusammenstellung eines Anforderungskatalogs für die zu entwickelnde Vorgehensweise zur Verbesserung der Patientensicherheit.

Ausgehend vom Anforderungskatalog erfolgt die Lösungsentwicklung einer möglichen Vorgehensweise für die klinische Routine, die im Rahmen einer Vorstudie auf ihre Praktikabilität in der Praxis geprüft wird.

Ergebnisse der Entwicklung

Die systemorientierte Situationsanalyse zeigt, dass im Bereich Patientensicherheit eine große Herausforderung für alle Akteure und Beteiligten liegt. Verschiedene Studien untermauern dies.

Ein Umdenken, weg von der oberflächlichen, reaktiven Kultur der Schuldzuweisung hin zu einer systemanalytischen, proaktiven Sicherheitskultur mit vorurteilsfreiem Umgang mit Fehlern ist zu beobachten. Bemühungen eine Sicherheitskultur im Gesundheitsbereich zu etablieren, sind aber noch jung. In der klinischen Praxis werden gerätespezifische Einzelrisiken und auch Großrisiken, wie die Gefahr eines flächendeckenden Stromausfalls, analysiert und versucht entgegenzuwirken oder auch entsprechende Gegenmaßnahmen zu installieren. Klinische Risiken, die sich durch die Behandlung von Patienten und durch die Organisation ergeben, finden aber derzeit kaum oder noch zu wenig Beachtung.

Die ursachenorientierte Situationsanalyse ergibt, dass eine systematische Sicherheitskultur im Gesundheitswesen noch zu wenig gelebt wird. Es werden in der Praxis seltene Ereignisse in ihrer Relevanz zu oft unterschätzt. In der Folge fließen zu wenige Kenntnisse über mögliche personengebundene und systembedingte Ursachen und Mechanismen in die Prävention mit ein und somit ändern sich die fehlerbegünstigenden Rahmenbedingungen kaum.

So ist das Arbeitssystem Krankenhaus geprägt durch Gerätekombinationen, deren Heterogenität den Mitarbeitern die tägliche Arbeit erschwert. Fehlende Partizipation der Mitarbeiter am Produktentwicklungsprozess verbunden mit kaum vorhandener empathischer Miteinbeziehung von Entwicklern aus der Medizintechnik sowie Krankenhausbetreibern in die Anforderungsdefinition der klinischen Routine untermauert den aktuellen Zustand.

Des Weiteren erschwert die sehr segmentierte und fragmentierte Struktur im Arbeitssystem Krankenhaus das frühzeitige Erkennen und Bewerten von Risiken und Chancen und führt zu methodischen Problemen, die die Entwicklung und Implementierung einer allgemeinen Vorgehensweise erschweren.

Die zukunftsorientierte Situationsanalyse stellt heraus, dass die Erwartung der Öffentlichkeit an Sicherheit und Transparenz weiter steigen wird. Die Forderung nach einem „sicheren Krankenhaus“ wird immer lauter. Auch unter der

Betrachtung der äußeren Rahmenbedingungen, die das Arbeitssystem Krankenhaus umgeben, wird dieser Ansatz immer zukunftsweisender, da im deutschen Gesundheitswesen mit einer weiteren Leistungsverdichtung in den nächsten Jahren zu rechnen ist.

Die lösungsorientierte Situationsanalyse stellt Lösungsmöglichkeiten zum Problembereich dar. Unterteilt ist die Betrachtung in zwei große Blöcke. Der erste Block beschäftigt sich mit der Komplexitätsbewältigung und Stärkung der Partizipation und Empathie. Der zweite Block geht spezifischer auf die Bereiche Identifikation, Analyse und Bewertung von Ursachen und Fehlern ein. In beiden Blöcken werden unterschiedliche Modelle, Konzepte, Methoden und Instrumente vorgestellt, die zu einem ganzheitlichen Lösungspool zusammengefasst werden.

Die Ergebnisse der vorangegangenen Situationsanalysen werden zu einem zentralen Anforderungskatalog für die SPS-Vorgehensweise verdichtet. Zur besseren Strukturierung unterteilt sich dieser in formale und operative Anforderungen. Auf den Anforderungskatalog setzt im nächsten Schritt die Lösungsentwicklung auf.

Die Lösungsentwicklung führt zur SPS-Vorgehensweise, die eingebettet ist in die vorangestellten Grundannahmen. Die Vorgehensweise unterteilt sich in drei Teilschritte, die unterschiedliche in der Industrie weit verbreitete Modelle, Konzepte, Methoden und Instrumente zu einer zusammenfasst. Die drei aufeinander aufbauenden Teilschritte umfassen das Identifizieren und Beschreiben des Problembereichs, das Analysieren und Bewerten von Ursachen und Fehlern und das Ableiten und Bewerten von Verbesserungsmaßnahmen.

In einer Vorstudie zum Thema innerklinischer Intensivtransport wird die SPS-Vorgehensweise im Klinikum Ernst von Bergmann erstmals angewendet und so auf ihre Praxistauglichkeit überprüft.

Im Rahmen der Vorstudie wird der innerklinische Transport als Problembereich identifiziert und aufbereitet und in der Folge hinsichtlich Ursachen und Fehlern analysiert und bewertet. Ergebnis der Vorstudie ist im dritten Schritt das Ableiten und Bewerten einer Verbesserungsmaßnahme in Form eines Transportmoduls. Der Anforderungskatalog für dieses Transportmodul ist hierarchisch gegliedert nach dem TOP-Ansatz. Dieser besagt, dass technische Lösungen vor organisatorischen herbeizuführen sind und personenbezogene erst, wenn technische und organisatorische nicht ausreichen.

Transfer auf andere risikokritische Arbeitssysteme

Durch eine exemplarische Gegenüberstellung der gegenwärtigen Rahmenbedingungen in der Medizin und in der Luftfahrt wird abschließend analysiert, inwieweit ein Transfer der SPS-Vorgehensweise in andere risikokritische Arbeitssysteme möglich ist.

Der Transfer wird als möglich angesehen, da grundsätzliche Parallelen z.B. in den Risikowelten „Medizin“ und „Luftfahrt“ vorzufinden sind. Da es sich bei der SPS-Vorgehensweise um eine systematische Vorgehensweise handelt, müsste sie in andere Arbeitssysteme und in die dort bereits bestehenden systematischen Strukturen integriert werden können.

Diskussion

Eine Erkenntnis aus der Vorstudie ist, dass die SPS-Vorgehensweise in der Anwendung praktikabel ist und abhängig vom Expertenwissen zu einer systematischen Problemanalyse und -bewertung führen kann, aus der Verbesserungsmaßnahmen abgeleitet werden können. Kritisch muss eingestuft werden, dass die SPS-Vorgehensweise in der aktuellen Form sehr vielschichtig ist, sodass eine Vereinfachung und stärkere Fokussierung, an zu denken ist.

Ausblick

Die methodische Weiterentwicklung der SPS-Vorgehensweise hinsichtlich des PDCA-Zyklus (Plan-Do-Check-Act) nach Deming ist eine interessante Zukunftsperspektive.

Ein weiterführender Forschungsbedarf, ob und in welchem Umfang eine Beziehung zwischen der Anwendung der SPS-Vorgehensweise und der Verbesserung der Patientensicherheit besteht, wird identifiziert.

1 Situation

Zu den Hochrisikoumwelten zählen Umwelten, in denen Fehler und Fehlhandlungen zu weitreichenden Auswirkungen sowohl für den Mensch als auch für die Umwelt führen können. Beispiele für diese Bereiche sind Organisationen, die komplexe und gefährliche Technologien einsetzen, wie z.B. Luftfahrt, Reaktortechnik und petrochemische Anlagen (vgl. Dietrich & Childress, 2004; Mistele & Geithner, 2008).

In Systemen mit offensichtlich großem gesellschaftlichen Gefährdungspotenzialen ist das Sicherheits- und Fehlermanagement stark strukturiert und Abläufe sind weitestgehend standardisiert (vgl. Wilpert, 2001; Helmreich, 2000). So haben sich in diesen Bereichen Methoden und Vorgehensweisen für kritische, sicherheitsrelevante Ereignisse etabliert. Laut Wilpert (1996) besteht ein Sicherheitsmanagement in diesen Bereichen aus Kontrolle, Intervention und Prävention. Ausgewählte Instrumente dieser drei Strategien sind Unfallanalysen, Trainings und die Entwicklung einer Sicherheitskultur.

Bei sicherheitskritischen Anlagen und Geräten ist die Berücksichtigung des „menschlichen Faktors“ besonders wichtig. Hier können „Fehlpassungen“ zwischen Mensch und Technik Folgen haben, die unter Umständen sogar das Gesamtsystem bedrohen.

Allerdings erschwert die Komplexität im System häufig die Lokalisation von Schwachstellen und die Einschätzung von weit verzweigten Folgen (vgl. Hennings, Mertens & Reer, 1995). So steht die Forschung bei komplexen Systemen mit vielen kleinen Einzelrisiken, wie z.B. in der medizinischen Behandlung, noch am Anfang. Auch die Frage, in wieweit Erkenntnisse aus der Industrie für die Medizin genutzt werden können, ist noch nicht beantwortet, da spezielle Rahmenbedingungen im medizinischen Arbeitssystem vorliegen, die im Folgenden näher beschrieben werden.

1.1 Arbeitssystem Krankenhaus

Das Gesundheitswesen besitzt sehr segmentierte und fragmentierte Versorgungsstrukturen, verbunden mit einer sehr großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung (vgl. Podtschaske, Eilermann & Friesdorf, 2008). Aus arbeitswissenschaftlicher Sicht zeichnet es sich durch seine hohe Komplexität und Dynamik aus. So sind Mensch, Technik und Organisation auf verschiedenen Ebenen und durch verschiedene Subsysteme miteinander verknüpft und stehen in wechselseitiger Interaktion zu einander (vgl. Friesdorf & Göbel, 2000). Die Tabelle 1 gibt einen Überblick, in welche einzelnen Ebenen sich das Arbeitssystem Gesundheitswesen unterteilen lässt.

Tabelle 1: Hierarchien des Arbeitssystems Gesundheitswesen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eigene Darstellung (in Anlehnung an Martin, 1994, S.34; Backhaus, 2004, S. 17)

Gut verdeutlichen lässt sich die hohe Komplexität im System durch eine genauere Betrachtung eines Arbeitssystems. Exemplarisch wird im Folgenden näher auf ein Arbeitssystem aus der vierten Systemebene, das Krankenhaus, eingegangen.

Wesentliche Kennzeichen des Arbeitssystems Krankenhaus sind seine hohe Spezialisierung, starke Arbeitsteilung und die hohe Komplexität. Traditionell ist das Arbeitssystem Krankenhaus streng hierarchisch und funktional entlang der drei Säulen Ärzteschaft, Pflege und Verwaltung organisiert (vgl. Pust, 2000).

Die Abbildung 1 verdeutlicht, wie sich das Arbeitssystem Krankenhaus in einzelne Subsysteme unterteilt, die wiederum in einzelne Organisationseinheiten und Fachabteilungen untergliedert werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Arbeitssystem Krankenhaus mit Subsystemen Quelle: Eigene Darstellung (in Anlehnung an Middendorf, 2005, S. 45)

Grundsätzlich stehen alle Bereiche im Arbeitssystem Krankenhaus in einem großen Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Alle Mitarbeiter erbringen Dienstleistungen und konsumieren gleichzeitig Leistungen anderer Fachabteilungen. Die Behandlung eines Patienten ist die Summe von Teilleistungen, die innerhalb einer „Prozesskette“ erbracht werden. In der Praxis zeigt sich, dass die Gesamtqualität der Prozesskette abhängig ist von der Leistung des schwächsten Glieds (vgl. Plocek, 1997, S. 13 ff.).

Prägnante Widersprüche erschweren die Leistungserbringung im Arbeitssystem Krankenhaus. Im Klinikalltag besitzen die einzelnen Abteilungen oftmals eine eigene Wirklichkeit und Wertigkeit ihres Bereiches, verbunden mit einer Autonomie oder zumindest Teilautonomie innerhalb der Organisation. Dies kann mit der hierarchischen und funktionsbezogenen Führungsstruktur der Krankenhausorganisation kollidieren. Wenn hinzukommend Zuständigkeiten nicht klar geregelt sind, kann die Folge sein, dass jeder Akteur das macht, was er fachlich gesehen für angebracht hält. Es kann sich eine starke Spezialisierung ausprägen, die zu Konflikten mit der organisatorischen Rolle führen könnte. Der Spagat zwischen Expertentum und General Management liegt nahe (vgl. Plocek, 1997; Pust, 2000).

Ein weiterer Widerspruch liegt im klassischen Informationsdefizit, das in der Praxis häufig vorherrscht. Eigentlich müsste in einem Krankenhaus ein umfassendes Informations- und Dokumentationsmanagement existieren, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Dies ist leider oftmals nicht der Fall. Den aktuellen Stand in deutschen Krankenhäusern bringen Bernsmann, Neumann, Schleberger & Sedlaczek (2002, S. 14) wie folgt auf den Punkt: „Der Klinikalltag lässt es nicht zu, dass alle Informationen, die zwischen Arzt und Patient, Patient und Pflegeperson, Pflegeperson und Arzt oder auch in Richtung der sonstigen Berufsgruppen im Krankenhaus ausgetauscht werden, lückenlos dokumentiert werden.“ Des Weiteren nimmt der Stellenwert der Schnittstelle zwischen Mensch und Technik immer weiter zu.

In den klinischen Alltag hat die Technik einen starken Einzug gehalten. So hat sich z.B. in der klinischen Routine in den letzten Jahren eine erhebliche Entwicklung von technischen Gräten in der Bandbreite von der Diagnostik über die Therapie hin zum Monitoring von Patienten vollzogen.

Untersuchungs- und Behandlungsverfahren sind erfolgreicher geworden, allerdings auch komplizierter und gefahrträchtiger. Einzelne Geräte, die zur Anwendung kommen, sind hoch spezialisiert, aber nicht aufeinander abgestimmt. So sind in der klinischen Routine immer mehr heterogene Gerätekombinationen anzutreffen, die die Anwender vor neue Probleme und Herausforderungen stellen. Es existieren keine technischen Modullösungen, sondern vielmehr selbst zusammengestellte Individuallösungen, um z.B. intensivpflichtige Patienten auf innerklinischen Transporten monitorisch und gerätetherapeutisch zu betreuen. Der medizinische Fortschritt ist so auch mit neuen Risiken verbunden (vgl. Bernsmann et al., 2002; Friesdorf & Marsolek, 2008).

Gerade in hoch technisierten medizinischen Bereichen wie der Intensivmedizin ist das Zusammenwirken von ärztlichem und pflegerischem Handeln am Patienten ohne den Einsatz von technischen Geräten nicht mehr vorstellbar (vgl. Kramme & Kramme, 2007; Carayon & Friesdorf, 2006; Friesdorf, Göbel & Buß, 2004). Die Wechselwirkung zwischen Patient, Arzt/Pfleger und Maschine stellt Friesdorf (1990) als medizinisches Arbeitssystem (siehe Abbildung 2) in Interaktion der Akteure zueinander dar.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Medizinisches Arbeitssystem

Quelle: Eigene Darstellung (in Anlehnung an Friesdorf, 1990; Schmidtke, 1993)

Immer komplexer werdende Untersuchungen und Behandlungsabläufe erfordern ein hohes Maß an Kommunikation, vorausschauender Planung und eine professionelle Beherrschung der immer stärker aufkommenden Schnittstellenproblematik, um Patientensicherheit gewährleisten zu können (vgl. Aktionsbündnis Patientensicherheit, 2006).

1.2 Patientensicherheit in der Medizin

Im Jahre 2000 erregte der Bericht des Instituts of Medicine (IOM) „To err is human“ weltweit Aufmerksamkeit. Erstmals wurde in seiner ganzen Dramatik aufgezeigt, dass bei bis zu 3,7 % aller in ein Krankenhaus aufgenommenen Patienten in den Vereinigten Staaten ein Behandlungsschaden vorliegt, d.h. es ist ein Schaden durch eine medizinische Maßnahme und nicht durch die Krankheit oder den aktuellen Zustand des Patienten entstanden. Über die Hälfte dieser Fälle wären nach Aussagen von Kohn, Corrigan & Donaldson (2000) durch bessere Organisation, Qualifikation oder wirkungsvollere Sicherheitsmaßnahmen vermeidbar gewesen.

Andere Untersuchungen kommen zu vergleichbaren Ergebnissen und auch zwei umfangreiche Krankenblattstudien von Scheppokat & Neu (2007) ergaben sieben Jahre später noch behandlungsbedingte Patientenschäden bei 2,9 und 3,7 % der Krankenhausbehandlungen.

Zu der Fehlerproblematik im Gesundheitswesen formulierte Vicente (2006, S. 19) einen anschaulichen Vergleich: „If the preventable mortality rate were the same in commercial aviation as it is in health care, then a wide-body jet-aircraft accident with no survivors would occur once every day or two.“

In Deutschland ist in den letzten Jahren das Interesse an der Aufdeckung von medizinischen Behandlungsfehlern und die Forderung nach Erhöhung der Patientensicherheit immer eindringlicher geworden. Meldungen über Fehler und Zwischenfälle erregen die öffentliche Aufmerksamkeit und ziehen sich wie ein roter Faden durch Presse und Medien (vgl. Wiedensohler, 2007).

Fehler werden in der Gesellschaft sehr häufig mit menschlichem Versagen gleichgesetzt. Sehr stark ist die Angst davor, „ertappt“ zu werden und bei Offenlegung eines Fehlers mit persönlichen Sanktionen rechnen zu müssen. Nur sehr oberflächlich wird in der Praxis gefragt, wie es zu einem menschlichen Versagen kommen konnte (vgl. Aktionsbündnis Patientensicherheit, 2006, 2007). In praktisch allen sicherheitskritischen Industriezweigen gilt es als gesichert, „dass ca. 70 % aller Zwischenfälle ihre Ursachen nicht in mangelndem fachlichen Wissen haben, sondern im Bereich der so genannten Human Factors - bei der Teamarbeit, bei der Entscheidungsfindung und bei der situationsbedingten Einschränkung von Beteiligten“ (Rall, Martin, Geldner, Schleppers, Gabriel, Dieckmann, Krier, Volk, Schreiner-Hecheltjen & Möllemann, 2006, S. 10).

Im Gesundheitsbereich ist ein neues Risiko- und Fehlerverständnis auf dem Vormarsch, welches neben der individuellen Verantwortung die Kommunikations-, Team- und Systemfaktoren gezielter in den Vordergrund stellt. Fehler sollen in Krankenhäusern kein Tabuthema mehr sein, sondern als Chance zum Lernen aufgefasst werden. Aufgabe ist es, die Zahl der Fehler zu minimieren und nicht ihre Existenz zu verleugnen. Eine neue Fehlerkultur ist in der Entstehung, bei der die Sanktion in den Hintergrund tritt und das Bestreben wächst, aus Fehlern zu lernen und diese als Potenzial für Verbesserungen aktiv zu nutzen (vgl. Aktionsbündnis Patientensicherheit, 2006). Was bereits Landauer (1998) als ein Vertreter aus der klinischen Praxis als Paradigmenwechsel von der medizinischen Leistungs- zur Patientenorientierung vor vielen Jahren beschrieb, wird immer mehr Realität.

Zahlreiche Veröffentlichungen zu dem Thema „Patientensicherheit“ sensibilisieren und regen zur Diskussion an. Die Broschüre „Aus Fehlern Lernen“ (Aktionsbündnis Patientensicherheit, 2008) und das in ihr zusammengetragene „Fehlerbekenntnis“ von bekannten, namhaften Ärzten, Pflegern und Therapeuten sollen den Mentalitätswechsel in der Praxis unterstützen (vgl. Merten, 2008). Durch die offenere Diskussion über Fehler wird auch über mögliche synergetische Wechselwirkungen laut nachgedacht. So könnte der gestiegene Stellenwert der Patientensicherheit zu neuen Innovationen im Bereich Medizintechnik, insbesondere im Bereich Produktentwicklung, führen (vgl. Oppermann, 2008 a).

Fachleute sind sich überdies einig, dass insbesondere technische Fehler und Zwischenfälle vermieden werden können, wenn die Kommunikation zwischen Anwendern in der Klinik und den Entwicklern in der Industrie verbessert und intensiviert wird (vgl. Oppermann, 2008 b). Auch Krankenhausbetreiber müssen in diesen Prozess stärker involviert werden. Denn technische Lösungen sind augenblicklich zu wenig auf die Anforderungen und Bedürfnisse der Anwender ausgelegt und das Zusammenwirken der einzelnen Geräte im Gesamtsystem stellt in der klinischen Routine oftmals ein „ergonomisches Gesamtchaos“ dar (vgl. Friesdorf & Marsolek, 2008).

2 Problemstellung

Der Paradigmenwechsel bzgl. der Patientensicherheit wird ein wachsender Prozess sein müssen, der systematisch aufgebaut und gelebt wird. Mentalitätswechsel, die so grundlegender Natur sind, können nicht sofort realisiert werden. Das angestrebte systemorientierte Verständnis von Fehlern muss akzeptiert und umgesetzt werden. Dazu gehört auch die Akzeptanz und Umsetzung folgender Tatsachen und daraus resultierender Forderungen in die tägliche Praxis (vgl. Reason, 1990, 1994, 2000, 2004; Rasmussen, 1987):

- Jeder Mensch macht Fehler.
- Der Schwerpunkt der Fehlerbetrachtung liegt auf allen verursachenden Faktoren, nicht nur auf der den Fehler verursachenden Handlung.
- Geräte und Prozesse (das System) müssen verändert und aufeinander abgestimmt werden, um die Sicherheit zu verbessern.
- Bestimmte Situationen und schlechte organisatorische Strukturen begünstigen Fehler. Auch sie müssen durch Verbesserungsmaßnahmen optimiert und ihrer Umgebung angepasst werden.

Laut Bernsmann et al. (2002, S. 12) verfügen Krankenhäuser „über die komplexesten Organisationsformen, die zurzeit bekannt sind“. Die vertikalen Strukturen innerhalb der Berufsgruppen und auch die horizontalen Strukturen innerhalb der Stationen und Abteilungen erschweren im Arbeitssystem Krankenhaus Veränderungsprozesse erheblich (vgl. Kap 1.1). Die Gestaltung und noch viel mehr die Umgestaltung von Arbeitssystemen und -prozessen im Hinblick auf Patientensicherheit erfordert von den Verantwortlichen die Umsetzung moderner Managementkonzepte (vgl. Breinlinger-O´Reilly, 2000).

In der Praxis besteht keine einheitliche Vorgehensweise zur Verbesserung der Patientensicherheit, die auf die Besonderheiten des Arbeitssystems Krankenhaus eingeht und Aspekte moderner Managementkonzepte vereint (vgl. Aktionsbündnis Patientensicherheit, 2006, 2007, 2008). Solch eine Vorgehensweise könnte einen erheblichen Beitrag dazu leisten, mehr Systematik in das Arbeitssystem Krankenhaus zu bringen und so Risiken und Fehler in ihrem Ursprung zu bekämpfen.

Systematische Verbesserungsstrategien fehlen, um die Strukturen in Krankenhäusern mehrstufig zu verbessern und ihrer aktuellen Umgebung anzupassen.

Eine Übertragung von Vorgehensweisen aus anderen sicherheitskritischen Bereichen ist nur schwer möglich, da es sich beim Arbeitssystem Krankenhaus um ein komplexes Systemen mit vielen kleinen Einzelrisiken handelt.

Anstatt neue Methoden und Instrumente zur Verbesserung der Patientensicherheit zu entwickeln, könnte es sinnvoller sein, bereits vorhandene Ansätze an die besonderen Rahmenbedingungen anzupassen und so schneller in mehrstufigen Schritten kontinuierlich Entwicklungserfolge zu erzielen.

Eine zentrale Leitfrage, die sich aus dem Paradigmenwechsel bzgl. der Patientensicherheit ergibt, lautet: Wie sollte ein System, ein Prozess bzw. auch ein technisches Gerät mit einem hohen Gefahrenpotenzial gestaltet sein, damit die darin oder damit arbeitenden Menschen als Sicherheitsfaktoren gefördert und nicht als Risikofaktoren und Hauptverantwortliche für Unfallgeschehen eingestuft werden?

Zur Beantwortung dieser Leitfrage ist im ersten Schritt die Entwicklung einer allgemeinen Vorgehensweise notwendig, um die umgebenden Rahmenbedingungen im Arbeitssystem in ihrer Komplexität und auch Dynamik analysieren und bewerten zu können.

3 Ziel der Arbeit

Eine zentrale Forderung des Aktionsbündnisses Patientensicherheit (2006, 2007) ist, dass mehr aus Fehlern gelernt wird und aktiv unerwünschte Ereignisse, die auf Fehlern beruhen, vermieden werden.

Die Entdeckung und Analyse von Fehlern in der Praxis ist ein entscheidender Wissenspool, aus dem gelernt werden kann. Zahlreiche Methoden, um Fehler zu entdecken und zu bewerten existieren in der industriellen Praxis, doch die sinnvolle Anwendung in der Krankenhausroutine fehlt. So wird die Weiterentwicklung und Anwendung dieser Methoden und Instrumente für eine Gewährleistung der Patientensicherheit bei der Behandlung zukünftig ausschlaggebend sein (vgl. Aktionsbündnis Patientensicherheit, 2006, 2007, 2008).

Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Entwicklung einer allgemeinen Vorgehensweise zur Verbesserung der Patientensicherheit unter Berücksichtigung der genannten Problemstellung. Als Konsequenz aus den aktuellen Rahmenbedingungen im Arbeitssystem Krankenhaus ist es wichtig, eine Vorgehensweise zu entwickeln, die gekennzeichnet ist durch nachhaltige Verbesserung von risikoreichen, fehleranfälligen Systemelementen, Prozessen und Produkten. Des Weiteren sollte die Vorgehensweise zur Komplexitätsbewältigung sowie zur Steigerung der Partizipation und Empathie von Mitarbeitern, Herstellern sowie Krankenhausbetreibern beitragen.

Ziel ist es durch die Einbeziehung aller Akteure potenzielle Fehlerursachen zu analysieren und aufzuarbeiten, um so Fehler in ihrer Entstehung zu verhindern. Die Aufarbeitung besteht aus der Identifikation und Beschreibung des Problembereichs, der darauf aufbauenden Analyse und Bewertung der Ursachen und Fehler sowie den daraus abgeleiteten Verbesserungsmaßnahmen, die entsprechend ihres Verbesserungspotenziales gewichtet werden sollten. Das Ergebnis der Ausarbeitung wird zusammengefasst in einer allgemeingültigen Vorgehensweise.

Im Rahmen dieser Arbeit wird auch versucht, Erkenntnisse aus der Human Factors Forschung einzubeziehen, so wie es u.a. auch Scheppokat & Neu (2007) und Müller, Hänsel, Hübler & Koch (2006) fordern.

Um die Lösungsfindung einer allgemeingültigen Vorgehensweise möglichst systematisch zu gestalten, ist diese an ein praxisorientiertes methodisches Vorgehen angelehnt. Folgende Teilziele sind zu erreichen:

- Analyse bestehender Lösungsansätze und Vorgehensweisen aus anderen Bereichen wie z.B. der Industrie;
- Ableitung eines Anforderungskatalogs für die zu entwickelnde Vorgehensweise basierend auf der bestehenden Problemstellung;
- Entwicklung einer Vorgehensweise, die auf bestehende Lösungsansätze aus anderen Bereichen aufsetzt und diese vereint;
- Erste praxisorientierte Erprobung der Vorgehensweise auf Praktikabilität im Rahmen einer Vorstudie.

Durch die Entwicklung einer allgemeinen Vorgehensweise soll die Patientensicherheit in der klinischen Routine erhöht werden. Die zu entwickelnde Vorgehensweise wird im weiteren Verlauf der Arbeit als SPS-Vorgehensweise bezeichnet. Durch diese besondere Hervorhebung wird eine bessere Abgrenzung von bereits bestehenden Methoden und Verfahren erleichtert.

SPS steht für S ystematische P atienten S icherheit und verdeutlicht, dass gerade im klinischen Alltag die „systematische“ Patientensicherheit einen sehr wichtigen Stellenwert einnehmen sollte.

4 Theoretischer Bezugsrahmen

Der folgende Abschnitt dieser Ausarbeitung dient als Einführung in den theoretischen Bezugsrahmen von Mensch, Technik und Organisation und ihre Interaktion. Dazu werden wissenschaftliche Erkenntnisse zur Theorie von Fehlern vorgestellt, um einen theoretischen Rahmen zur Kategorisierung zu schaffen.

Anschliel3end wird ein Einblick in das menschliche Handeln unter Unsicherheit gegeben. Vom Menschen ausgehend folgt der Übergang zur Technik. Eine Gegenüberstellung von Stärken und Schwächen bei Mensch und Technik beschreibt die Grundvoraussetzungen beider Faktoren, die anschliel3end in die „Mensch-Maschine-Interaktion“ einfliel3en. Abgeschlossen wird der theoretische Bezugsrahmen mit einer Betrachtung des letzten Faktors, der Organisation.

4.1 Fehlertheorie nach Reason

Eine der bekanntesten Fehlertheorien unserer Zeit wurde vom englischen Psychologen James Reason (1990, 1995) entwickelt. Viele Veröffentlichungen auch zum Thema Patientensicherheit nehmen auf diese Theorie Bezug. Zentrale Begriffe wie aktives und latentes menschliches Versagen oder auch unsicheres Handlungen werden in dieser Theorie näher beschrieben.

Aktives und latentes menschliches Versagen

Als aktives Versagen werden unsichere Handlungen bezeichnet, die z.B. von Chirurgen, Anästhesisten oder Krankenschwestern an der Schnittstelle zwischen Mensch und System begangen werden. Die Handlungen des Menschen an der Schnittstelle Mensch/System können bzw. haben unmittelbare Auswirkungen (vgl. Reason, 1995, S. 82).

Latentes Versagen kann durch Entscheidungen entstehen, die auf höheren Stufen einer Organisation gefällt werden. Die Auswirkungen können so lange verdeckt bleiben, bis sie durch das Zusammentreffen mit lokalen Faktoren und durch das Durchdringen der Sicherheitsbarrieren des Systems sichtbar werden (vgl. Reason, 1995, S. 82).

Unsichere Handlungen

Als Zuwiderhandlungen werden Handlungen zusammengefasst, die von Verfahrensanweisungen abweichen. Die Handlung ist beabsichtigt, nicht allerdings das eventuell schlechte Ergebnis. Hierbei wird unterteilt in routinemäßige („Abkürzung“ vom vorgeschriebenen Verfahren), optimierende (persönliche werden vor handlungsorientierte Ziele gestellt) und situationsbedingte (Verfahren erscheint unangebracht).

Als Fehler wird bezeichnet, wenn eine geplante Handlung das erwünschte Ziel nicht erreicht. Dabei kann der Handlung entweder ein falscher Plan zugrunde liegen (Irrtum) oder die Handlung wird nicht wie geplant durchgeführt (Ausrutscher und Aussetzer). Ausrutscher beruhen auf Problemen der Aufmerksamkeit, wobei Aussetzer auf Problemen des Gedächtnisses beruhen (vgl. Reason, 1990).

Gerade bei Unsicherheit neigen Menschen dazu, Risiken anhand von Heuristiken einzuschätzen und danach ihre Entscheidungen zu treffen. Im Folgenden wird auf diesen Aspekt näher eingegangen.

4.2 Handeln unter Unsicherheit

Das Konzept der begrenzten Rationalität und die daraus weiterentwickelte prospect theory spielen eine entscheidende Rolle bei unsicheren Handlungen. Begrenzte Rationalität bezeichnet die Tatsache, dass Entscheidungsprozesse aufgrund von Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten des Menschen immer nur begrenzt rational getroffen werden. Menschen verwenden z.B. aus Zeitmangel oder Überforderung intuitive Heuristiken und handeln damit nur eingeschränkt rational.

Das Konzept der begrenzten Rationalität wurde von Wissenschaftlern aus dem Bereich der Entscheidungstheorien weiterentwickelt. Eine dieser Weiterentwicklungen ist die „prospect theory“ (vgl. Kahneman & Tversky, 1979; Tversky & Kahneman, 1992), die im Folgenden kurz vorgestellt wird.

Die “prospect theory” beschäftigt sich mit dem Unter- bzw. Überschätzen von Informationen, die für Entscheidungen herangezogen werden. Es wird davon ausgegangen, dass im Alltag drei grundlegende Heuristiken vorherrschen. Sie sind intuitiv und basieren auf die Wahrnehmungen des Entscheiders.

Die erste Heuristik ist die Repräsentativität eines Ereignisses. Die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Folgen erfolgt danach, ob die Entscheidungssituation, in die sich der Entscheider gerade befindet, eine Ähnlichkeit mit vergangenen Situationen aufweist.

Die zweite Heuristik besagt, dass nur Wahrscheinlichkeiten in die Betrachtung der Entscheidungssituation einbezogen werden, die unmittelbar zur Verfügung stehen oder zu denen notwendige Informationen leicht beschafft werden können.

Die dritte Heuristik wird als „Anker-Heuristik“ bezeichnet und besagt, dass Entscheider ausschließlich diejenigen Informationen in ihre Entscheidung einbeziehen, die ihnen zuerst zur Verfügung stehen. Spätere Informationen werden nicht mehr oder nur unzureichend berücksichtigt.

4.3 Mensch, Technik und Organisation

Das Handeln des Menschen unter Unsicherheit zeigt bestimmte Verhaltensmuster auf, die typisch und bezeichnend für den Faktor Mensch sind. So werden den menschlichen Fähigkeiten auch evolutionsbedingte Grenzen gesetzt, die zwar durch besondere Eignung oder auch Training verschoben werden können aber nicht gänzlich überwunden werden. Biologische Grundgegebenheiten stellen für jedes Individuum Grenzen auf. Begrenzte Körperkräfte, die Leistungsbreite der Sinnesorgane, die Art, der Umfang und die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung sind einige wesentliche Punkte (vgl. Luczak, 1998).

Im Allgemeinen lassen sich bei der Betrachtung des Faktors Mensch generelle Stärken und Schwächen herausstellen, die bei der Gegenüberstellung mit dem Faktor Technik interessante Erkenntnisse eröffnen können. Die Tabelle 2 fasst die entscheidenden Stärken von Mensch und Technik zusammen.

So wie Mensch und Technik prägnante Stärken aufweisen, so weisen sie auch prägnante Schwächen auf (siehe Tabelle 3). Besonders die Schwächen bieten dabei Raum für Fehlermöglichkeiten.

Kenntnisse der motorischen, sensorischen und der psychischen Fähigkeiten des Menschen können dazu beitragen, die Arbeit unter arbeitswissenschaftlichen Aspekten so zu gestalten, dass Fehler vermieden werden und auch die Qualität steigt (vgl. Institut für angewandete Arbeitswissenschaft, 2006, S. 48).

Theoretischer Bezugsrahmen 15

Tabelle 2: Stärken von Mensch und Technik

Quelle: Eigene Zusammenstellung (in Anlehnung an Wickens & Hollands, 2000)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Besonders ausschlaggebend ist der richtige Umgang mit den Stärken und Schwächen von Mensch und Technik und ihrer Interaktion bei Installation und Betrieb sicherheitskritischer Anlagen und Geräte. „Fehlpassungen“ können hier gravierende Folgen haben (vgl. Grote, 1999; Hennings, Mertens & Reer, 1995; Johannsen, 1993).

Wenn ein Mensch mit einem technischen System zielgerichtet zusammenwirkt, um einen fremd- oder selbstgestellten Auftrag zu erfüllen, wird von einem Mensch-Maschine-System gesprochen. Unter dem Begriff Maschine kann dabei sowohl ein einzelnes Gerät als auch eine ganze Anlage verstanden werden (vgl. Timpe & Kolrep, 2002, S. 10). Es gibt unterschiedliche Gestaltungsbereiche bei

Mensch-Maschine-Systemen (siehe Abbildung 3). Weiterführende Erläuterungen zu den einzelnen Gestaltungsbereichen werden bei Timpe & Kolrep (2002) ausführlich beschrieben.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Gestaltungsbereiche für Mensch-Maschine-Systeme Quelle: Timpe & Kolrep, 2002, S. 33

Die vorangestellten Ausführungen haben den Menschen, die Technik und ihre Interaktion zum Schwerpunkt. Im Folgenden wird der Faktor Organisation betrachtet und auch hier auf die Interaktion, jetzt mit den Faktoren Mensch und Technik, eingegangen.

Auch mit latenten Fehlern beschäftigte sich Reason (1995). Unter diesen können Mängel im System (z.B. schlechtes Design, falsche Installation, ungenügende Wartung) verstanden werden. Da sie zeitlich und räumlich nur schwer zu identifizieren sind, ist es schwierig, sie mit einem Fehler oder einem unerwünschten Ereignis in Verbindung zu setzen.

Latente Fehler können auf allen Ebenen des Managements stattfinden und so auch Fehler auf anderen Stufen begünstigen. Zusammengefasst hat Reason (1995) seine Erkenntnisse im o rganisational accident model.

Diesem Modell liegt zugrunde, dass in allen Unternehmen sich einige Merkmale gleichen. Unternehmen verfügen über eine Management- und Organisationsstruktur mit unterschiedlichen Arbeitsplätzen, die im Einzelnen von speziellen Arbeitsbedingungen geprägt und mit bestimmten Fehlern besetzt sein können. Unsichere Handlungen, die sich in Fehler und Zuwiderhandlungen ausdrücken können (vgl. Kap. 4.1), können daraus resultieren.

Die in jedem Unternehmen installierten Sicherheitsmaßnahmen bilden eine Barriere, doch einige Fehler entwickeln sich doch zu Unfällen und Schadensfällen. Ausgangspunkt dieser Ereigniskette stellen organisatorische Rahmenbedingungen dar. Die Abbildung 4 verdeutlicht die Zusammenhänge.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Stages of development of organizational accident Quelle: Reason, 1995, S. 83

Auch Vuuren (1998) stellt im Rahmen seiner Arbeit einen interessanten Zusammenhang zwischen Mensch, Technik und Organisation dar. Laut der Auffassung von Vuuren stehen technische und menschliche Fehler in Wechselwirkung mit organisatorischen. Hingegen führen organisatorische Fehler alleine nicht direkt zu einem gefährlichen Ereignis. Die weitere Entwicklung eines Fehlers ist davon abhängig, ob menschliches bzw. technisches Eingreifen zu einer Entschärfung der Situation führen kann. Die Abbildung 5 verdeutlich die Dynamik und Komplexität von fehlerhaften Ereignissen und die damit verbundene Kausalität.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 5: Organisational failure in relation to technical/ human failure Quelle: Vuuren, 1998, S. 113

Zusammengefasst können die Faktoren Mensch, Technik und Organisation in einem Arbeitsmodell dargestellt werden. Ausgehend von den Annahmen des Arbeitspsychologen Ulich (2005) geht Schmidtke von einem Arbeitsmodell nach dem MTO-Ansatz aus. Mensch, Technik und Organisation stehen dabei im Mittelpunkt der Betrachtung und werden beeinflusst von sehr unterschiedlichen Faktoren. Die MTO-Betrachtung wird als ganzheitlicher Ansatz verstanden, da nicht mehr einzelne Faktoren untersucht werden, sondern die Kombination der Faktoren im Vordergrund steht (vgl. auch Strohm & Ulich, 1999; Dunckel, 1999).

Unterschiedliche Aufgabenstellungen können dabei formuliert werden: Für einen Intensivpfleger im Krankenhaus könnte eine mögliche Aufgabe sein, das Monitoring eines Patienten zu überwachen und bei einer Fehlermeldung bzw. einem Alarm entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Unter Regeln, Steuerung und Einflüsse können z.B. Arbeitsbedingungen (Arbeitsplatz in einer Intensivstation) gesehen werden. Ein einleuchtendes Beispiel für die Ressourcen könnte die begrenzte Aufmerksamkeit, Wachheit oder auch Stressbelastung des Intensivpflegers während seiner Arbeitszeit sein (vgl. Wickens & Hollands, 2000). Die Abbildung 6 stellt die Elemente und Zusammenhänge im Arbeitsmodell grafisch dar und bildet auch die theoretische Basis für das in Kap. 1.1 (vgl. Abbildung 2) näher beschriebene medizinische Arbeitssystem.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 6: Arbeitsmodell nach Schmidtke

Quelle: Eigene Darstellung (in Anlehnung an Schmidtke, 1993)

[...]

Final del extracto de 109 páginas

Detalles

Título
Entwicklung einer Vorgehensweise zur Verbesserung der Patientensicherheit am Beispiel des innerklinischen Intensivtransports
Universidad
Technical University of Berlin
Calificación
1,3
Autor
Año
2008
Páginas
109
No. de catálogo
V140672
ISBN (Ebook)
9783640498123
ISBN (Libro)
9783640498376
Tamaño de fichero
1280 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Entwicklung, Vorgehensweise, Verbesserung, Patientensicherheit, Beispiel, Intensivtransports
Citar trabajo
Beate Eilermann (Autor), 2008, Entwicklung einer Vorgehensweise zur Verbesserung der Patientensicherheit am Beispiel des innerklinischen Intensivtransports, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/140672

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