Interaktionsanalyse im Strafverfahren


Trabajo Escrito, 2001

24 Páginas


Extracto


Interaktionsanalyse im Strafverfahren

I) Einleitung

Als Aufgabengebiet der empirischen Sozialforschung befaßt sich die strategische Interaktion mit Ablauf- und Organisationsstrukturen spezifischer Kommunikationsformen. Sie ist damit ein Teil der Konversationsanalyse, die sich allgemein mit der Gesprächsstruktur auseinandersetzt. In der Konversationsanalyse ergeben sich mehrere Forschungsansätze. Die folgenden Ausführungen im Zusammenhang mit der strategischen Interaktion und einem Strafprozeß als konkretem Arbeitsgegenstand konzentrieren sich auf eine mögliche interpretativ-ethnologische Sichtweise. Da mehrere Ebenen der Interaktion existieren, ergeben sich hinsichtlich eines Strafverfahrens als Vertreter einer institutionellen Interaktion erhebliche Unterschiede. So soll hier im Folgenden auf die entsprechenden Charakteristika eingegangen werden und versucht werden, einige der Erscheinungsformen im Verlauf der Verhandlung aufzuzeigen. Dazu gehört nicht nur die Frage nach Strategien eventuell dominierender Interaktionspartner, auch die Besonderheit der Kommunikationsstruktur, Störungen und Beeinträchtigungen des Argumentationsschemas sowie Hierarchiegefüge und der Begriff der Wahrheitssuche auf kommunikativ-konsensueller Ebene geraten ins Blickfeld.

II) Allgemeiner Überblick über die Konversationsanalyse

Die Konversationsanalyse beinhaltet eine empirische Erfassung von sprachlichen Texten, deren Ursprung einer natürlichen Kommunikationssituation entspringt. Nach der Auf- zeichnung und Speicherung mittels elektronischer Medien (z.B. Tonbandgerät, Mikrophon) liegt der zweite Schritt in der Transkription des gesicherten Materials, unter besonderer Beleuchtung der Strukturen des Kommunikationsablaufs. Hinsichtlich der Struktur sind dabei besonders die Aktivitäten der Beteiligten, deren Bedeutungsvoraussetzungen und deren Bedeutungszuschreibungen zu beachten.

Hinsichtlich der Konversationsanalyse sind drei wesentliche Forschungsrichtungen zu unterscheiden:

a) Die Betrachtung der formalen Struktur eines Gesprächsablaufs:

Verfechter dieses Ansatzes befassen sich primär mit der Analyse der elementaren Aktivitäten, durch die Strukturen eines Gesprächs aktualisiert werden. Damit verbunden sind die Ebenen sozialen Handelns in Bezug auf die Analyse elementarer Strukturen und Aktivitäten. Allerdings ergibt sich betreffend ausgebauter, sozialer Handlungsfiguren keine Systematik.

b) Die ethnolinguistisch-anthropologische Variante:

„Die Ethnographie des Sprechens“ legt ihren Analyseschwerpunkt auf die Dimension der Sprechsituation.

c) Die interpretativ-ethnomethodologische Soziologie:

Interpretative Prozeduren (bzw. Basisregeln oder Interaktionspostulate) stellen grundlegende Voraussetzungen der Bedeutungsproduktion und Interpretation für eine abzuwickelnde sprachliche Interaktion.

Formelle Strukturen eines Kommunikationsablaufs beziehen sich primär auf Erscheinungen, die auch als Gesprächsorganisation bezeichnet werden können. Diese Gesprächsorganisation ist die Grundbedingung jeder Konstitution von Handlungsschemata, aus denen jegliche Be- deutungsproduktions- und Interpretationsprozesse hervorgehen. Nicht zuletzt deswegen muß die Bedeutungsproduktion und die Handlungskonstitution in einem Zusammenhang betrachtet werden. Eine Organisation des Sprecherwechsels läuft über jede einzelne Äußerung („turn- by-turn“). Aus der Logik heraus ergibt sich die Notwendigkeit, das Ende jeder einzelnen Äußerung zu erkennen. Eng verwoben mit dem Sprecherwechsel zeigt sich das Konzept der „konditionellen Relevanz“ als ein Kontextbezug der Aktivität. Einfacher formuliert: Die sprachliche Handlung eines bestimmten Typus bedingt die Folge eines korrespondierenden Typus.

Die Ablaufkonstitution läßt sich ohne weiteres als Kernthema der Kommunikationsanalyse bezeichnen. Das Gespräch als geordnete Aktivität - gefestigt durch Regeln und Konventionen. Alle Beteiligten haben somit die Möglichkeit, ihr Gegenüber teilweise zu kontrollieren, d.h. basierend auf strukturellen Zwängen eine Form der Steuerung auszuüben. Im Rahmen der Konversationsanalyse existieren einige unterschiedliche Ebenen der Aufmerksamkeit, so z. B. die der Gesprächsorganisation, der Handlungsfiguren oder der Strategiebildung.

Zusammenfassend zur Konversationsanalyse findet sich im „Lexikon zur Soziologie“ folgende Erklärung („Lexikon z. Soziologie“ - Hg. v. Fuchs-Heinritz / Lautmann / Rammstedt / Wienold; 3. Auflage, Westdeutscher Verlag, 1995):

„Konversationsanalyse,conversation analysis,von Ethnomethodologen (H. Sacks, E. Schegloff) in den 1960er Jahren begründeter Arbeitsbereich, der (natürliche) Gespräche als Interaktionsprozesse untersucht, anhand von (mit Hilfe genauer Transkriptionsverfahren dokumentierten) Gesprächsprotokollen das latente Regelsystem erforscht, das Sprecher benutzen, wenn sie ein Gespräch zustande bringen (vor allem Abfolge der Redezüge, Gestaltung von Redeübergaben, Eröffnungen und Abschlußformen). Wegen der Auffassung von Gesprächen als Interaktionsprozesse, die anhand der verschriftlichten Sprachelemente analysiert werden können, hatte die K. Einfluß auf die Begründung von Verfahren der qualitativen Interpretation (sowie auf entsprechende Transkriptionsverfahren).“

III) Strategische Interaktion

Um einen Verlauf der Kommunikation zu gewährleisten, konstituieren sich Aktivitäten der Interaktionspartner, welche ihre Kooperativität ausmachen. Diese Aktivitäten sind gekennzeichnet durch Basisregeln, Handlungsprinzipien und interpretative Prozeduren der Kommmunikation. Jene Basisregeln gelten als Grundlage für die Initialisierung und Durchführung einer kommunikativen Handlung. Zentral für diese Voraussetzung ist die Überwindung grundsätzlicher Diskrepanzen des Interaktionsprozesses. Dazu gehören die Unvergleichbarkeit der handelnden Selbstidentitäten, die Unbestimmtheit ausgetauschter Symbolgesten sowie die mangelnde Angleichung ihrer gegenseitigen Auslegung. Um den Problemen zu begegnen, existiert der Begriff der "praktischen Idealisierungen". Hier besteht die Annahme, daß für die entsprechende Interaktion bestehende Differenzen in ausreichendem Maße ausgeglichen wurden. Praktische Idealisierungen durch die Handelnden beinhalten unter anderem die von Alfred Schütze formulierten Sozialitätsidealisierungen, z.B. eine modellhafte Austauschbarkeit der Standpunkte.

Kooperativität konstituiert sich auf der Ebene einer formalen Gesprächsorganisation als Kommunikationsbereitschaft. Gemäß Sprecher und Hörer ergibt sich automatisch die Unterteilung in Hörer- und Sprecherrolle. Damit gekoppelt ist ein Alternieren der Sprecher und beide Formen der Gesprächsbereitschaft, insofern keine institutionelle Regelungen bzw. explizite Vereinbarungen dies verhindern.

Im Gegenzug zur alltagsweltlichen Interaktion ist auf der Ebene der institutionellen Regelungen eine verstärkte strategische Interaktion zu beobachten. Diese Unterschiede manifestieren sich vor allem in einer stärkeren Relevanz der Frage nach Bedeutungskonstitutions- und Interpretationsprozeßen. In institutionellen Verfahren, z.B. einem Gerichtsprozeß, wird die formale Ablaufkonstitution eines Gesprächs bereits durch die asymetrische Kooperation der Beteiligten extrem verschoben. So äußert sich das in einer absolut ungleich verteilten Zuschreibung der Redebeiträge. Strukturelle Zwänge befähigen hier den Interaktionsdominanten bzw. Verfahrenswalter (z.B. Richter oder Anklage) das Gespräch als geordnete Aktivität mittels der geltenden Konventionen zu kontrollieren und Zugzwänge der Sachverhaltsschemata zur Anwendung zu bringen. Eine Verletzung der Basisregeln, wie z.B. durch retrospektive Rückgriffe, kann als Störung empfunden werden, da es sich um einen massiven Eingriff in das Handlungsschema des Verfahrensbetroffenen handelt. Obwohl eine außersprachliche Beleg-Komponente in einem Gerichtsverfahren eine wichtige Funktion trägt, ist die Wahrheitssuche bzw. die Wahrheitskonstruktion ein rein kommunikativ-konsensuelles Verfahren. Die Wahrheitssuche erscheint, sobald eine Relation zwischen der Präsentation der eigenen Erfahrung und der generellen

Erkenntnisklassifizierungen nicht mehr erkennbar ist. Auf der Suche nach der Wahrheitsfindung wird durch ein kommunikativ-konsensuelles Verfahren die Unschärferelation zwischen situativ-vagen Einzelheiten des Rechtsstreites und allgemein- juristischen Normen überbrückt. Aufgrund einer kommunikativ-konsensuellen Wahrheitssuche gerät der Betroffene in Zugzwänge bezüglich der Ingangsetzung und Aufrechterhaltung von Sachverhaltsschemata (d.h. Detaillierung und Gestaltschließung). Da hier bereits eine Verletzung der Interaktionspostulate vorliegt, wird ein Legitimationsdefizit sichtbar. Der Verfahrenswalter hat so umfangreiche Möglichkeiten, die Materialerzeugungsphase in bestimmtem Umfang zu steuern. Damit liegen Zwangsmomente bereits in der Sachnotwendigkeit des Verfahrensablaufs. Die Orientierungs- und Interpretationsprozesse der Entscheidungsträger werden somit bestimmt. In zwangskommunikativen Momenten kommt es zu Situationen, in denen der Interaktionsunterlegene zum Sprechen gezwungen ist. Eigentlich möchte er dies aber vermeiden, da er seine Aktivitätsorientierung nicht mehr unter Kontrolle hat. Das kann für den Betroffenen einen irritierenden Störfaktor bedeuten. Interaktionsstrategien, die auf solche Art und Weise von Interaktionsdominanten eingesetzt werden, wirken sich auf unterschiedlichen Ordnungsebenen der Interaktion aus und nutzen grundsätzlich konditionelle Relevanzen. Da das Prinzip der konditionellen Relevanz sehr weitflächig greift, haben die Interaktionsdominanten in institutionell-organisatorischen Verfahren die Möglichkeit, Zugzwänge ohne große Anstrengung abzuwenden. Der Betroffene hat dabei im Gegensatz keine Möglichkeiten sich zu distanzieren beziehungsweise sich aus den Zugzwängen zu lösen, ein Ausweg ist ihm hier nicht gegeben. Mittels systematisch irritierender

Interaktionsstrategien konstituiert sich für den Betroffenen eine Krise, in der Interaktionspostulate verletzt werden und die Aktivitätsorientierung zusammenbricht. Als charakteristisch für diese Art des Zugzwanges erweist sich eine sehr reglementierte Form des "Turn-taking". In den Beteiligungsrechten zeigt sich damit eine ausgeprägte Form der Asymetrie, der Interaktionsdominante hat die Kontrolle über Einsatz, Zeit und Art der Redebeiträge gegenüber dem Interaktionsunterlegenen. Jeder strategisch Interagierende impliziert schrittweise die Voraussetzungen für die Reaktion des Interaktionspartners, die jener für seine eigenen Arbeitsschritte bedenken muß. Dabei geht der Interaktionsunterlegene automatisch das Risiko erheblicher Verstrickungen ein. Die strategische Interaktion als solche ist dabei in institutionell-organisatorischen Entscheidungsverfahren nichts Ungewöhnliches, sie ist in diesem Verfahren integriert als eine Form der "Gewebestruktur". Ein nicht notwendiger Bestandteil ist dagegen zum einen die situationsemergent- bzw. handlungsschematisch-strategische Interaktion der Verfahrenswalter, zum andern die Anzahl zwangskommunikativer Elemente in Verfahren.

Hier übernimmt der Verfahrenswalter eine zentrale Rolle. Es besteht die Annahme, daß der Verfahrenswalter hinsichtlich der zu fällenden Entscheidung bereits ein festgelegtes Ziel verfolgt. Das kann bedeuten, er will dem Angeklagten unbedingt die Schuld nachweisen oder er will noch vor Beginn einer Zivilrechtsverhandlung unbedingt zugunsten einer Partei entscheiden. Solche Vorab-Überzeugungen kann der Verfahrenswalter theoretisch durch überraschende Handlungsschritte im Ablauf des Prozesses forcieren. Da nur er das Handlungsziel kennt, impliziert dies eine Form der Täuschung, auf der "Hinterbühne" dieses Verfahrens mit einer offiziellen Verhandlung als Fassade findet noch eine "inoffizielle" zweite Handlung statt. Derartige strategische Handlungsfiguren sind jedoch nicht im institutionell-organisatorischen Prozeß legitimiert, sondern als situative Schöpfung des Verfahrenswalters anzusehen. Die "inoffizielle" Handlung wird hier als "situationsemergent" bzw. "handlungsschematisch-strategisch" angesehen im Gegensatz zur "verfahrensmäßig einprogrammierten" strategischen Interaktion des offiziellen Verfahrens. Der zweite Punkt impliziert keine inhaltlichen Festlegungen, d.h. der Verfahrenswalter reagiert mehr oder weniger unvoreingenommen auf die Ausführungen des Verfahrensbetroffenen. Das Ergebnis kann man so definieren:

In Gerichtsverfahren kommen eher sachverhaltsschematische Zugzwänge (das Ausnutzen von konditionellen Relevanzen) als handlungsschematische Zugzwänge zum Tragen. Unter Betrachtung der Umstände (d.h. Fall und Person des Verfahrensbetroffenen) kommt die Tatsache zum Ausdruck, daß handlungsschematische Elemente, nicht irrelevant sind.

Bezüglich der situationsemergent-strategischen Interaktion sei noch gesagt, daß Gerichtsverhandlungen zwar nie ganz davon freizusprechen sind, aber das Bild eines "finsteren" und böswillig fallenstellenden Verfahrenswalters entspricht sicher nicht der Wahrheit. Da institutionell-organisatorische Entscheidungsverfahren weitgehend auf handlungsschematisch Interaktionsstrategien verzichten, wird an dieser Stelle nur auf zwei Formen der sachverhaltsschematischen Strategien hingewiesen:

a) Schemabetriebsstrategien

"In ihnen werden die Kommunikationsschemata des Erzählens und Argumentierens in Gang gesetzt, aufrechterhalten, abgeschlossen, wieder aufgenommen. Die sachverhaltsschematischen Aktivitäten des Verfahrensbetroffenen werden durch Schemabetriebsstrategien gestört." (vgl. Schütze; S. 82, Absatz 2)

b) Teststrategien

Allgemein sind zwei Arten der Teststrategien zu unterscheiden.

b.1) Teststrategie im Erzählschema

Die Funktionen liegen hier unter anderem in der Überprüfung der Glaubwürdigkeit des Erzähltextes, Konzentration auf die internen Widersprüche der ausgeführten Sachverhalte oder dem Nachweis der Glaubwürdigkeit bezüglich der biographischen Entwicklung.

b.2) Teststrategie im Argumentationsschema

Hier wird die interne Konsistenz der Behauptungen, Begründungen und Belege des Verfahrensbetroffenen oder des Zeugen überprüft. Dabei wird darauf geachtet, ob Widersprüche zwischen den abgewickelten Begründungsaktivitäten oder gar in ihnen auftreten, ob Diskrepanzen zwischen Handlungssituationen feststellbar sind.

Teststrategien werden allgemein als legitim anerkannt, sie sind nur dann problematisch, wenn der Betroffene diese als Schikane erfährt, da er in diesem Augenblick keine Handlungsmöglichkeit mehr erhält. Doch selbst die mißbräuchliche Anwendung der Teststrategien gilt noch nicht als unbedingt zwangskommunikativ, hat der Betroffene immer noch eine geringe Möglichkeit, sich aktiv zu verhalten. Da der Mißbrauch mittels schikanöser Formen der Teststrategien einschüchternd wirken kann und zudem die Wahrheitsfindung behindert, ist die Anwendung bestimmter Vorgehensweisen abzulehnen. Die strategische Anwendung der Sachverhaltsschemata - besonders der Teststrategien - kann bis in den Exzeß betrieben werden, der Betroffene wird systematisch irritiert und handlungsunfähig. Der Richter als Verfahrenswalter kann so während der Materialerzeugungsphase den Detaillierungszwang des Erzählschemas überdehnen oder sogar den Zugzwang der Detaillierung gegen den der Kondensierung ausspielen.

Neben den Schemabetriebs- und Teststrategien sind auch die systematisch irritierenden Interaktionsstrategien (zwangskommunikative Interaktionsstrategien) zu betrachten. Diese werden genauso wirksam wie die bereits oben erwähnten Kommunikationsmuster. Schütze unterteilt die zwangskommunikativen Interaktionsstrategien in verschiedene Grundstrategien, die jede für sich mit einer Strategie der Fluchtverlegung kombinierbar ist. Die Fluchtverlegungsstrategie verhindert das Ausbrechen des Betroffenen aus dem Zwang des Sachverhaltsschemas. Der Fluchtversuch ergibt sich aus einer schweren Irritation durch eine oder mehrere zwangskommunikativer Interaktionsstrategien. Zur Anwendung kommen dabei vor allem absolut-moralische Argumentationsmittel. Im folgenden Abschnitt werden die fünf wichtigsten Grundstrategien aufgeführt:

a) Diskreditierungsstrategie

Mit dieser Strategie macht der Verfahrenswalter dem Betroffenen klar, daß dessen Verhalten und Entscheidungen auf moralischer Ebene zu hinterfragen sind. Dabei ist eine explizite Wertung nicht unbedingt erforderlich.

b) Überdehnungsstrategie

Der Betroffene wird dazu angehalten, den Zugzwang des Erzählens und Argumentierens in Gang zu halten, selbst dann, wenn die eigentlich relevanten Fakten und Fragen längst geklärt sind.

c) Überlagerungsstrategie

Die verschiedenen Zugzwänge des Erzählens und Argumentierens blockieren sich gegenseitig. Damit wird ihre Wirksamkeit aufgehoben, der Betroffene erfährt eine erhebliche Irritation und sieht sich wiedersprüchlichen Aktivitätsimpulsen ausgesetzt.

d) Alternationsstrategie

Diese Strategie funktioniert ähnlich wie die Überlagerungsstrategie. Hinzu kommt nur noch die besondere Ausnutzung eines Interaktions- und Kommunikationsdefizits auf Seiten des Betroffenen. Im Gegensatz zur Überlagerungsstrategie hat die Alternationsstrategie eine besondere Dynamik.

e) Untergrabungsstrategie

Grundsätzlich wird das Sachverhaltsschema hier auf eine Art initialisiert, in der die Wirksamkeit für den Betroffenen von vornherein eklatant bedroht ist. Dabei sind zwei, voneinander unabhängige Grundbedingungen zu unterscheiden:

e.1) Willkürliche Außerkraftsetzung spezifischer Regeln durch den Verfahrenswalter

Der Betroffene gerät in einen Konflikt bei der Wiedergabe der Rede von Akteuren innerhalb des Erzählens von Interaktionsprozessen. Die Redewiedergabe beinhaltet grundsätzlich zwei mögliche Varianten (a-tergo Wiedergabe vs. mitgehende Wiedergabe), der Verfahrenswalter kritisiert jedoch den vom Betroffenen ausgewählten Zitierstil, entweder als zu detailliert und daher unglaubwürdig oder als zu vage.

e.2) Konstitution von widersprüchlichen Voraussetzungen durch den Verfahrenswalter

Widersprüchlichen Sachverhaltsschemata liegen als Bedingung eine Versetzung des Betroffenen durch den Verfahrenswalter in hypothetische Beispielwelten zu Grunde. Dabei besteht eine Unterstellung unwahrscheinlicher Verbindungen sowie eine Verwechslung von Ursache und Wirkung.

IV) Anwendung der strategischen Interaktion auf einen Strafprozeß

Die hier aufgeführten Personen sind die Beteiligten eines Fernsehgerichtsverfahrens zum Thema Brandstiftung. Sämtliche Abkürzungen, Seiten- und Zeilenangaben beziehen sich auf das Transkript.

V Richter (Verfahrenswalter) O Oberstaatsanwalt

A Angeklagter (Erich Radnitzki / Gärtnergehilfe 50 Jahre) R Pflichtverteidiger Zeugen:

Z1 Zeuge 1 (Uwe Zimmermann / Kriminalhauptmeister 39 Jahre / Brandermittlungskommission Hamburg)

Z2 Zeuge 2 (Gerda Köhne / Raumpflegerin 61 Jahre) Z3 Zeuge 3 (Sabine Fischer / Inhaberin Fotoatelier)

Z4 Zeuge 4 (Horst Balla uf / Fahrer bei einer Reederei und Hausmeister der Familie Fischer)

Z5 Zeuge 5 (Rainer Ballauf / Schüler der siebten Klasse einer Gesamtschule 12 Jahre) Z6 Zeuge 6 (Frau Oberhoff / Mieterin im Haus)

Z7 Zeuge 7- am Tag der Verhandlung nicht anwesend aufgrund von Krankheit, dieZeugenaussage wird verlesen(Bramberger / Kürschnermeister)

Sonstige Beteiligte:

S Fernsehsprecher

Zu Zuschauer im Gerichtssaal

Darstellung der Strafsache:

Am Abend des 25. Februar 1977 wurde ein Wohnhaus durch einen Brand schwer beschädigt. Als Ursache stellten die ermittelnden Beamten Brandstiftung durch Entzünden von Brennspiritus fest. Der Herd des Feuers lag im Paterre, im Photoatelier Fischer. Das Atelier brannte völlig aus, ein Pelzlager im ersten Stock und die Einrichtung einer darüberliegenden Wohnung erlitten schwerste Schäden. Der Gesamtschaden belief sich auf eine Summe von zirka einer Million Mark, das Haus mußte abgerissen werden.

Als mutmaßlicher Täter muß sich der 50jährige Gärtnergehilfe Erich Radnitzki vor der großen Strafkammer (Fernsehgericht) verantworten. Durch die Ermittlung der Kriminalpolizei ergaben sich einige Indizien, die für eine Schuld des Angeklagten sprechen:

- Motiv: Erich Radnitzki wurde einige Tage vor dem Brand als Wachmann des betroffenen Hauses schlafend während der Arbeitszeit angetroffen. Die Beschwerde des Atelierinhabers veranlaßte eine fristlose und sofortige Kündigung des Angeklagten durch seinen Arbeitgeber, die Wachgesellschaft ”Orthos”.

- Lebenslauf des Angeklagten: Erich Radnitzki ist bereits wegen drei Vergehen vorbestraft. Er mußte sich schon wegen einer Niederlassung als Heilpraktiker ohne Lizenz, Kreditschwindels und gefährlicher Körperverletzung vor Gericht verantworten. Die Gesamtbilanz beläuft sich auf mehrere Tausend D-Mark Geldstrafe und vier Monate Haft. Damit ist er also für die Justiz kein unbescholtenes Blatt.

- Zugang zum Haus im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Wachmann: Auch nach der Kündigung behielt Erich Radnitzki den Schlüssel zum Gebäude und gab ihn erst einen Tag nach dem Brand ab.

- Emotionale Äußerungen gegenüber Sabine Fischer und Rainer Ballauf (Sohn des Hausmeisters): Bei einem Besuch von Sabine Fischer direkt nach der Kündigung verhält sich der Angeklagte sehr ungeschickt. Eine Zigarette angezündet, läßt er das brennende Streichholz auf den Teppich fallen. Dazu macht er eine als Drohung auslegbare Äußerung (vgl. Transkript, S. 18, Zeile 13 - 17):

Sabine Fischer: ...„also sagen sie mal, wollen sie uns auch noch den Teppich verbrennenjetzt hier!“

Erich Radnitzki: ...„das ist mir doch egal, geschieht ihnen ganz recht, meinetwegen kann ihnen die ganze Bude abbrennen! So wie die hier eingerichtet ist, das spielt doch bei dem wohl keine Rolle.”

Am Tag nach dem Brand kam Rainer Ballauf zum Angeklagten, um den Schlüssel abzuholen. Er erzählte Erich Radnitzki von dem Brand. Zunächst vergewisserte sich der Angeklagte, ob Menschen zu Schaden gekommen wären, danach machte er noch eine emotionale und ungeschickte Bemerkung (vgl. Transkript, S. 21, Zeile 38):

Erich Radnitzki: ...„das geschieht dem Fischer ganz recht, diesem eingebildeten Pinsel!”.

- Fehlendes Alibi: Erich Radnitzki wird am Abend des Brandtages von der Raumpflegerin Gerda Köhne identifiziert, die sich auf dem Heimweg befindet. Der Angeklagte, der zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als Wachmann arbeitet, befindet sich unmittelbar vor dem Brand in der Nähe des Hauses. Auch will Gerda Köhne in einer Manteltasche des Angeklagten eine Flasche erkannt haben, wie sie später für das Auslösen des Feuers verwendet wurde.

Im Anfangsstadium des Verfahrens werden einige biographische Daten des Angeklagten erfaßt. Um einen besseren Überblick zu erhalten, werden die vorhandenen Lebensdaten von Erich Radnitzki im weiteren Verlauf tabellarisch aufgeführt (Lebensdaten können nur ungenau angegeben werden, da Jahreszahlen oft nur indirekt erschlossen werden konnten):

- geboren 1927
- Gymnasium bis zum 18. Lebensjahr
- Einberufung zum Militärdienst und Ausbildung zum Sanitäter
- Zehn Jahre Arbeit als med. Assistent in einem englischen Lazarett in Düsseldorf
- Niederlassung als Heilpraktiker ohne Lizenz
- Erstes Verfahren - Urteil: 3000,- DM Bußgeld
- Kreditaufnahme, wegen Zahlungsunfähigkeit; bezahlt damit sein Bußgeld und eine Abfindung an seine geschiedene Frau
- Danach Auswanderung nach Australien für fünf Jahre mit dem Restbetrag des Kredites (1961)
- 1966 Rückkehr und zweites Verfahren wegen Kreditschwindels; Urteil: 6 Monate mit Bewährung und einer Auflage, monatlich 100,-DM zurück zu zahlen
- 1966-1968 zwei Jahre Arbeit als Kellner;
- 1968 drittes Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung; wurde von seinem Arbeitgeber des Diebstahls verdächtigt, schmiß ihm darauf hin einige Teller an den Kopf; Urteil: 1000,- DM Geldstrafe und vier Monate Haft
- 1969 wird seine zweite Ehe geschieden
- 1969 - 1970 erneute Tätigkeit als Kellner
- 1970 - 1975 Nachtportier in einem Hotel
- 1975 - 1976 Arbeitslosigkeit
- 1976 - 1977 Wachmann bei der Schließgesellschaft ”Orthos”

Der zweite Teil der Verhandlung befaßt sich mit den Aussagen der Zeugen. Der erste Zeuge ist der 39jährige Kriminalhauptmeister Uwe Zimmermann als zuständiger Brandermittler der Kriminalpolizei Hamburg. Allgemein läßt sich sagen, daß die Befragung des Beamten ein reines Experteninterview ist. In einem ”neutralen” Gespräch schildert er ausführlich die Fakten und Hintergründe, die zum Brand führten. Gegenüber der Anklage und dem Verfahrenswalter erläutert er die Indizien und Hinweise, die auf den Angeklagten als Täter deuten. Nach einer Überprüfung des Schlüsselkastens am Tag nach dem Brand stellte der Hauptkommissar fest, daß der fragliche Schlüssel, den der Angeklagte besessen hatte, immer noch fehlte. Der Sohn hätte diesen eigentlich einige Tage früher schon holen sollen, hatte den Auftrag aber nicht eingehalten. Damit fiel der Verdacht sofort auf Erich Radnitzki. Sämtliche anderen Schlüssel waren jedoch vorhanden. Weiter hatte der Angeklagte als Einziger der Befragten für die fragliche Zeit kein Alibi. Zu seinem Aufenthaltsort gab er wiedersprüchliche Aussagen an. Zuerst gab er an, die Wohnung nicht verlassen zu haben. Nachdem ein U- Bahnticket in seiner Manteltasche gefunden wurde, gab er an, ein Kino besucht zu haben. Aber auch das erwies sich als Falschaussage. Zusätzlich belastent erwies sich in den Augen des Beamten die Aussage der Raumpflegerin Gerda Köhne, sie habe am Abend des Brandtages Erich Radnitzki in der Nähe des Hauses gesehen. Dieser habe eine Flasche bei sich getragen, wie sie für das Entzünden des Feuers verwendet wurde. Bei der folgenden Wahlgegenüberstellung identifizierte Gerda Köhne den Angeklagten eindeutig. Nach der Überprüfung der Beteiligten und deren Aussagen blieb nur Erich Radnitzki als Tatverdächtiger übrig.

Als zweite Zeugin wird die 61jährige Raumpflegerin Gerda Köhne befragt, sie ist gleichzeitig Hauptbelastungszeugin, da sie als Einzige den Angeklagten zur fraglichen Zeit in der Nähe gesehen haben will. Zunächst gibt sie eine Beschreibung vom Zustand des von ihr verlassenen Ateliers. Es lagen keine Scherben auf dem Boden. Auch waren sämtliche Fenster verschlossen und brennbare Flüssigkeiten oder Chemikalien standen nicht im Atelier. Sie bestätigt das Abschließen der Tür. Auf dem Weg zur Bushaltestelle glaubt sie den Angeklagten gesehen zu haben, bekleidet mit einem dunklen Wintermantel und einer Flasche in der Manteltasche. An diesem Sichtkontakt entzündet sich noch während der Verhandlung eine Diskussion zwischen Erich Radnitzki und Gerda Köhne. Der Angeklagte bestreitet vehement, zur betreffenden Zeit in der Nähe des Hauses gewesen zu sein. Er fragt sogar die Zeugin, ob diese irgendwelche persönlichen Intentionen hat, ihm absichtlich Schaden zuzufügen (vgl. Transkript, S. 15, Zeile 41 - 58):

ErichRadnitzki: ...„Ich wollte nämlich mal fragen, was die Zeugin bitte, ob sie vielleicht mal geprüft haben, ob die Zeugin irgendwas gegen mich haben könnte, nämlich so was kann’s ja eigentlich nur sein, denn ich möcht sie mal fragen, ob, wie sie dazu kommt zu sagen, Sie haben mich gesehen, wenn ich ganz genau weiß, daßich, daßich an dem Abendüberhaupt nicht in der Knieprodestraße war, Sie können doch nicht einfach sagen, Sie würden’s sogar beschwören!” Gerda Köhne: ...”Ja das tue ich auch wenn das stimmt!”

Erich Radnitzki: ...”Sie können doch nicht `n Menschen ins Unglück stürzen, wenn Sie<->ich bin dochüberhaupt nicht da gewesen!”<sehr erregt> Gerda Köhne: ...”Und das ist doch war! Ich hab Sie doch gesehen!<erregt, weinerlich>Verfahrenswalter: ...”Moment, moment! Herr Radnitzki,...” Erich Radnitzki: ...”man kann doch `n Menschen nicht ins Unglück bringen mit so was, wenneinfach einer behauptet, er hat ihn gesehen, in `n Haus gehen, wo brennt.” Gerda Köhne: ...”Aber ich hab doch gar nicht gesagt, daßSie ins Haus reingegangen sind,ich weißja gar nicht mal, ob Sie im Vorgarten waren!”

Der Verfahrenswalter macht die Zeugin noch einmal darauf aufmerksam, wie wichtig ihre Aussage für die Wahrheitsfindung ist. Um die Tatsache der hohen Relevanz zu unterstreichen, weist der Verfahrenswalter sie auf die bevorstehende Vereidigung hin. Als dritte Zeugin tritt Sabine Fischer, Ehefrau des Atelierbesitzers, in den Zeugenstand. Sie berichtet zunächst, wie es zur Kündigung von Erich Radnitzki kam. Elf Tage vor dem Brand fand das Ehepaar am Morgen den Wachmann schlafend in ihrem Atelier vor. Dazu kam noch der Tatbestand, daß die beiden Haupttüren nicht verschlossen waren. Der Ehemann reagierte darauf äußerst wütend und beschimpfte den Angeklagten in heftiger Art und Weise. Daraufhin verwies Herr Fischer den Wachmann sofort des Hauses und beschwerte sich bei dessen Arbeitgeber. Die Firma „Orthos“ veranlaßte umgehend die fristlose Kündigung ihres Mitarbeiters. Sabine Fischer bestätigt dem Gericht aber genauso eine bis zu diesem Zeitpunkt tadellose Arbeit des Wachmannes. Da das Ehepaar an diesem Morgen etwas in Eile war, wurde jedoch der Schlüssel nicht zurückverlangt. Etwas später kehrte Erich Radnitzki noch einmal zurück um sich zu entschuldigen und zu versuchen, die Situation mittels einem Gespräch mit Herrn Fischer noch zu retten. Dieser befand sich zu diesem Zeitpunkt jedoch auf Geschäftsreise. Er bekam daher keine Möglichkeit seine Situation zu entschärfen, und auch das Gespräch mit Sabine Fischer an der Tür verlief sehr negativ. Durch den emotionalen Zustand des Angeklagten ergab sich eine unglückliche Situation gepaart mit einigen ungünstigen Äußerungen (vgl. Transkript, S. 18, Zeile 9 - 17):

ErichRadnitzki<dabei zündet er sich eine Zigarette an und läßt ein brennendes Streichholz auf den Teppich fallen>: ...„nur weil ich einmal eingenickt bin kurz, wird man also, eh, gleich meine ganze Existenz ruinieren.“

Sabine Fischer: ...„sagen sie mal, wollen sie uns auch noch den Teppich verbrennen jetzt hier!“

Erich Radnitzki: ...„was macht das schon! Das ist mir doch egal, geschieht ihnen ganz recht,meinetwegen kann ihnen die ganze Bude abbrennen! So wie der hier eingerichtet ist, das spielt doch bei dem wohl keine Rolle."

Daraufhin verwies die Zeugin den Angeklagten des Hauses.

Nach der Schilderung des betreffenden Morgens gibt Sabine Fischer noch einige Fakten an bezüglich des Schadens, der Versicherung und des aktuellen Zustandes des Gebäudes. Auch weist sie darauf hin, daß im Atelier keine Chemikalien oder brennbaren Flüssigkeiten aufbewahrt wurden. Am Ende der Vernehmung schaltet sich Erich Radnitzki ein und wirft der Zeugin vor, sie habe ihm keine Möglichkeit zur Entschuldigung gelassen. Der Verfahrenswalter würgt diesen Einwurf jedoch schnell ab (vgl. Transkript, S. 19, Zeile 1 - 9):

Verfahrenswalter: ...„Herr Radnitzki, haben sie noch eine Frage an Frau Fischer? Oder eine Bemerkung zu machen?“

Erich Radnitzki: ...„So liebenswürdig, wie die Frau Fischer jetzt hier auftritt, war sie zu mir nich.<->hat sie gesagt, ich wollte mich nicht entschuldigen, natürlich, darum bin ich dochhingekommen, mich zu entschuldigen, ich war doch ganz bescheiden bin ich hingekommen.“Sabine Fischer: ...„Oh ja, das stimmt aber leider nicht.“

Erich Radnitzki: ...„Oh ja! Oh ja!

Verfahrenswalter: ...„Naja, wollen wir das auch mal nicht vertiefen.“

Der nächste Zeuge ist Horst Ballauf, Fahrer bei einer Reederei und Hausmeister im Haus der Familie Fischer. Er ist im Besitz eines Generalschlüssels für das Gebäude, dessen Aufbewahrungsort in der Wohnung der Ballaufs kennen außer ihm nur seine Frau und sein zwölfjähriger Sohn. Am Freitag, genau eine Woche vor dem Brand, bekam der Hausmeister die Aufgabe, sich um den Schlüssel zu kümmern. Durch ein Telefonat mit der Firma „Orthos“ erhielt er die Adresse des Angeklagten. Am Sonntag traf er jedoch niemanden an, steckte Erich Radnitzki aber einen Zettel in den Briefkasten, er möge doch bitte noch seinen Schlüssel abgeben. Mittwoch schickte er seinen Sohn Rainer zu Erich Radnitzki um den Schlüssel abzuholen. Dieser verschwitzte den Termin, gab aber noch am Brandtag an, den Schlüssel geholt zu haben.

An dieser Stelle wird auch Erich Radnitzki noch einmal zu dem Sachverhalt befragt und bestätigt, den Zettel im Briefkasten vorgefunden zu haben. Er gibt allerdings an, dem Schlüssel nicht allzu viel Gewicht beigemessen zu haben, da ihm sein neuer Job als Gärtnergehilfe wichtiger erschien.

Der zwölfjährige Rainer Ballauf gibt zu, den Schlüssel erst am Samstag geholt zu haben, da er Donnerstag für eine Klausur lernen mußte und die Aufgabe am Freitag einfach vergessen hatte. Am Brandtag befand sich der Junge bei einem Freund in der Nachbarschaft. Um keinen Ärger zu bekommen, habe er jedoch am Freitag seinem Vater erzählt, er habe den Schlüssel bereits abgeholt. Am Samstag machte er sich darauf hin sehr früh auf den Weg, die Sache noch zu erledigen. Erich Radnitzki traf er in seiner Wohnung an und erzählte ihm vom Brand des Vortages. Der ehemalige Wachmann erkundigte sich zunächst, ob Menschen zu Schaden gekommen seien, machte danach aber noch eine unglückliche Äußerung (vgl. Transkript, S. 21, Zeile 38):

ErichRadnitzki: ...„das geschieht dem Fischer ganz recht, diesem eingebildeten Pinsel!“. Auch auf die genaue Nachfrage des Verfahrenswalters bestätigt Rainer noch einmal die Äußerung des Angeklagten (vgl. Transkript, S. 21, Zeile 42 - 47):

Verfahrenswalter: ...„Ach so, und meinst Du wirklich, das er so was gesagt hat,„geschiehtihm ganz recht, diesem eingebildeten Pinsel“?“

Rainer Ballauf: ...„Ja, hat er ganz sicher gesagt. Weißich noch.“Verfahrenswalter: ...„Weißt Du das genau?“

Rainer Ballauf: ...„Ja.“.

Nach der Ergebnissicherung ruft der Verfahrenswalter Frau Oberhoff in den Zeugenstand. Sie bewohnte zusammen mit ihrem Sohn die Dachwohnung des Hauses, befand sich aber zur Zeit des Brandes in Rotterdam um ihren Ehemann zu besuchen. Der Sohn hielt sich solange bei ihrer Mutter auf. Sie macht in der Verhandlung Angaben zur Schadenshöhe bezüglich der Einrichtung und gibt auch an, daß ihre Versicherung den Schaden bereits gedeckt hat. Zum Verdächtigen oder der Tat selber kann sie jedoch keine Aussage machen. Die Aussage des Kürschnermeisters Bramberger wird vor Gericht verlesen, da er selber wegen Krankheit verhindert ist. Auch er kann nur Informationen zum entstandenen Schaden geben. Zuhause erhielt Bramberger am Abend die Benachrichtigung über den Brand durch einen Anruf des Hausmeisters. Die Räume seines Geschäftes sowie der Lagerraum für die Pelze wurden durch das Feuer nahezu komplett zerstört. Insgesamt beläuft sich die

Schadenssumme auf ungefähr 450.000 DM,-.

Nach dieser Verlesung bittet der Vorsitzende den Angeklagten nach vorne. Er macht Erich Radnitzki auf Details der Rechtsprechung in Bezug auf Brandstiftung aufmerksam (vgl. Transkript, S. 23, Zeile 4 - 13):

Verfahrenswalter: ...„Herr Radnitzki, ich möchte sie nochmal etwas fragen. Treten sie bitte mal vor.“

<Erich Radnitzki tritt nach vorne>

<Der Vorsitzende weist den Angeklagten darauf hin, daß für menschengefährdende

Brandstiftung das Gesetz eine Freiheitsstrafe von 1 bis 15 Jahren vorsieht. Er versucht ihm klarzumachen, daß die Schuld eines Täters geringer wird, wenn er sich vor der Brandlegung überzeugt, daß kein Mensch im Hause ist.>

Erich Radnitzki: ...„Also ich kann, ich kann doch nicht mehr tun, als sagen, ich war nicht inder Knieprodstraße, ich habe den Brand auch nicht gelegt, und ich bin dazu nicht fähig.“. Der Oberstaatsanwalt bittet nun noch einmal Gerda Köhne in den Zeugenstand. Er fragt sie erneut eindringlich, ob sie sich absolut sicher ist, den Angeklagten am Brandtag in der Straße gesehen zu haben. Er weißt sie auch darauf hin, daß es für Erich Radnitzki um eine ganze Menge geht. Die Zeugin hält jedoch an ihrer Aussage fest und ist bereit, sich auf diese vereidigen zu lassen. Einen Kommentar seitens Erich Radnitzki weist der Oberstaatsanwalt schroff ab (vgl. Transkript, S. 23, Zeile 16 - 39):

Oberstaatsanwalt: ...„Herr Vorsitzender, ich würde gern Frau Köhne jetzt noch mal ganz kurz hören.“

Verfahrenswalter: ...„Frau Köhne, kommen sie doch noch mal bitte vor.“

Oberstaatsanwalt: ...„Frau Köhne, wissen sie ganz genau, daßes er war, den Sie beim Verlassen des Hauses an dem Abend, wo das Haus leerbrannte, wissen Sie das wirklich ganzgenau!?“<eindringlich>

Gerda Köhne: ...„Ich weißes ganz genau.“

Oberstaatsanwalt: ...„Und wenn Sie nun hören jetzt, daßdas für ihn möglicherweise um eine ganze Menge geht, durch ihre oder infolge ihrer Aussage, dann bleiben Sie dennoch dabei?“Gerda Köhne: ...„Ich weißes, ja.“

Gerda Köhne: ...„Ja, es tut mir richtig leid, aber ich kann das ja nicht helfen.“Verfahrenswalter: ...„Ich bitte die Zeugin.“

Erich Radnitzki: ...„Ich brauch kein Mitleid, ich brauch kein Mitleid, Herr Staatsanwalt, ich brauche...“

Oberstaatsanwalt: ...„Ich sprach gar nicht mit Ihnen, sondern mit der Zeugin!“<erregt>

Verfahrenswalter: ...„Herr Radnitzki, ich bitte um Mäßigung.“

Oberstaatsanwalt: ...„Ich würde Herr Vorsitzender bitten, die Zeugin auf ihre Aussage hin zu beeidigen.“

Verfahrenswalter: ...„Ich habe auch nur um Mäßigung gebeten und habe keine Kritik geübt, an dem Ausbruch.“

Oberstaatsanwalt: ...„Dankeschön Frau Köhne, ich habe keine weiteren Fragen.“) Mit der Vereidigung der Hauptbelastungszeugin ist die Beweisaufnahme beendet. Im Anschluß erfolgen die Plädoyers der Anklage und der Verteidigung. Der Oberstaatsanwalt sieht es als erwiesen an, das Erich Radnitzki den Brand gelegt hat. Das Motiv ist eindeutig Rache, was besonders an den Äußerungen gegenüber Sabine Fischer und dem Rainer Ballauf ersichtlich ist. Das Alibi ist nicht vorhanden, dazu kommt noch eine Falschaussage über den Besuch eines Pornokinos zur Tatzeit. Das dieser Besuch aus reinen Schamgefühlen nicht erwähnt wurde, nimmt die Anklage dem ehemaligen Wachmann nicht ab. Auch die positive Identifizierung durch Gerda Köhne bei der Wahlgegenüberstellung spricht eindeutig gegen Erich Radnitzki. Zugang hat er zu dem Objekt gehabt, da der Schlüssel bis nach dem Brand sich noch in seinem Besitz befand. Als weiteres Indiz ist die Flasche zu werten, die Radnitzki sowohl am Brandtag bei sich getragen hat, die aber auch in seiner Wohnung gefunden wurde. Die Anklage fordert eine Freiheitsstrafe wegen vorsätzlicher Brandstiftung von vier Jahren. Der Verteidiger weißt dagegen auf einige Unstimmigkeiten der Indizienlage hin und hegt ernste Zweifel an der Schuld seines Mandanten. Dieser ist zwar vom Hausbesitzer übel abgekanzelt worden, dennoch hat das Haus erst elf Tage später gebrannt. In Zusammenhang mit dem Persönlichkeitsbild des Angeklagten paßt diese Zeitdifferenz nicht ins Bild. Erich Radnitzki ist als ein sehr impulsiver Mensch zu bezeichnen, was am Vorfall vor ein paar Jahren in der Pizzeria erkennbar ist. Wenn das Motiv Rache gewesen wäre, hätte er nicht elf Tage gewartet. Auch ist hier das untypische Verhalten zu sehen in Bezug auf sich selbst belastende Äußerungen oder die Tatsache, den Schlüssel solange zu behalten. Damit im Zusammenhang ist auch die Äußerung des Ermittlers zu sehen. Sogar dieser hatte ihn als einen völlig untypischen Brandstifter klassifiziert. Daneben bastand auch für andere Personen die Möglichkeit, sich mit einem Schlüssel Zugang zum Haus zu verschaffen. Damit verbunden ist auch der Hinweis auf die Möglichkeit einer anderen Motivation zur Brandstiftung. Außerdem läßt sich insgesamt sagen, daß der Mandant sich sehr sicher fühlte, was hier auf ein ruhiges Gewissen zurückzuführen ist. Daher fallen auch seine vielleicht widersprüchlichen oder emotionalen Äußerungen nicht allzu sehr ins Gewicht. Er handelte eigentlich nach dem Grundsatz „Ich bin unschuldig und das wird sich schon irgendwie rausstellen“. Deshalb stellt der Verteidiger den Antrag auf Freispruch.

Im Anschluß nutzt der Angeklagte die Möglichkeit, sich ein letztes Mal vor der Urteilsverkündung zu äußern. Und auch hier bekräftigt er ein weiteres Mal in sehr emotionaler Art und Weise seine Unschuld (vgl. Transkript, S. 26, Zeile 1 - 10):

Verfahrenswalter:„Dankeschön Herr Rechtsanwalt. Herr Radnitzki, Sie haben als Angeklagter das letzte Wort, was möchten Sie uns noch sagen?“

Erich Radnitzki:„Ich kann nur sagen, daßmir das zur Last gelegte, das ich das nicht gemacht hab, und wenn der Herr Staatsanwalt sagt Rache, da, ich bin doch schon so oft hab ich so Sachen erlebt, wo ich wirklich mehr Grund hätte gehabt, daßich was anstelle, und das hab ich aber nie gemacht. Da gibt’s so Verkettungen wissen sie doch sicher auch, wer kennt es denn nicht, ich bin unschuldig bitte, bitte ich um Recht bin unschuldig, dann bitte Verzeihung<Schluchzen>).

In der Beratungspause befragt ein anwesender Fernsehsprecher die Zuschauer nach ihrer Meinung zu dem Fall. Die Tendenz zeigt auf, daß ein großer Teil der Zuschauer an die Unschuld des Angeklagten glaubt. Die Meinungen stimmen im weitesten Sinn mit dem Plädoyer der Verteidigung überein. Motiv und Indizien sind hier bei weitem nicht ausreichend, um eine Verurteilung zu rechtfertigen.

Die große Strafkammer entscheidet sich in der Urteilsverkündung, den Antrag der Anklage anzunehmen. Das Urteil für Erich Radnitzki lautet vier Jahre Freiheitsentzug wegen schwerer Brandstiftung. In der Begründung des Urteils stützt sich das Gericht in der Hauptsache auf die Argumentation der Anklage. Rache als Motiv sowie die tragenden Indizien (Schlüssel, Falschaussage, unpassende Bemerkungen, Identifizierung durch Gerda Köhne) werden als genügend angesehen, um ein Urteil in dieser Höhe zu rechtfertigen.

Kaum hat der Richter die Sitzung geschlossen, kommt der große Knall der Verhandlung. Rainer Ballauf, der zwölfjährige Sohn des Hausmeisters, meldet sich freiwillig zu Wort. Er bekennt sich schuldig, zusammen mit einem Freund die Tat begangen zu haben. Die Anwesenden wirken alle geschockt, der Vorsitzende kann aber für diesen Tag an dem Urteil nichts mehr ändern.

V) Besteht ein Zusammenhang zwischen der Struktur des Verfahrens und der Urteilsentscheidung?

Um diese Frage zu beantworten, muß geklärt werden, ob die Interaktionspostulate durch die Ordnungsstruktur des Prozesses (z.B. reglementiertes turn-taking oder sachverhaltsschematische Interaktionsstrategien), durch die asymetrische Kooperativität oder durch Eingriffe in das Handlungsschema des Angeklagten verletzt werden, sich somit ein Legitimationsdefizit aufbaut.

Die Verhandlung kann in mehrere Abschnitte untergliedert werden:

V.1.) Die Biographie des Angeklagten und seine Befragung zu den Ereignissen

Diese Befragung erfordert eine Rekonstruktion seitens des Betroffenen auf kommunikativ- konsensueller Ebene. Dadurch ergeben sich strukturelle Zwänge, die sich in der unfreiwilligen Aufrechterhaltung von Sachverhaltsschemata konstituieren. Der Handlungsfluß wird somit gestört oder zumindest irritiert. Durch folgenden Gesprächsabschnitt (vgl. Transkript, S. 3, Zeile 54 - S. 4, Zeile 13) wird die Irritation sichtbar:

Verfahrenswalter: ...„Und wie haben Sie nun darauf wieder reagiert?“

Erich Radnitzki: ...„Hab ich reagiert? Ja ich weißnicht, war nichts weiter, ich hab‘fertig war ich!“

Verfahrenswalter: ...„Na, Sie sollen sich doch dann da so, sagt Frau Fischer, halte ich ihnen vor, `ne Zigarette angezündet haben, und...“

Erich Radnitzki: ...„Ja, das hab ich wohl gemacht, ja“Verfahrenswalter: ...„Ja,“

Erich Radnitzki: ...„Ich war un, ich war auch aufgeregt.“Verfahrenswalter: ...„Sind Sie starker Raucher?“ Erich Radnitzki: ...„Sehr stark, ja.“

Verfahrenswalter: ...„Hm. Ist nun was passiert mit der Zigarette, oder mit den Streichhölzern?“

Erich Radnitzki: ...„ach so, das’s wenn sie meint.“

Verfahrenswalter: ...„Ja, wär runtergefallen, nich, was hat sie denn gesagt?“

In diesem Abschnitt wird deutlich, daß Erich Radnitzki sich der Sache mit dem Streichholz gar nicht bewußt ist. Die Anklage sieht das Geschehen an der Haustür der Familie Fischer in Zusammenhang mit dem Brand. Erich Radnitzki selber scheint den „Anschlag“ auf den Teppich erst jetzt zu realisieren. Das zeigt sich an Äußerungen wie „ach so, das’s wenn sie meint“ oder „Ja, das hab ich wohl gemacht“. Das Handlungsschema der Wiedergabe an dieser Stelle führt zu Störungen bzw. Irritationen innerhalb seiner Schilderungen. Hier könnte sich also bereits eine Verletzung der Interaktionspostulate ergeben haben. Die Ablaufkonstitution des Gesprächs wird gestört und ist ohnehin durch die asymetrische Kooperation der Beteiligten extrem verschoben.

Die Hauptindizien in dem Prozeß sind unter anderem der Schlüssel und die Falschaussage

bezüglich des Kinos. Der Schlüssel zieht sich als roter Faden durch die gesamte Verhandlung. Verfahrenswalter, Anklage und auch die Verteidigung sehen eine sehr hohe Relevanz in der Frage nach dem Schlüssel, der Verfahrensbetroffene dagegen mißt dem Schlüssel keine Bedeutung zu (vgl. Transkript, S. 4, Zeile 35 - 40):

Rechtsanwalt: ...„Sie haben sich doch nun inzwischen abgefunden mit der Entlassung!? Sie mußten es ja notgedrungen. Sie hatten neue Arbeit bekommen. Weshalb haben Sie jetzt nicht den Schlüssel zurückgebracht!?“

Erich Radnitzki: ...„Ach Gott, das wollt ich, ich weißnicht, das war mir auch nicht so wichtig, ich weißnicht ich hab den nicht zurückgebracht, ich wollt den immer, hab mir vorgenommen, daßich ihn zurückbringe, und dann.“

Das Thema des Schlüssels wird auch weiterhin in Gang gehalten. Erich Radnitzki kann sich der Befragung durch den Rechtsanwalt nicht entziehen, da er sich in einem institutionellen Verfahren befindet. Im Gegensatz zur Anklage verfolgt dieser aber nicht eine für den Angeklagten unvorteilhafte Strategie. Er verhält sich weitestgehend neutral und holt nach Möglichkeit entlastendes Material aus der Aussage. Der Verfahrenswalter, eigentlich völlig neutral gegenüber Anklage und Verteidigung, läßt hier aber eine latente Voreingenommenheit erkennen. Zu klären wäre hier, ob es sich hier nicht schon um eine „Hinterbühne“ im Sinne einer „inoffiziellen“ zweiten Handlung handelt (vgl. Transkript, S. 4, Zeile 51 - 57):

Rechtsanwalt: ...„Manteltasche, von ihrem Wintermantel? Was haben Sie für’n Wintermantel? Herr Radnitzki, `n dunklen?“

Erich Radnitzki: ...„Ja.“

Verfahrenswalter: ...„Der dunkle, der da hängt, ja, Sie sehen ja, was nun draus geworden ist,aus der Geschichte, das sie den Schlüssel nicht abgegeben haben, nich?“ Erich Radnitzki: ...„hm, das sehe ich, ja.“

Spätestens hier erkennt man in der Prozeßstruktur die Unmöglichkeit seitens Erich Radnitzki, sich dem Verfahren zu entziehen. Er steckt komplett in strukturellen Zwängen fest. Doch nicht nur der Schlüssel ist von entscheidender Bedeutung, auch die Falschaussage ist für die Anklage ein wichtiger Ansatzpunkt. Auch hier zeigt sich ein zwangskommunikativer Moment, der es dem Verfahrensbetroffenen nicht erlaubt, sich aus dem Verfahren zu entziehen. Dies gilt auch für Fakten, die seine Persönlichkeit betreffen und ihm unangenehm sein können (vgl. Transkript, S. 6, Zeile 3 - 17):

Erich Radnitzki: ...„Ja, ich hab ja auch vorhin gesagt, daßich gelogen hab, hab ich ja gesagt, mußja nicht immer alles peinlich werden einem, nich, kann man doch `n bißchen“ Verfahrenswalter: ...„Ich kann Ihnen Peinlichkeiten nicht ersparen, nich.“

Erich Radnitzki: ...„`n bißchen schon, weil ich war’s ja nich, und wenn ich’s nich war, ich hab ja schließlich auch.“

Verfahrenswalter: ...„Das soll sich ja gerade herausstellen ob Sie’s waren oder nicht.“

Erich Radnitzki: ...„Es gibt ja Leute, denen das nichts ausmacht, aber mir macht das was aus, wenn ich bitte da um etwas mehr Verständnis bitten darf.“

Oberstaatsanwalt: ...„Anderen Leuten macht das was aus, wenn ihr Haus angesteckt wird.“ Erich Radnitzki: ...„Ich hab das Haus nicht angesteckt!“<aggressiv> Oberstaatsanwalt: ...„Und wir müssen aufklären, ob Sie in Betracht kommen, wie jetzt zunächst vermutet wird, nich, deshalb bemühen wir uns darum, da brauchen Sie sich gar nicht so aufzuregen.“

Rechtsanwalt: ...„Das müssen wir ja aufklären, ja.“

Der Angeklagte reagiert zunehmend emotional, da er sich in die Ecke gedrängt fühlt. Der Staatsanwalt trägt mit seiner Reaktion auch noch dazu bei, daß Erich Radnitzki immer stärker in die Rolle des Interaktionsunterlegenden gerät. Zusätzlich verstärkt wird diese Tendenz auch gleich im Anschluß, als es um die Identifizierung durch die Hauptbelastungszeugin Gerda Köhne geht. Diese will ihn am Abend des Brandtages in der Straße gesehen haben, was zusammen mit seiner Falschaussage seine Glaubwürdigkeit weiter untergräbt. Trotz der Aussage bestreitet Erich Radnitzki aber weiter, in der Knieprodestraße gewesen zu sein. Der Oberstaatsanwalt wirft ihm daraufhin vor, die Zeugin der Falschaussage zu bezichtigen (vgl. Transkript, S. 6, Zeile 33 - 43):

Verfahrenswalter: ...„Welchen Grund sollte sie haben, Sie zu belasten!?“

Erich Radnitzki: ...„Das weißich nicht, habe ich keine Ahnung, ich habe mit der Frau janichts weiter zu tun, die hab ich vier, fünfmal gesehen und einmal hat sie mir `n Kaffeegemacht morgens, als mir schlecht war.“

Oberstaatsanwalt: ...„Hm, ist doch ungeheuerlich, wenn Sie die Frau bezichtigen, daßsie das absichtlich macht irgendwie.“

Erich Radnitzki: ...„Hab ich nicht gesagt, ich hab gesagt.“

Oberstaatsanwalt: ...„Sie haben eben gesagt„oder sie macht es extra“, das müssen Sie dochnicht tun!“<emotional>

Erich Radnitzki: ...„Ich habe gesagt, daßweißich nicht.“

In diesem Abschnitt verfolgt der Oberstaatsanwalt eine deutliche Diskreditierungsstrategie. Er

beschuldigt den Angeklagten einer moralisch fragwürdigen Tat, indem dieser angeblich die Zeugin einer Falschaussage beschuldigt. Die Emotionalität und auch Ausdrücke wie „Ist doch ungeheuerlich“ zeigen hier eine sogar explizit vorhandene Wertung durch die Anklage. Werden Formen der Teststrategien in schikanöser Weise angewendet, ist dies als Mißbrauch abzulehnen, da die Wahrheitsfindung behindert wird. Im oben beschriebenen Ausschnitt könnte der emotionale Ausbruch zwar nicht als Schikane, aber dennoch als eine Form des Mißbrauchs gewertet werden. Immerhin handelt es sich beim Oberstaatsanwalt um einen professionellen Vertreter der Anklage. Dieser verstärkt nicht zuletzt hier in massiver Form die Irritation des Angeklagten.

V.2.) Die Zeugenvernehmung

Das Experteninterview mit dem ermittelnden Hauptkommissar ist sehr umfangreich, beinhaltet jedoch reine Fakten zur Brandentstehung und Beweisaufnahme. Die Aussage kann fast nicht mehr als asymetrische Kommunikation angesehen werden, da der Experte selber in den Fall tief eingebunden ist. Er ist eigentlich nur formal als Zeuge anzusehen. Gerda Köhne ist als Hauptbelastungszeugin von besonders hohem Interesse für die Verhandlung. Sie ist die Einzige, die Erich Radnitzki wirklich be- oder entlasten kann. Da der Angeklagte kein Alibi hat, bekommt das Ergebnis der Wahlgegenüberstellung ein hohes Gewicht. Ihre Aussage weist aber im Verlauf der Vernehmung einen Moment der Unschärfe auf. Auf die Frage nach dem Mantel wirkt sie etwas unsicher (vgl. Transkript, S. 14, Zeile 47 - 52):

Verfahrenswalter: ...„Wie sah er denn aus?“

Gerda Köhne: ...„Ja er ging, nu ging er ja nich in Uniform, nich, er hatte so’n grauen Mantel an, und aber keinen Hut auf. Und, eh.“

Verfahrenswalter: ...„Da hängt ein grauer Mantel!“

Gerda Köhne: ...„Jajajaja, das is er wohl, so sah der jedenfalls aus, in der Farbe.“Verfahrenswalter: ...„Hm“

Die Äußerung „Jajajaja, das is er wohl, so sah er jedenfalls aus, in der Farbe“ läßt durchaus einige Zweifel zu, ob Gerda Köhne Erich Radnitzki wirklich an dem Abend gesehen haben mag. Die Brisanz und Relevanz der Aussage sowie nicht zuletzt der Vereidigung von der Zeugin wird deutlich, führt man sich folgende Äußerung vor Augen (vgl. Transkript, S. 16, Zeile 25 - 26):

Oberstaatsanwalt: ...„Wenn sie sagt, sie kann `n Eid leisten, dann wird das aber schon bitter, das mußich wohl sagen.“

Auch in den anderen Zeugenvernehmungen dominiert der Schlüssel als entscheidendes Indiz.

Insbesondere Sabine Fischer, Horst und Rainer Ballauf, aber auch Frau Oberhoff und Herr Bramberger werden über den Schlüssel befragt. Mittels eines retrospektiven Rückgriffs sind alle Beteiligten mehr oder weniger dazu gezwungen, die Geschehnisse um den Brandtag herum zu rekonstruieren. Allerdings greift bei ihnen die Irritation lang nicht so weit wie bei dem Angeklagten. Gleichzeitig könnte man den Schlüssel auch als Mittel einer Überdehnungsstrategie betrachten. So sind die eigentlichen Fakten bekannt, - der Aufenthaltsort des Schlüssels ist ja eigentlich relativ schnell geklärt - dennoch müssen sich die Beteiligten, wenn auch aus verschiedenen Blickwinkeln, mit der Sache befassen.

V.3.) Das Plädoyer der Anklage und der Verteidigung

In diesem Bereich greifen der Oberstaatsanwalt und auch die Verteidigung noch einmal sämtliche Anhaltspunkte, Fakten und Indizien auf und bewerten sie hinsichtlich ihrer Aufgabe, dem Angeklagten die Schuld nachzuweisen oder ihn zu entlasten. Der Verfahrenswalter verhält sich dabei weiter neutral und wägt im Anschluß die Informationen und Standpunkte ab.

Auch wenn es sich im letzten Punkt um eine reine Rekapitulation des entsprechenden Verfahrens handelt, wird ein Punkt der Strafverfahren deutlich. In Bezug auf die bereits im Abschnitt „Strategische Interaktion“ beschriebenen Teststrategien des Argumentations- und Erzählschemata ergibt sich eine erhebliche Irritation des Angeklagten. Erich Radnitzki wird mehr oder weniger ein „Opfer“ der Struktur in diesem institutionellen Verfahren. Der Verfahrensunterlegene muß sich einem nicht unerheblichen Zwang beugen, ein Ungleichgewicht ist sowohl bei der Materialerzeugungsphase als auch in der Kommunikation zu beobachten. Im Strafprozeß hat der Angeklagte einen nur sehr geringen Intervall, in dem er sich bewegen kann. Zwar ist auch der Verfahrenswalter durch Reglementierungen gebunden, hat aber die entscheidenden Befugnisse und kann in gewissen Grenzen seinen Status einbringen. Damit wird deutlich, das eine Flucht aus den strukturellen Zwängen für den Verfahrensbetroffenen nicht möglich ist. Im konkreten Fall heißt das, Erich Radnitzki kann sich der Verhandlung nicht entziehen und hat nur sehr geringe Mittel, diese unmittelbar zu beeinflussen. Dieses Gefälle zwischen Interaktionsdominantem und Interaktionsunterlegenem ist formal anerkannt, dennoch könnte man die Frage nach einem Legitimationsdefizit stellen.

VI) Schlußbemerkung

Was bei der Betrachtung des Verfahrens deutlich wird, ist die Tatsache, daß die Prozeßstrukturen und Strategien einen unwahrscheinlich starken Einfluß auf die Interaktion des Angeklagten insgesamt ausüben. Durch das Phänomen der asymetrischen Kooperation wird dieser Sachverhalt sehr wirksam. Im Hierarchiegefüge steht der Verfahrensbetroffene relativ weit unten, er hat nur einen sehr geringen Spielraum, in dem er agieren muß. Der Angeklagte steht unter Streß und sieht sich den Interaktionsbedingungen zum größten Teil hilflos ausgeliefert. Sich entsprechend zur Wehr zu setzen, ist nicht möglich, da dem Interaktionsunterlegenen kaum „Gegenstrategien“ bezüglich der Gesprächsstruktur zur Verfügung stehen. Im vorliegenden Fall geht die Anklage vornehmlich und konsequent auf die Materialerzeugungsphase ein. Sowohl Angeklagter als auch Zeugen müssen sich einer umfangreichen Rekonstruktion auf kommunikativer Ebene stellen. Dennoch muß der Verfahrensbetroffene sich zusätzlich in die Symbolwelten der anderen Beteiligten hineinversetzen, um einen Überblick über seine Situation zu bekommen. In Bezug auf den bearbeiteten Strafprozeß muß die Frage gestellt werden, ob in den Ermittlungen nicht zu einseitig gearbeitet wurde. Die Beweislage erweist sich auf den ersten Blick als sehr logisch, hat aber einige nicht zu unterschätzende Lücken. Der Experte erläutert ausführlich die Ursachen für den Brand und die gefundenen Indizien, gibt aber auch ausdrücklich zu verstehen, daß das Verhalten des Angeklagten keinesfalls dem typischen Brandtäter entspricht. Die Identifizierung kann nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden, obwohl Gerda Köhne auf ihrer Aussage besteht. Der Schlüssel reicht als Indiz nicht aus, da alle Bewohner grundsätzlich Zugriff auf ihn haben. Auch das Motiv der Rache ist nicht nachvollziehbar. Damit zeigt sich die Objektivität einer Wahrheitssuche als großes Problem, betrachtet man nicht zuletzt den letzten Teil der Verhandlung, in der sich der Sohn des Hausmeisters als Täter „outet“, und damit den Angeklagten entlastet. Obwohl es im Gesetz so verankert sein mag, so könnte der folgende Abschnitt doch sehr befremdlich wirken (vgl. Transkript, S. 29, Zeile 12 - 15):

Verfahrenswalter: ...„Die Wahrheitsfindung im Strafprozeßerfordert nur, daßdas Gericht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von der Täterschaft eines Angeklagtenüberzeugt sein muß.“

VII) Literaturnachweis

„Lexikon zur Soziologie“ - Hg. v. Fuchs-Heinritz / Lautmann / Rammstedt / Wienold; 3. Auflage, Westdeutscher Verlag, 1995

„Soziolinguistik - Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und

Gesellschaft (Offprint)“ - Hg. v. Ulrich Ammon / Norbert Dittmar / Klaus J. Mattheier Zweiter Halbband, Walter de Gruyter, 1988

„Konversationsanalyse“ - Werner Kallmeyer / Fritz Schütze;

In: Wunderlich, D. (Hg.), 1976: „Studium Linguistik“, Heft 1, S. 1 - 28

„Strategische Interaktion im Verwaltungsgericht. Eine soziolinguistische Analyse zum Kommunikationsverlauf im Verfahren zur Anerkennung als Wehrdienstverweigerer.“ In: Hassemer, W. (Hg.), 1978: Schriften der Vereinigung für Rechtssoziologie, Bd. 2: Interaktion vor Gericht, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, S. 19 - 100

Final del extracto de 24 páginas

Detalles

Título
Interaktionsanalyse im Strafverfahren
Universidad
Otto-von-Guericke-University Magdeburg
Curso
Interaktionsanalyse
Autor
Año
2001
Páginas
24
No. de catálogo
V105238
ISBN (Ebook)
9783640035359
Tamaño de fichero
388 KB
Idioma
Alemán
Notas
Laut Professor "sehr gut", allerdings werden offiziell keine Benotungen vergeben. Hmm, lest euch das einfach durch und entscheidet selber über die Qualität. Die Inhaltsangabe befindet sich allerdings aus technischen Gründen in einer seperaten Datei. Wer Fragen hat, kann gerne mailen...,o)
Palabras clave
Interaktionsanalyse, Strafverfahren, Interaktionsanalyse
Citar trabajo
Thomas Kerckel (Autor), 2001, Interaktionsanalyse im Strafverfahren, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105238

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Título: Interaktionsanalyse im Strafverfahren



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