Herausforderungen an die Jugendberufshilfe in der Postmoderne

Übergänge gestalten – für Jugendliche mit besonderem Förderbedarf in Arbeit


Diplomarbeit, 2006

90 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Begriffsbestimmung
2.1 Der Benachteiligtenbegriff
2.2 Der Begriff der Behinderung
2.3 Benachteiligte Jugendliche oder Jugendliche mit besonderem Förderbedarf?
2.4 Zielgruppe

3 Schule als berufsvorbereitende Instanz?
3.1 Das Konzept der Ganztagsschule
3.2 Zum Verhältnis von Schul- und Beschäftigungssystem

4 Entwicklungsaufgaben in der Jugend

5 Postmoderne und der Begriff der Arbeit
5.1 Postmoderne – Versuch einer Konkretisierung
5.1.1 Zeichen der Zeit
5.1.2 Individualisierung und Pluralisierung
5.1.3 Auswirkungen von Individualisierung und Pluralisierung für Jugendliche mit besonderem Förderbedarf
5.2 Der Begriff der Arbeit
5.2.1 Bedeutung von Erwerbsarbeit
5.2.2 Erwerbsarbeit im Wandel und die Folgen für Jugendliche mit besonderem Förderbedarf
5.3 Erwerbsarbeit aus der Sicht von Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf
5.3.1 Arbeitsorientierung und Arbeitserfahrung
5.4 Belastende Erwerbssituationen und mögliche Bewältigungsstrategien
5.5 Jugendarbeitslosigkeit
5.5.1 Folgen von Erwerbslosigkeit für Jugendliche mit besonderem Förderbedarf
5.5.2 Kreislauf der Jugendarbeitslosigkeit

6 Das System der Jugendberufshilfe
6.1 Trägerstrukturen innerhalb der Jugendberufshilfe
6.2 Jugendberufshilfe – Versuch einer Konkretisierung
6.3 Förderstrukturen der Bundesagentur für Arbeit
6.4 Orientierung: Berufsausbildungsvorbereitende Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit seit
6.5 Weiterentwicklung zum neuen Fachkonzept für berufsvorbereitende Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit
6.5.1 Berufsausbildungsvorbereitung in der Neuen Förderstruktur
6.5.2 Wesentliche Änderungen im neuen Fachkonzept

7 Konzept der Lebensweltorientierung innerhalb der Jugendberufshilfe
7.1 Dimensionen von lebensweltorientierter Arbeit
7.2 Handlungsmaximen eines lebensweltorientierten Konzepts in der Jugendberufshilfe
7.3 Arbeitsorientierung versus Lebensweltorientierung

8 Exkurs: Netzwerkarbeit

9 Schlussfolgerungen
9.1 Ohne Ausbildung und Vollzeitbeschäftigung. Lebensbewältigung als Inhalt der Jugendberufshilfe
9.2 Jugendliche mit besonderem Förderbedarf in Arbeit. Möglichkeiten alternativer Beschäftigungsformen
9.3 Duale Ausbildung für Jugendliche mit besonderem Förderbedarf

10 Schlusswort

11 Literaturverzeichnis

II. Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Funktionen von Schule

Abbildung 2: Verteilung der Schulformen realisierter und vorgesehener Förderung im Zeitraum 2003 –

Abbildung 3: Verhältnis von Schule und Beschäftigungssystem

Abbildung 4: Entwicklungsaufgaben in der Jugend

Abbildung 5: Bedeutung von Erwerbsarbeit

Abbildung 6: Schulische Vorbildung der Auszubildenden mit neu abgeschlossenem Ausbildungsvertrag nach Ausbildungsbereichen der Jahre 2002 und 2003 in Prozent

Abbildung 7: Arbeitseinstellungen junger Menschen

Abbildung 8: Arbeit aus Sicht von Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf

Abbildung 9: Anteil der Arbeitslosen unter 25 Jahren nach bisher zurückgelegter Dauer der Arbeitslosigkeit im Kreis Aachen. Stand Februar

Abbildung 10: Teufelskreis der Jugendarbeitslosigkeit

Abbildung 11: Berufsausbildungsvorbereitung in der Neuen Förderstruktur

Abbildung 12: Horizontale und vertikale Lernortkooperationen

Abbildung 13: Problemlagen beim Aufbau von Kooperationen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[1]

1 Einleitung

Sie ist lang, die Schlange vor den Toren des Arbeitsmarktes und hinein kommen nur diejenigen, die am Anfang stehen. Doch was entscheidet über den Rang in der Schlange und haben diejenigen im letzten Drittel noch eine Chance auf Einlass?

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit diesen Fragen für die Gruppe der Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf. Von Interesse ist der Wechsel von der Schule in das Erwerbsleben. Ob dieser Übergang erfolgreich verläuft, ist von zahlreichen Faktoren abhängig. Insbesondere Jugendliche mit besonderem Förderbedarf sind hier von langen Wartezeiten betroffen, bis sie eine Chance auf eine Ausbildung erhalten. Vielen gelingt dieser Schritt jedoch nicht und wer keine abgeschlossene Berufsausbildung hat, ist erfahrungsgemäß besonders häufig erwerbslos. Das System der Jugendberufshilfe gerät angesichts des angespannten Ausbildungs- und Arbeitsmarktes heute zunehmend unter Druck. Es gilt Angebote zu schaffen, die Arbeitsmarktkapazitäten erschließen und mit den Arbeitspotenzialen der Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf zusammenführen.

Motivation für diese Arbeit

In der berufsvorbereitenden Arbeit mit Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf stellte sich mir immer wieder die Frage nach den Perspektiven, die diese jungen Menschen - bezüglich ihrer Integration in Erwerbsarbeit - haben. Für die meisten Jugendlichen, mit denen ich im Rahmen von Berufsanfängerseminaren in Kontakt gekommen bin, stand nach dem Ende der Schulzeit eine weitere Förderung in den Maßnahmen der Jugendberufshilfe an. Der Blick in diese Zukunft war bei Vielen skeptisch bis misstrauisch. Berichte aus den Maßnahmen zeichneten ebenfalls ein eher negatives Bild. Grund genug, das Handlungsfeld der Jugendberufshilfe und die Bedingungen des Arbeitsmarkts, im Rahmen einer Diplomarbeit, näher zu betrachten.

Problemaufriss

Seit den 1970er Jahren sind, als Folge von wechselnden demographischen Entwicklungen, konjunkturellen Schwankungen sowie der ansteigenden Automatisierung und Flexibilisierung von Arbeit, zunehmend Schwierigkeiten, Jugendlicher beim Eintritt in die Erwerbsarbeit, zu beobachten. Im Ringen um die Teilhabe an dem kostbar gewordenen Gut der Erwerbsarbeit steigen die Qualifikationsansprüche an die Bewerber. Von dieser Entwicklung ist die Zielgruppe der vorliegenden Arbeit besonders betroffen. Aufgrund verschiedenster Voraussetzungen rücken sie in der Warteschlange vor den Toren der Erwerbsarbeit immer weiter nach hinten.

Fragestellungen und Zielsetzungen

Da zweifelsohne nicht genug Arbeit für alle zu Verfügung steht, besteht Handlungsbedarf. Wie kann für möglichst viele der Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf eine Teilhabe am ersten Arbeitsmarkt erreicht werden und was geschieht mit denen, die kurz oder auch langfristig nicht integriert werden können?

Das Kapitel (2) bemüht sich zunächst um die Abgrenzung der zugrunde liegenden Begrifflichkeiten für diese Arbeit. Hierbei ist die Frage nach der Brauchbarkeit des Benachteiligtenbegriffs innerhalb der Jugendberufshilfe von Interesse. Im Anschluss widmet sich das Kapitel (3) der Thematik der Berufsvorbereitung während der Schulzeit und geht der Frage nach, in wie weit Schule die Funktion der Berufsvorbereitung übernimmt und an welchen Vorgaben sie sich hierbei orientiert? In Kapitel (4) werden die Entwicklungsaufgaben für das Jugendalter betrachtet. Ziel ist es, wesentliche Entwicklungsaufgaben zu identifizieren und in den Zusammenhang mit der Notwendigkeit der beruflichen Integration Jugendlicher zu bringen. Die vorgestellten Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie stellen somit eine erste Argumentationsbasis für die Forderung nach der beruflichen Integration Jugendlicher mit besonderem Förderbedarf dar. Das Kapitel (5) verfolgt die Absicht, diese Sichtweise um die gesellschaftliche Perspektive zu erweitern. Die leitende Fragestellung ist die, nach dem Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen in der Postmoderne und den sich hieraus ergebenden Konsequenzen für die Zielgruppe dieser Arbeit. Um dies zu ermöglichen, erfolgt zunächst der Versuch, den Begriff der Postmoderne zu bestimmen. Gleichzeitig werden wesentliche Kennzeichen postmoderner Gesellschaften vorgestellt.

Obwohl gesellschaftlicher Wandel und der Wandel der Erwerbsarbeit unmittelbar in Zusammenhang stehen, beanspruchen beide Phänomene ein eigenes Unterkapitel. Dies geschieht primär aus Gründen der Übersichtlichkeit und zur Verdeutlichung einzelner Gesichtspunkte. Nicht zuletzt greift das Kapitel 5 Aspekte der Jugendarbeitslosigkeit auf. Nach einer ausführlichen Betrachtung der strukturellen Bedingungen des Arbeitsmarktes geht es in Kapitel (6) um das System der Jugendberufshilfe. Ziel ist es hier, einen Einblick in die derzeitigen Förderstrukturen zu geben. Dies vollzieht sich am Beispiel der berufsausbildungsvorbereitenden Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit. Änderungen und gegenwärtige Förderstrategien werden vorgestellt und im Hinblick auf ihre Praxistauglichkeit überprüft. Dies geschieht, um auf gegenwärtige Schwierigkeiten der vorgestellten Förderstruktur aufmerksam zu machen. Letztendlich stellt sich die Frage nach der Position der Sozialen Arbeit im Handlungsfeld der Jugendberufshilfe. Auch diese Frage kann nur punktuell behandelt werden. Es ist die Absicht des Kapitels (7), das Konzept der Lebensweltorientierung in seinen Ansätzen vorzustellen und seine Brauchbarkeit für die Praxis der Jugendberufshilfe zu diskutieren. Ein Exkurs in Kapitel (8) greift das Thema der Netzwerkarbeit auf. Zweck dieses Abstechers ist es, auf die Notwendigkeit der Kooperation, im Handlungsfeld der Jugendberufshilfe, aufmerksam zu machen. Auf der Grundlage der vorausgegangenen Kapitel fasst das Kapitel (9) die Herausforderungen für die Jugendberufshilfe in der Postmoderne zusammen.

In Bezug auf den Lesefluss wird in der vorliegenden Arbeit die maskuline Ausdrucksform verwendet. Aus Gründen der politischen Korrektheit möchte ich jedoch betonen, dass die an und für sich männlichen Formen für beide Geschlechter Bedeutung haben.

2 Begriffsbestimmung

Die Adressaten der Jugendberufshilfe werden heute mit vielerlei Bezeichnungen tituliert. Am verbreitetsten und geläufigsten ist wohl der Terminus: „benachteiligte Jugendliche“ . Trotzdem habe ich mich in dieser Arbeit für einen anderen Begriff entschieden: Diese Arbeit widmet sich der Situation von Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf . Die Gründe für diese begriffliche Festlegung und die Konkretisierung der Zielgruppe sind Gegenstand dieses Kapitels.

Vorab gilt es festzustellen, dass die Gruppe der Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf nicht allgemein zu definieren ist. Um sie dennoch für den vorliegenden Zusammenhang einzugrenzen, bedarf es einer Annäherung über die Begriffe der Benachteiligung (2.1) und der Behinderung (2.2). Auf der Grundlage der Betrachtung dieser Begriffe folgt in Kapitel (2.4) die Konkretisierung der Zielgruppe für den Kontext dieser Arbeit.

2.1 Der Benachteiligtenbegriff

Jugendsozialarbeit [2] und Jugendberufshilfe (vgl. Definition S.44) bezeichnen sich selbst als Maßnahmen der Benachteiligtenförderung. Sucht man in den gesetzlichen Grundlagen nach einer Bestimmung ihrer Zielgruppe, so sind die Ergebnisse eher allgemein als eindeutig. In § 242 des Arbeitsförderungsgesetzes (SGB III) beispielsweise heißt es, dass zur förderungsfähigen Zielgruppe der sozial benachteiligten Auszubildenden 1.) verhaltensgestörte Jugendliche, 2.) Legastheniker, 3.) Jugendliche, für die Hilfe zur Erziehung geleistet wird, 4.) ehemals Drogenabhängige, 5.) Strafentlassene, Strafgefangene, Straffällige, 6.) Spätaussiedler, 7.) ausländische Jugendliche und 8.) Alleinerziehende gehören. Hiermit sind zwar bestimmte Gruppen genannt, jedoch findet sich keinerlei Aussage darüber, was im Einzelnen wen, wie und warum benachteiligt und somit zum Adressaten der Jugendberufshilfe macht. Gleichermaßen unbestimmt äußert sich das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII). Dort heißt es in §1 Absatz (3) Satz 1, dass Jugendberufshilfe „[…] junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen [soll], Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen“. [3]

Auch hier wird der Benachteiligtenbegriff wie selbstverständlich verwandt, ohne dass Aussagen darüber getroffen werden, was konkret die Benachteiligung der Jugendlichen ausmacht, und woraus sich letztlich die in Aussicht gestellte Förderung rechtfertigt. Dieser Umstand muss kritisch betrachtet werden. Mit den derzeitigen gesetzlichen Grundlagen - und der daraus resultierenden Praxis - kann schließlich jedes Individuum, das einer der beispielhaft genannten Gruppen zugehörig ist, vorschnell und evtl. unbegründet mit dem Stigma der Benachteiligung versehen werden. An dieser Problematik wird eine grundsätzliche Schwierigkeit deutlich: Benachteiligung bezeichnet weniger eine Eigenschaft, sondern vielmehr eine Relation zwischen individuellen, inneren Voraussetzungen und den strukturellen, äußeren Bedingungen, in welche die Jugendlichen eingebunden sind.[4] Das Bundesministerium für Bildung und Forschung schlägt hier die Differenzierung nach individuellen und strukturellen Dimensionen von Benachteiligung vor.

- Individuelle Dimensionen von Benachteiligung

Mit individueller Benachteiligung werden Umstände angesprochen, die unmittelbar mit der jeweiligen Person in Verbindung stehen. Wesentlich sind hier die soziale Herkunft, Schulausbildung, Geschlecht und Nationalität.[5]

- Strukturelle Dimensionen von Benachteiligung

Als strukturelle Benachteiligungen bezeichnet man die Folge von Ungleichheiten, welche sich aus regionalen Bezügen ergeben. So ist das lokale Angebot an Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, die wirtschaftliche Lage der Region, der örtliche Arbeitsmarkt, Möglichkeiten der schulischen und beruflichen Förderung sowie ein entsprechendes Freizeit- und Kulturangebot maßgeblich für die Chancen von Jugendlichen auf einen gelingenden Einstieg in das Erwerbsleben.[6]

Es bleibt festzuhalten, dass die Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf in hohem Maße von Benachteiligungen und den damit verbundenen sozialen Ungleichheiten betroffen sind.

2.2 Der Begriff der Behinderung

Im Rahmen der begrifflichen Bestimmung der Zielgruppe muss noch auf die Unterscheidung zwischen Benachteiligung und Behinderung verwiesen werden. Gemäß § 2 des SGB IX (Neuntes Sozialgesetzbuch. – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - )

sind Menschen […] behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist.[7]

Die Zuschreibung einer Behinderung ermöglicht den betroffenen Jugendlichen Zugang zu bestimmten Maßnahmen der Jugendberufshilfe. Auf die unterschiedlichen Formen von Behinderung und die verschiedenen Fördermöglichkeiten in den sogenannten Rehabilitationsmaßnahmen einzugehen, würde den Rahmen dieser Arbeit verlassen. Von Interesse sind jedoch die Grenzen zwischen Benachteiligung und Lernbehinderung. Diese sind in der Regel fließend. Nicht für alle lernbehinderten Jugendlichen ist die Teilnahme an einer Rehabilitationsmaßnahme sinnvoll. Im Fachkonzept für berufsvorbereitende Maßnahmen der BA heißt es daher:

Für Jugendliche und junge Erwachsene, die wegen ihrer Behinderung zwar besonderer Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bedürfen (§ 98 Abs. 1 i.V.m. § 102 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1b SGB III) jedoch nicht auf eine besondere Einrichtung im Sinne des § 35 SGB IX für behinderte Menschen angewiesen sind, erfolgt die Förderung in wohnortnahen ambulanten Maßnahmen.[8]

In der Praxis besuchen demnach lernbehinderte sowie nichtbehinderte Jugendliche gemeinsam die Maßnahmen der Jugendberufshilfe (vgl. Kapitel 6.5). Das Stigma der Lernbehinderung ist somit innerhalb der Zielgruppe dieser Arbeit zu finden.

2.3 Benachteiligte Jugendliche oder Jugendliche mit besonderem Förderbedarf?

Wie bereits in Kapitel (2.1) deutlich wurde, ist der Benachteiligtenbegriff in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zum einen werden unter ihm individuelle Problemlagen subsummiert, was zu einer künstlichen Zusammenfassung und defizitären Sichtweise der Jugendlichen führt. Es ist durchaus notwendig, sich der bestehenden Formen von Benachteiligung bewusst zu werden und somit auch ihre individuellen Komponenten zu berücksichtigen. Ich halte es jedoch nicht für angemessen, die Jugendlichen über ihre Dispositionen zu definieren. Durch die Fokussierung auf die Defizite erfolgt eine indirekte Schuldzuweisung an die Betroffenen. Sie werden somit einzig und allein für ihre Schwierigkeiten beim Übergang von der Schule in Arbeit verantwortlich gemacht (vgl. 5.1.3). Um nicht missverstanden zu werden, es geht mir hier nicht darum, die individuelle Seite der Benachteiligung auszublenden. Vielmehr geht es um eine Veränderung der Sichtweise, welche die gesellschaftliche und strukturelle Bedingtheit von Arbeitslosigkeit unter den betroffenen Jugendlichen berücksichtigt. Es scheint somit angemessener von Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf zu sprechen als von benachteiligten Jugendlichen . Des Weiteren rechtfertigt der aktuelle Stand der Begriffsdiskussion im Handlungsfeld der Jugendberufshilfe die Verwendung dieser Bezeichnung.

Dennoch kommt die vorliegende Arbeit nicht vollständig ohne den Terminus „benachteiligte Jugendliche“ aus. In juristischen und förderrechtlichen Zusammenhängen hat der Benachteiligtenbegriff bisweilen Gültigkeit. Weiterhin ist er notwendig, um bestimmte Ungleichheiten zu identifizieren und beschreibbar zu machen. Er findet sich in dieser Arbeit demnach wieder, wenn seine Verwendung aus Gründen der Vereinfachung und Verständlichkeit sinnvoll erscheint. Er entspricht jedoch nicht meine Sichtweise der hier angesprochenen Jugendlichen.

2.4 Zielgruppe

Es ist bereits deutlich geworden, dass Jugendliche mit besonderem Förderbedarf keine eindeutig zu definierende Gruppe sind. Ihre Heterogenität macht es unmöglich allen Individualitäten in einer Diplomarbeit gerecht zu werden. Demnach wird die Zielgruppe für diese Arbeit weiter eingegrenzt.

Auf dem Hintergrund der vorausgegangenen begrifflichen Annäherung versucht die vorliegende Arbeit ihre Fragestellungen im Hinblick auf die Situation der Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf zu beantworten. Hierbei stehen Jugendliche ohne Schulabschluss und diejenigen, welche die Schule für Lernbehinderte oder eine Förderschule[9] besucht haben im Mittelpunkt.

3 Schule als berufsvorbereitende Instanz?

Da der Wechsel von der Schule in das Erwerbsleben in dieser Arbeit von Interesse ist, soll zunächst die Schule, als Ausgangspunkt dieses Übergangs, im Hinblick auf das Thema der Berufsvorbereitung betrachtet werden.

Sucht man nach grundlegenden Aufgaben von Schule, so lassen sich vier zentrale Funktionen identifizieren.

Abbildung 1: Funktionen von Schule

Die Qualifizierungsfunktion

Schule bereitet auf das Leben nach der Schule vor. Somit übernimmt sie die Funktion der Vermittlung von Fähig- und Fertigkeiten, die ihre Absolventen für die Teilhabe am Beschäftigungssystem und am gesellschaftlichen Leben qualifizieren.

Die Selektions- und Allokationsfunktion

Postmoderne Gesellschaften zeichnen sich durch eine hohe arbeitsteilige Differenzierung aus. In der Vorbereitung auf das Beschäftigungssystem kommt der Schule somit eine Verteilerfunktion zu. Schule selektiert und weißt die unterschiedlich qualifizierten Jugendlichen den jeweiligen Ebenen des Beschäftigungssystems zu.

Integrations- und Legitimationsfunktion

Schule als Ort der Sozialisation übernimmt die Integration junger Menschen in das gesellschaftliche System durch die Vermittlung und Repräsentanz gesellschaftlicher Normen und Werte.

Die Funktion der Kulturüberlieferung

Schule ist auch ein Ort, an dem kulturelle Identität gebildet werden kann. Dies erfolgt einerseits durch Auseinandersetzung mit der Kulturüberlieferung, andererseits durch das Leben der eigenen Kultur im Kontext der Schule. Beides führt zur Weiterentwicklung und Bildung kultureller Identität.

Quelle: Gudjons, H. (2003): Pädagogisches Grundwissen .[10]

Schule ist die Instanz, die maßgeblich über Zukunftschancen mitentscheidet. Doch leider hat sich die Situation an den Schulen, vor allem an den Sonder- und Förderschulen, derart verändert, dass ihr Bildungsauftrag, zugunsten einer immer notwendiger werdenden Beziehungs- und Erziehungsarbeit, in den Hintergrund tritt. Wachsende Problemlagen im privaten Bereich werden in die Schule transportiert. Die häufig beklagten „sozialen Defizite“ der Schüler machen vielerorts ein normales Lernen nahezu unmöglich. Lehrer geraten in die Doppelrolle von Wissensvermittler und Sozialarbeiter. Dieser Umstand erschöpft nicht nur jegliche individuellen Ressourcen. Viele Lehrer sind gezwungen Aufgaben zu übernehmen, für die sie schlichtweg in ihrer Ausbildung nicht vorbereitet werden. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit ständiger Fort- und Weiterbildung, die häufig auf Kosten der eigenen Freizeit und der eigenen Finanzen geht. Die Lage an vielen Schulen kann diesbezüglich ruhigen Gewissens als dramatisch bezeichnet werden. Das Thema der Berufsvorbereitung wird folglich ebenfalls häufig vernachlässigt. Gerade die Heranführung Jugendlicher mit besonderem Förderbedarf an das Thema „Arbeit“ erfordert ein hohes Maß an Einsatz, Kreativität und Netzwerkarbeit seitens der Schule. Eine ausführliche Begleitung, Reflexion und Intervention bei auftretenden Krisen ist hier mehr als in den allgemeinbildenden Schulen notwendig. Dies setzt Kapazitäten voraus, die noch lange nicht flächendeckend vorhanden sind. Weiterhin mangelt es bisweilen an einer umfassenden Festschreibung der Berufsvorbereitung in den Lehrplänen.[11]

3.1 Das Konzept der Ganztagsschule

Bund und Länder setzten derzeit verstärkt auf das Konzept der Ganztagsschule, um der Bildungsmisere zu begegnen. Ob dies jedoch Auswirkungen auf den Bereich der Förderung der beruflichen Orientierung hat, ist fraglich. Auf der Grundlage des Investitionsprogramms "Zukunft Bildung und Betreuung" stellt der Bund den Ländern bis zum Jahr 2007 vier Milliarden Euro für den Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen zur Verfügung.[12] Hiervon entfallen laut Verwaltungsvereinbarung 913.967.660 Euro auf das Land Nordrhein-Westfalen.[13] Es obliegt den Ländern, über den Einsatz dieser Mittel zu entscheiden. Die Abbildung 2 veranschaulicht die Verwendung der Fördergelder für Nordrhein Westfalen seit dem Jahr 2003. Es wird deutlich, dass der Primarbereich (Grundschule) im Zentrum der Förderung steht. Lediglich 6% der Mittel wurden für die Umsetzung des Ganztangkonzepts in den Sonderschulen aufgewendet.

Abbildung 2: Verteilung der Schulformen realisierter und vorgesehener Förderung im Zeitraum 2003 - 2005

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: http://www.ganztagsschulen.org/_downloads/NRW_Kongress.pdf [Stand: 22.03.2006]

Es bleibt festzuhalten, dass es den Schulen vielerorts an personellen und strukturellen Ressourcen fehlt, um dem Thema der beruflichen Orientierung ausreichend Aufmerksamkeit zu widmen. Im Rahmen von Ganztagsschule liegt sicherlich die Chance einer positiven Veränderung. Dies setzt jedoch eine entsprechende inhaltliche Gestaltung der sich erweiternden zeitlichen Kapazitäten sowie eine hinreichende personelle Ausstattung voraus. In diesem Zusammenhang kommt der Kooperation von Schule und Jugendhilfe eine besondere Bedeutung zu. Diese Zusammenarbeit kann sich in Zukunft nicht mehr nur auf die Formel: „Schule + Jugendhilfe = Schulsozialarbeit“ beschränken. Um adäquate Angebote im Sinne der Jugendlichen machen zu können, wäre eine Zusammenarbeit zwischen offener Jugendhilfe, Jugendberufshilfe, Wirtschaft und Schule erstrebenswert. Es gibt bereits zahlreiche Beispiele für derartige Kooperationen. Wünschenswert wäre, dass sich diese Entwicklung zugunsten des Abbaus der historisch gewachsenen Barrieren zwischen den Systemen Jugendhilfe und Schule fortsetzt und in Zukunft mehr Betriebe für eine Zusammenarbeit gewonnen werden können.

3.2 Zum Verhältnis von Schul- und Beschäftigungssystem

Mit Blick auf die berufsvorbereitende Funktion von Schule stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Schule und Beschäftigungssystem. Wie beeinflussen sich beide Systeme, und welche Form der Kooperation erscheint sinnvoll? In die Diskussion hierzu bringt JACHMANN folgende Standpunkte ein:

Abbildung 3: Verhältnis von Schule und Beschäftigungssystem

Schule kann der Arbeitswelt subordiniert sein, das heißt, sie hat die heranwachsende Generation auf das Arbeitsleben vorzubereiten. Sie empfängt ihre Zielvorgaben praktisch von den Abnehmern; zum Mindesten wird diesen ein starkes Mitspracherecht bei der Zusammenstellung der Richtlinien eingeräumt.

Die Schule kann der Arbeitswelt koordiniert sein. Bei dieser Regelung ist ihr Auftrag ambivalent: Ihr wird in einem begrenzten Rahmen Selbstständigkeit zugestanden; sie hat darüber hinaus die Forderungen der Arbeitgeberverbände zu berücksichtigen.

Die Schule kann der Arbeitswelt präordiniert sein. Sie hat ihren Zweck primär in sich selbst, stellt einen in sich geschlossenen Bereich dar, der in keiner Weise anderen Interessenverbänden verpflichtet ist (vgl. Jachmann).

Quelle: Jachmann zitiert nach Retzlaff, H (1999)[14]

Meiner Meinung nach beschreibt die erste und letzte Position ein Extrem. Obwohl das Curriculum der Sonderschulen eine große Freiheit bei der Gestaltung und der Wahl der Unterrichtsinhalte lässt, ist sie nicht unabhängig und ohne Verpflichtung anderen gegenüber. Der Auftrag, junge Menschen auf das Leben nach der Schule vorzubereiten, obliegt allen Schulformen. Demnach müssen Aspekte der künftigen Arbeitswelt – unter Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen der Schülerschaft - in der Gestaltung des Unterrichts berücksichtigt werden. Eine einseitige Festschreibung durch die Arbeitgeberverbände halte ich jedoch für zu starr. Vielmehr sollte ein kooperativer Austausch zwischen Schule, Jugendhilfe und Arbeitgebervertretern stattfinden. Im Hinblick auf Jugendliche mit besonderem Förderbedarf müssen die Ansprüche der Arbeitswelt mit den besonderen Bedürfnissen dieser Jugendlichen abgeglichen werden. Gemeinsam müssen Angebote konzipiert werden, die den benachteiligten Jugendlichen Chancen zur Teilhabe am Erwerbsleben einräumen. Gleichzeitig müssen die hiermit verbundenen Anforderungen in Schule transportiert werden und eine Berücksichtigung im Unterricht finden. In diesem Sinne erscheint es erstrebenswert, auf ein kooperatives Verhältnis von Schule und Arbeitswelt hinzuarbeiten.

4 Entwicklungsaufgaben in der Jugend

Für den vorliegenden Zusammenhang ist es sinnvoll, die Perspektive der Entwicklungspsychologie zu öffnen und die Entwicklungsaufgaben der Jugend in den Blick zu nehmen.

Betrachtet man die Jugend als eine Zeit, in der es Entwicklungsaufgaben und Krisen gibt, deren Bewältigung zu der Reife führt, die für ein Erwachsenendasein notwendig ist, so kann sie als Zeit der Vorbereitung und psychosozialen Reife gesehen werden. Dies betrifft nicht nur die schulischen Leistungen sondern vor allem die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit.[15] Die Verlängerung dieser Vorbereitungszeit wird innerhalb der Psychologie als psychosoziales Moratorium bezeichnet. Sie stellt eine Stundung der Erwachsenpflichten zugunsten der Selbsterkundung dar.[16]

Als zentrale Entwicklungsaufgaben der Jugend nennen DREHER & DREHER:

Abbildung 4: Entwicklungsaufgaben in der Jugend

- Neue, reife Beziehungen zu Gleichaltrigen beiderlei Geschlechts aufbauen.
- Die männliche/weibliche Geschlechterrolle übernehmen.
- Die eigene körperliche Erscheinung nutzen und den eigenen Körper akzeptieren.
- Emotional unabhängig werden von den eigenen Eltern und anderen Erwachsenen.
- Sich auf das eigene Ehe- und Familienleben vorbereiten.
- Die berufliche Laufbahn planen und vorbereiten.
- Zu einem eigenen ethischen Wertesystem gelangen, das als Verhaltensrichtlinie gilt.
- Sozial verantwortliches Verhalten anstreben und aufbauen

Quelle: Dreher & Dreher (1985) IN: Fend, H. (2001)[17]

Betrachtet man die einzelnen Entwicklungsaufgaben, so lässt sich als zentrales Thema der Jugend die Frage nach Identität und Gewinnung von Autonomie nennen.

Der Erfolg der Bewältigung der genannten Entwicklungsaufgaben hängt entscheidend davon ab, ob der Jugendliche davon ausgeht, mit seinem Verhalten etwas bewirken zu können. Wesentlich ist hierbei das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Probleme und Konflikte lösen zu können. Negative Sozialisationserfahrungen sind häufig die Ursache, dass diese Fähigkeiten nicht ausreichend entwickelt sind. Angesichts auftretender Schwierigkeiten bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben sind Jugendliche mit besonderem Förderbedarf einem erhöhten Risiko ausgesetzt - anstelle konstruktiver Bewältigungsstrategien - auf eher nicht förderliche Bewältigungsmaßnahmen auszuweichen. Hier sind z.B. Drogenkonsum oder sozialer Rückzug Fluchtmöglichkeiten, um sich dem Druck der Anforderungen zu entziehen.

Für eine gelungene Bewältigung ist die erfahrene Selbstwirksamkeit [18] von Bedeutung. BANDURA prägte diesen Begriff. Er geht davon aus, dass die Selbstwirksamkeit menschliches Handeln durch folgende Prozesse beeinflusst:

1.) Kognitive Prozesse (z.B. „Baue ich mir ein Erfolgs- oder Misserfolgsszenario auf?“), 2.) Affektive Prozesse (z.B. „wie viel Stress und Angst erlebe ich in einer belastenden Situation?“), 3.) Motivationale Prozesse (z.B. „wie viel Mühe gebe ich mir, um ein gestecktes Ziel zu erreichen?“), 4.) Auswahl von Umweltsituationen (z.B. „präferiere ich Situationen, die ich bewältigen kann, oder solche, die ich für nicht bewältigbar halte?“).[19]

In wie fern sich Jugendliche im positiven Sinne als selbstwirksam erleben können, steht in direkter Abhängigkeit zu den Möglichkeiten und Perspektiven, die Gesellschaft ihnen bietet. Im Kontext dieser Arbeit bedeutet dies, dass es Jugendlichen ermöglicht werden muss, die typischen Entwicklungsaufgaben ihres Lebensabschnitts bewältigen zu können, bevor sie zu alt sind, um Jugendliche zu sein. Für sie geht es also darum, sich von der Abhängigkeit ihrer Herkunftsfamilien zu befreien und eine eigene Identität auszubilden. Ein gelungener Übergang in Arbeit scheint hierfür von besonderer Bedeutung. Dieser gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden obliegt u. a. den Institutionen der Jugendberufshilfe. Wie weit diese hierzu in der Lage sind, wo sich ihnen Grenzen entgegenstellen und Chancen eröffnen, ist eine Fragestellung dieser Arbeit.

5 Postmoderne und der Begriff der Arbeit

Dieses Kapitel gibt Aufschluss über die gegenwärtigen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt. Es interessiert das Verhältnis zwischen Arbeit, Gesellschaft und der Zielgruppe dieser Arbeit – den Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf.

Das Kapitel (5.1) beschäftigt sich zunächst mit der Klärung der begrifflichen Konstruktion der Postmoderne und benennt wesentliche gesellschaftliche Wandlungsprozesse. Anschließend wird in Kapitel (5.2) der Begriff der Arbeit eingeführt und seine Bedeutung für den vorliegenden Zusammenhang diskutiert. Gesondert von den gesellschaftlichen Veränderungen werden wesentliche Wandlungsprozesse der Erwerbsarbeit in der postmodernen Gesellschaft aufgezeigt, um im Weiteren Bezug auf deren Auswirkungen für die Situation von Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf nehmen zu können. Anschließend wird der Frage nachgegangen, welche Chancen sich Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf auf dem derzeitigen Arbeitsmarkt bieten. Neben der Betrachtung der strukturellen Bedingungen, denen diese Gruppe junger Menschen gegenübersteht, kommen sie selbst zu Wort, indem ihre eigenen Vorstellungen von und Erwartungen an Arbeit beispielhaft dargestellt werden. Es wird sich zeigen, ob diese Jugendlichen aus Mangel an Motivation und Initiative Schwierigkeiten haben, die sogenannte erste Schwelle - die Hürde von Schule in Ausbildung beziehungsweise Arbeit - zu überwinden oder ob andere Gründe hierfür vorliegen.

5.1 Postmoderne – Versuch einer Konkretisierung

Die zentralen Fragestellungen dieser Arbeit suchen nach Antworten für die Gestaltung von Maßnahmen, die sowohl gegenwärtige als auch zukunftsfähige Konzepte für die Jugendberufshilfe ermöglichen. Folglich erscheint es an dieser Stelle sinnvoll herauszustellen, was die gegenwärtige Gesellschaft - in der diese Maßnahmen umgesetzt werden sollen - kennzeichnet.

Immer wieder ist heute die Rede von der postmodernen Gesellschaft. Doch wofür steht eigentlich die Vorsilbe im Wort (Post-)moderne? Ist der moderne Mensch heute schon mehr als modern? Gehört die Moderne der Vergangenheit an oder leben wir immer noch in ihr? Diese Fragen geben im Groben das Spannungsfeld wieder, in dem die derzeitige Diskussion um den Begriff der Postmoderne geführt wird. Sie machen deutlich, dass es sich um einen umstrittenen, vielfach diskutierten und letztlich wissenschaftlich noch nicht eindeutig geklärten Begriff handelt. Aufgrund der Komplexität des Themas kann hier nicht weiter auf die aktuelle Debatte um die Konkretisierung der Begriffskonstruktion „Postmoderne“ eingegangen werden.

Für ein Verständnis im Kontext dieser Arbeit soll jedoch festgehalten werden, dass es sich bei dem gewählten Terminus nicht um die Bezeichnung einer neuen Epoche handelt auch wenn die Semantik des Wortes diese Vermutung nahe legen mag. Ein Blick in die Geschichte macht dies deutlich. Der Ausdruck „Postmoderne“ ist keine Erfindung der Gegenwart. Bereits im frühen 19. Jahrhundert findet er Verwendung, um beispielsweise neue Stile und Richtungen in Kunst und Literatur zu kennzeichnen. Schon damals verwies das Adjektiv „postmodern“ auf eine Kritik

[…] an der Moderne, auf den Ebenen des philosophischen Denkens, der abendländisch- westlich- modernen Zivilisation, der Ästhetik und des Selbstverständnisses des Menschen.[20]

Somit beschreibt die Vorsilbe „Post“ die Abkehr von alten Mustern, durch Wandlungsprozesse in Teilbereichen der Gesellschaft, hin zu etwas Neuem. Hiermit ist jedoch – wie gesagt - kein gesamtgesellschaftlicher Wandel gemeint. Eine neue Epoche, welche die Moderne gänzlich abzulösen vermag, scheint noch nicht erreicht. Gründe hierfür gibt NIKLAS LUHMANN an, wenn er strukturelle Kontinuitäten der modernen Gesellschaft, wie beispielsweise die Geldabhängigkeit der Wirtschaft, die Forschungsintensität der Wissenschaft, die Ausdifferenzierung der Intimbeziehungen, die Positivität des Rechts oder die staatsbezogene Politik als feste Größen innerhalb des Gesellschaftssystems nennt.[21] Diese festen Größen verankern die Gegenwart weiterhin im Zeitalter der Moderne.

Dennoch ist die „Postmoderne“ in aller Munde. Hochkonjunktur hatte der Begriff in den 80er und den beginnenden 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit avancierten „Postmoderne“ und die komplementären Termini

[…] zu gängigen Metaphern, zu gängigen Codeworten und catch - allterms, für bestimmte Tendenzen im Alltagsleben, im Theater, Tanz, in der Philosophie, Psychoanalyse, Geschichtsschreibung, Soziologie und Pädagogik, selbst in Kybernetik, Ökonomie und in den Naturwissenschaften, […][22]

Wie IHAB HASSAN in dem vorstehenden Zitat bereits andeutet, sind es gesellschaftliche Tendenzen, also Veränderungen und Wandlungsprozesse in Sektoren der Gesellschaft, welche mit dem Etikett der Postmoderne versehen wurden. Diese Feststellung hat nichts an Aktualität verloren.

Die vorliegende Arbeit hält an der Bezeichnung Postmoderne zur Kennzeichnung der Gesellschaft der Gegenwart fest. Auch, wenn wir noch nicht gänzlich in einer neuen Ära angekommen sind, so werden doch die real existierenden gesellschaftlichen Veränderungen durch die vorgeschlagene Bezeichnung treffend markiert. In Anbetracht der Entwicklungen unter den Vorzeichen von Globalisierung und Kapitalisierung scheint es zukunftsweisend und -tauglich zu sein, bestimmte gesellschaftliche Wandlungsprozesse mit dem Adjektiv postmodern zu beschreiben.

Im Kontext dieser Arbeit stellt sich nun die Frage, an welchen Stellen sich Gesellschaft im Wandel befindet und was dies für die Korrelation zwischen den Chancen von Jugendlichen mit besonderem Förderbedarf und ihren Möglichkeiten und Perspektiven beim Übergang von Schule in Arbeit bedeutet?

5.1.1 Zeichen der Zeit

Die Dynamik der Modernisierung löst langsam aber sicher die bestehenden Strukturen der Industriegesellschaft auf. Lebens- und Arbeitsformen verändern sich. Das lange Zeit klare Bild einer normalen Erwerbs- und Lebensbiografie verschwimmt Zusehens vor dem Hintergrund „postmoderner“ Wandlungsprozesse. Auch die Norm als allgemein geltende Vorschrift für das menschliche Handeln steht in Frage. Scheinbar verkommen zur Worthülse bietet sie sich allen erdenklichen, vermeidlich sinnstiftenden Denk-, Glaubens- und Lebensrichtungen zur Übernahme an. Gesellschaft, Religion, Familie, und Kultur haben an ihrer Orientierungsfunktion eingebüßt. Vielmehr existieren sie heute neben einer Vielzahl von „ […] anderen möglichen Mustern der Realitätsdefinition mit den damit verbundenen Normen, Sitten und Gebräuchen“.[23]

[...]


[1] Quelle: http://bureau.comandantina.com/archivos/FA-Arbeitslosenschlange.jpg

[2] Jugendsozialarbeit ist der Teilbereich der Jugendhilfe, der die berufliche und gesellschaftliche Integration junger Menschen und deren Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zum Ziel hat. Demzufolge wird Jugendsozialarbeit nicht nur im Kontext von Jugendhilfe durchgeführt. Auch Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Migrations-/Integrations-, Sozial- und Wohnungsbaupolitik spielen eine nicht unbedeutende Rolle. Zitiert nach: (http://www.bagjaw.de/arbeitsfelder.html#1) [Stand: 14.04.2006].

[3] SGB VIII (2002): §1 Absatz 3 Satz 1. Beck Texte im dtv. 24 Auflage. S. 16

[4] Vgl.: Geßner, Thomas (2004): Was benachteiligt wen und warum? Versuch einer Präzisierung des Konstrukts „Benachteiligung“ IN: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 2.Jg. 2004, H1, S. 34 f

[5] Vgl.: Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hg.) (2005a): Berufliche Qualifizierung Jugendlicher mit besonderem Förderbedarf – Benachteiligtenförderung -. S. 14 ff

[6] Vgl.: Bundesministerium für Bildung und Forschung (2005a) a.a.O., S. 12

[7] SGB IX (2003): Teil 1. Regelungen für behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen. § 2 Absatz 1 Satz 1. Beck Texte im DTV. 14. Aufl. S. 161

[8] Bundesagentur für Arbeit (2006b): Fachkonzept für Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen gem. §61 SGB III. http://www.arbeitsagentur.de/content/de_DE/hauptstelle/a-05/importierter_inhalt/pdf/bvB_Fachkonzept_03_2006.pdf S. 26 [Stand 20.04.2006].

[9] Der Schulversuch "Förderschule" wurde am 1. August 1994 an 31 Sonderschulen in NRW begonnen. Es war das Ziel des Schulversuchs festzustellen, wie lernbehinderte, erziehungsschwierige und sprachbehinderte Schülerinnen und Schüler in einer Sonderschule – Förderschule - gemeinsam gefördert werden können. Der Schulversuch ist mittlerweile abgeschlossen. Bis zur Entscheidung, welche Konsequenzen aus dem Schulversuch zu ziehen sind, können die Förderschulen wie bisher weitergeführt werden.

Zitiert nach: Bildungsportal NRW.: http://www.bildungsportal.nrw.de/BP/Schule/System/Schulformen/Foerderschulen/Foerderschule.html [Stand 28.04.2006].

[10] Gudjons, H. (2003): Pädagogisches Grundwissen: Überblick – Kompendium – Studienbuch. 8 Auf. Klinkhardt, Bad Heilbrunn. S. 304f

[11] Vgl.: Retzlaff, H.(1999): Zum Verhältnis von Schul- und Beschäftigungssystem. IN: Stark, W. / Fitzner, T. / Schubert, C. [HG] (1999): Jugendberufshilfe im Dilemma. 1 Aufl. Ernst Klett Verlag, S. 103 ff

[12] Vgl.: Bundesministerium für Bildung und Forschung (2006a): Das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung ". http://www.bmbf.de/de/3735.php [Stand: 22.03.2006].

[13] Vgl.: Bundesministerium für Bildung und Forschung (2006b): Fördersumme aus dem Investitionsprogramm des Bundes "Zukunft Bildung Betreuung" (IZBB) insgesamt für die Jahre 2003-2007 . http://www.ganztagsschulen.org/1145.php [Stand 22.03.2006].

[14] Jachmann, R.B. (o.J.): Über das Verhältnis der Schule zur Welt. IN: Dokumente des Neuhumanismus Langensalza. S. 88 – 110. Zitiert nach Retzlaff, H (1999): a.a.O. S. 104

[15] Vgl.: Kohnstamm, R. (1999): Praktische Psychologie des Jugendalters. Vom Kind zum Erwachsenen – Das Individuum – Das Umfeld. Verlag Hans Huber, Bern. S. 60 f

[16] Vgl.: Feser, H. (2000): Der menschliche Lebenszyklus. Entwicklung des Selbstkonzeptes und des Sozialverhaltens über elf Lebensabschnitte. Fachverlag Peter Sabo, Schwabenheim a. d. Selz. S. 107

[17] Vgl.: Dreher & Dreher (1985) IN: Fend, H. (2001): Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Ein Lehrbuch für pädagogische und psychologische Berufe. 2. Aufl., Leske + Budrich, Opladen. S.211

[18] Selbstwirksamkeit beschreibt die generalisierte Erwartung eines Menschen, eine schwierige Herausforderung meistern zu können. Eine Komponente der Selbstwirksamkeit ist dabei die Annahme, man könne als Person gezielt Einfluss auf die Dinge und die Welt nehmen .

Wikipedia. Die freie Enzyklopädie: http://de.wikipedia.org/wiki/Selbstwirksamkeit

Stand [25.05.2006]

[19] Vgl.: Petermann, F. / Petermann, U. (2000): Training mit Jugendlichen. Förderung von Arbeits- und Sozialverhalten. 6 Aufl. Hogrefe, Göttingen. S. 14

[20] Vester, H.G.: (o.T.). IN: Frechhoff, W. / Neubauer, G. [Hg.] (1997): Patchwork-Jugend. Eine Einführung in postmoderne Sichtweisen. Leske + Budrich, Opladen. S. 45

[21] Vgl.: Luhmann, N. (1990): Soziologische Aufklärung. Konstruktivistische Perspektiven. Westdeutscher Verlag, Opladen. S. 233

[22] Hassan, I. (1987): Pluralismus in der Postmoderne, IN: Kamper, D. / van Reijen, W. [Hg.]. Die vollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne. Frankfurt/Main. S 158

[23] Kleve, H. (1996): Konstruktivismus und Soziale Arbeit. Kersting, Aachen. S.23

Ende der Leseprobe aus 90 Seiten

Details

Titel
Herausforderungen an die Jugendberufshilfe in der Postmoderne
Untertitel
Übergänge gestalten – für Jugendliche mit besonderem Förderbedarf in Arbeit
Hochschule
Katholische Hochschule NRW; ehem. Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Aachen
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
90
Katalognummer
V59945
ISBN (eBook)
9783638537421
ISBN (Buch)
9783638709552
Dateigröße
2294 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jugendliche, Förderbedarf, Arbeit, Herausforderungen, Jugendberufshilfe, Postmoderne
Arbeit zitieren
Kay Ullrich (Autor:in), 2006, Herausforderungen an die Jugendberufshilfe in der Postmoderne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/59945

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