Ländervergleich: Transformationsprozesse in Estland und der Ukraine


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2000

13 Pages, Note: 1,3


Extrait


Ländervergleich: Transformationsprozesse in Estland und der Ukraine

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Thema: Welche Faktoren sind dafür verantwortlich, dass in den Transformationsländern Reformen stattfinden können? Eine Falluntersuchung am Beispiel Estlands und der Ukraine

Einleitung:

Vor einigen Wochen erschien in der Stuttgarter Zeitung ein interessanter Artikel zur Osterweiterung der Europäischen Union und der damit verbundenen deutschen Ängste vor einer Überflutung des Landes mit billigen Arbeitskräften. Der überraschende Tenor des Artikels: Weniger die Bundesrepublik als die erste Garnitur der Bewerberstaaten, also Polen, Ungarn, Estland, die Tschechei und Slowenien selbst müssten mit Konkurrenz durch billige Arbeitskräfte aus ärmeren Ländern rechnen. Der Grund dafür: Mittlerweile existiert ein erhebliches Wohlstandsgefälle zwischen den früheren sozialistischen Einheitsstaaten Mittel- und Osteuropas. Auf der einen Seite gibt es die Musterschüler wie Ungarn oder die baltischen Staaten, die bereits als europäische „Tiger“ bezeichnet werden und mit hohen jährlichen Wachstumsraten glänzen. Auch politisch entwickeln sich diese Staaten zu stabilen Demokratien nach westlichem Vorbild. Auf der anderen Seite herrscht in Ländern wie Moldawien oder der Ukraine immer noch eine schwere wirtschaftliche und politische Krise, in der kein schnelles Ende absehbar ist. Wie dramatisch die Unterschiede mittlerweile sind, lässt sich leicht mithilfe einiger Zahlen verdeutlichen. So betrug das Bruttoinlandsprodukt Moldawiens 1999 noch etwa 31% des Stands von 1989, das der Ukraine noch 36%.Das Bruttoinlandsprodukt Polens dagegen erreichte 1999 122% des Werts von 1989 (Quelle: EBRD-Report), also des Werts zu Beginn des Transformationsprozesses.

Offen ist, welche Faktoren in welcher Weise für die gewaltigen Unterschiede in diesen vormals in vielen Bereichen sehr ähnlichen Staaten verantwortlich sind. Sicher scheint jedoch, dass das Ausmaß, in dem in den einzelnen Staaten Reformmaßnahmen durchgeführt wurden, einen großen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Landes hatte. Genau an dieser Stelle setzt diese Hausarbeit an: Es soll versucht werden, eine Antwort auf die Frage zu geben, warum es in manchen Ländern gelingt, einschneidende Reformmaßnahmen durchzuführen und in anderen nicht. Welche gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Kräfte haben den Reformprozess positiv oder negativ beeinflusst?

Um dies herauszufinden, habe ich Hypothesen zu den folgenden Faktoren, die einen Einfluss auf das Reformgeschehen haben könnten, überprüft: die Rolle der Eliten, die Haltung der Bevölkerung zum Reformgeschehen, den Einfluss reformfeindlicher Interessengruppen und die Rolle staatlicher Institutionen. Für die Untersuchung führte ich einen Ländervergleich anhand der Ukraine und Estland durch. Dabei bestätigten sich die meisten meiner Hypothesen, so scheint zum Beispiel eine eindeutige Korrelation zwischen einem frühen Zeitpunkt der Reformen und ihrer Durchsetzung zu bestehen.

Zum Aufbau: Zunächst werde ich den aktuellen Stand der Literaturdebatte zu diesem Thema kurz darzustellen. Danach folgt die Vorstellung der Hypothesen sowie eine kurze Begründung der Fallauswahl. Im Kapitel „Empirische Analyse“ schließlich findet eine Untersuchung der einzelnen Hypothesen am Länderbeispiel Ukraine und Estland statt. In der Zusammenfassung am Schluss finden sich zusätzlich auch Hinweise auf noch offene Forschungsfragen zu diesem Thema.

Gegenwärtiger Stand der Literaturdebatte:

Im folgenden werde ich versuchen, kurz den Stand der Literatur zur Fragestellung der Verwirklichung von Reformen zu skizzieren. Eine wichtige Rolle in der wissenschaftlichen Debatte der Transformationsforschung spielte der Streit um „Big Bang” versus „Gradualism”. Zu Beginn der 90er Jahre vertraten viele Wissenschaftler, vor allem Ökonomen den Standpunkt des „Big Bang”: Nach einem Umbruch, wie er in den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre stattfand, öffnet sich demnach ein „window of opportunity” (Balcerowicz 1995) für Reformen und Reformkräfte. In der Phase direkt nach dem Umbruch besteht dieser Lehre nach für entschlossene Reformer an der Spitze eines Staates die Möglichkeit, schnelle und radikale Reformen in weiten Teilen von Politik- und Wirtschaftsordnung durchzuführen. Da die Popularität der Reformen mit ihren sozialen Kosten zu schwinden drohe, sei es ein Gebot der Stunde, durch ein radikales Vorgehen die Anzahl der veränderten Politikbereiche zu maximieren und die Dauer des Produktionseinbruchs zu minimieren. Dies ist notwendig, um sicherzustellen, dass ein Land schnell von den Lasten, die es aus der Planwirtschaft geerbt hat, befreit wird und einen Rückfall oder Verzögerungen durch die alte „Nomenklatura” vermeidet (Aslund 1994). Da wirtschaftliche Verzerrungen aus der Planwirtschaft Korruption und „rent-seeking” erzeugen, müssen diese schnellst möglich beseitigt werden. Außerdem ist bei einer Schocktherapie die Periode der Unsicherheit während des Übergangs wesentlich kürzer und der Staat ist nicht ständig mit neuen, kleineren Reformen beschäftigt. Eine Rückkehr zum alten System wird durch eine Schocktherapie extrem erschwert, was von den Anhängern der „Big-Bang”-Theorie auch als politisches Ziel dieser Reformen gesehen wurde. Als Beispiel für Schocktherapie gilt in der Literatur vor allem Polen.

Demgegenüber warnten vor allem Politologen wie zum Beispiel Murrell (1992) vor zu überhasteten Reformen. Die Anhänger eines mehr graduellen Übergangs argumentieren, dass sich staatliche und halbstaatliche Institutionen nicht über Nacht reformieren lassen. Zudem wird angenommen, dass die sozialen Kosten bei einem graduellen Übergang niedriger wären als bei der Schocktherapie. Es besteht demnach bei der Schocktherapie eher die Gefahr eines vollständigen wirtschaftlichen Zusammenbruchs, da auch Firmen, die nach einer gewissen Übergangszeit durchaus fähig wären, zu Weltmarktbedingungen zu produzieren durch eine Schocktherapie und eine Marktfreigabe „über Nacht“ in den Bankrott getrieben würden. Murrell beklagt auch die großen Verluste etwa an wirtschaftlichem Know-how, die durch einen „Big- Bang” entstehen. Interessant ist, dass es bei den Vertretern des „Gradualism” im Gegensatz zum „Big-Bang” keinen eindeutigen „Fahrplan” für den Übergang gibt, über den weitgehende Einigkeit herrscht. Auch bekannte sich keine Regierung in einem Transformationsland offiziell zu einem gradualistischen Kurs. In der Literatur wird meist Ungarn als klassisches Beispiel für „Gradualism” genannt, obwohl die offizielle ungarische Position auch immer die einer Schocktherapie gewesen ist.

Aus heutiger Sicht zeigt sich, dass die Debatte „Big-Bang” versus „Gradualism” in weiten

Bereichen an der Wirklichkeit vorbeigeht. So weist etwa Popov (2000) nach, dass mehr als 60% der Unterschiede im heutigen Entwicklungsstand aus unterschiedlichen Ausgangsbedingungen wie etwa dem Grad der vortransitiven Verzerrungen der Wirtschaftsstruktur oder der geographischen Lage der Transformationsländern resultieren. Wenn man wichtige politische Faktoren wie die Durchsetzungsfähigkeit staatlicher Institutionen mit einbezieht, so sind nach Popov bereits 85% der Unterschiede erklärbar. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass dem Faktor der Geschwindigkeit der Reformen, also dem Kern der Debatte „Big-Bang” versus „Gradualism” laut Popov keine allzu große Bedeutung zukommt.

Auch in der Frage, welche Reformen denn nun durchzuführen sind, herrscht weitgehend

Einigkeit (Lavigne 1999): Demnach sind alle bisher tatsächlich durchgeführten Reformpakete im Kern und der Zielsetzung durchaus ähnlich. Sie unterscheiden sich nur im „wie” und der Konsequenz, mit der sie verwirklicht werden. „The only significiant difference among them (reforms) has been the political resolve of their implementation, up to extreme cases such as Ukraine where the reforms never really took of the ground.” (Lavigne 1999:120) Interessant ist für diese Hausarbeit nun, welche politischen Faktoren maßgeblich dafür sind, dass Reformen in manchen Ländern tatsächlich verwirklicht werden können und in anderen nicht. Nach dem Transition Report der European Bank for Reconstruction and Development ist es unter anderem von großer Bedeutung, in welchem Ausmaß die alten kommunistischen politischen Eliten im Zuge der Reformen durch neue Kräfte ersetzt werden. Der EBRD-Report weißt eine eindeutige Korrelation zwischen dem Beginn und der Intensität von Reformen und dem Zeitpunkt des ersten Machtwechsels zugunsten der Reformkräfte nach. Auch ist es laut EBRD- Report wichtig, inwieweit in einer Gesellschaft Übereinstimmung über die Ziele des Reformprozesses herrscht. Diese äußert sich etwa in Wahlergebnissen. In der Stärke reformfeindlicher Interessen sieht Aslund (1995) eine der Hauptgefahren für den Transformationsprozess: Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen in Russland bezeichnet er den Kampf zwischen Reformern und „rent-seeking-groups“ als den eigentlichen politischen Konflikt des Transformationsprozesses. Etwa im Bereich der Privatisierungen von Staatsbetrieben haben Interessengruppen aus der alten Nomenklatura oft eine entscheidende Rolle gespielt und sich erfolgreich bereichert (EBRD-Report 2000). Dieses System der Selbstbedienung hat teilweise seine Wurzeln in der Sowjetvergangenheit. „Die illegale Bereicherung stieg unter Leonid Breshnew von der Ausnahme zum Systemmerkmal auf. Die alte Sowjet-„mafija“ ist also die Keimzelle der Neuen Ökonomischen Eliten.“(Wittkowsky 1997) Die Stärke und Kompetenz staatlicher Institutionen hat eng damit zusammenhängend auch eine große Bedeutung. So weist der Bericht etwa eine positive Korrelation zwischen politischem Wettbewerb und den ökonomischen Reformen nach. Diese Hausarbeit soll nun herausarbeiten, welche der vielen in der Literatur diskutierten Theorien über das Gelingen des Reformprozesses am Beispiel der Länder Ukraine und Estland zutreffend oder falsch sind.

Hypothesenteil:

Fünf politische Faktoren haben Einfluss auf die ökonomischen Reformen in den Transformationsländern (Kategorisierung nach EBRD-Report 2000):

1) Von Bedeutung ist, wie sich die Machteliten eines Landes während des

Transformationsprozesses verändert haben. Folgende Hypothesen sind hier zu überprüfen:

- Wenn es in einem Land zu Beginn des Transformationsprozesses zu einem Regierungswechsel zuungunsten der bislang regierenden Kommunisten kommt, dann werden Reformen schneller und in größerem Umfang durchgeführt.

- Je höher der Anteil der Vertreter der alten Nomenklatur in Schlüsselpositionen aus Politik, Wirtschaft und Administration, desto weniger kommt es zu grundlegenden Reformen.

2) Wichtig ist auch, inwieweit in den Transformationsländern eine gesellschaftliche

Übereinstimmung über Ziele und Notwendigkeit von Reformen besteht. Eine denkbare Hypothese hierzu:

- Je höher die Sympathien in der Bevölkerung für reformfeindliche Parteien in der postkommunistischen Phase, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass keine Reformen zustande kommen.

3) Die Stärke organisierter reformfeindlicher Interessen hat ebenfalls Auswirkungen auf den Transformationsprozess. Hypothesen:

- Je stärker organisierte Interessen Einfluss auf den Staat nehmen, desto eher werden Reformen verhindert.

- Wenn zu Beginn des Transformationsprozesses Macht etwa durch Privatisierungen an

Teilgruppen abgegeben wird, dann besteht die Gefahr, dass diese Teilgruppen versuchen, weitere Reformen zu verhindern.

4) Art und Weise des politischen Wettbewerbs und die Institutionenordnung haben auch Auswirkungen auf den Transformationsprozess:

Hypothesen:

-Wenn in einem Land Koalitionsregierungen nötig sind, um eine Mehrheit zu sichern, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit für Reformen.

-Wenn eine Regierung stark ist, dann bestehen eher Chancen auf Reformen.

-Je größer der Zeitraum zwischen Beginn des Transformationsprozesses und den ersten einschneidenden Reformen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass kaum oder gar keine richtigen Reformen zustande kommen.

5) Außerdem könnten noch externe Faktoren wie etwa die Möglichkeit eines EU-Beitritts eine Rolle spielen. Diese jedoch auch noch zu untersuchen, würde an dieser Stelle zu weit führen.

Datenquellen:

In dieser Hausarbeit finden überwiegend Daten aus dem Transition Report der European Bank for Reconstruction and Development Verwendung. Ansonsten habe ich Daten aus verschiedenen Büchern verwendet, siehe dazu die Verweise auf die Autoren und die Literaturliste. Einige der Quellen stammen auch aus dem Internet.

Fallauswahl:

Eine gute Möglichkeit zur Prüfung dieser Hypothesen stellt ein Ländervergleich zwischen zwei Transformationsländern dar. Diese sollten sich auf der Ebene der abhängigen Variablen, also hier dem tatsächlichen Erfolg ihrer Reformen, möglichst deutlich unterscheiden, um überhaupt einen sinnvollen Vergleich zu erlauben. Gleichzeitig sollten die Ausgangsbedingungen beider Länder zu Beginn des Transformationsprozesses möglichst homogen in Bezug auf mögliche Störfaktoren wie die geographische Lage, den Zeitpunkt des Beginns der Transformation, ethnische Konflikte, vortransitive Wirtschaftsstruktur und ähnliches sein. Aus diesen Gründen bietet es sich hier an, zwei Länder der ehemaligen Sowjetunion für diesen Vergleich auszuwählen. Ich habe mich hier für Estland und die Ukraine entschieden. Beide liegen im selben geographischen Raum und sind Nachbarn. Estland gilt gemeinhin als einer der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, der die meisten Fortschritte durch Reformen erreichen konnte und als einziges ehemaliges Sowjetland in der ersten Welle der Beitrittskandidaten für eine EU-Mitgliedschaft dabei ist. Davon kann im Fall der Ukraine nicht die Rede sein, die schon beinahe als Synonym für Reformunfähigkeit genannt wird. Ziel dieser Hausarbeit ist es nun, auszuleuchten, warum Reformen in Estland gelingen konnten und in der Ukraine nicht. Belegen lassen sich die Unterschiede im Reformprozess zwischen den beiden Staaten mit Hilfe der Indizes des Transition Reports: Für Fortschritte in wichtigen wirtschaftlichen Bereichen wie den Grad der Privatisierung von großen und kleinen Unternehmen oder den Grad der Preisliberalisierungen wurden Noten von 1 für kaum entwickelt bis 4+ für annähernd das Niveau eines westlichen Industriestaats vergeben. Im Jahr 1999 erreichte Estland im Mittel aller Indizes einen Wert von ca. 3,5, die Ukraine erreichte lediglich einen Wert von 2,3. Estland liegt damit zusammen mit Ungarn, Polen und der Tschechei in der Spitzengruppe der Transformationsländer, die Ukraine liegt noch hinter Russland im hinteren Mittelfeld. Damit sollte klar sein, dass sich beide Länder in der abhängigen Variablen, also ihren Reformfortschritten, deutlich unterscheiden. Eine nähere Untersuchung sollte also Rückschlüsse darüber zulassen, welche Faktoren wie auf die abhängige Variable eingewirkt haben.

Empirische Analyse:

1) Die Rolle der politischen und wirtschaftlichen Eliten in Estland und der Ukraine

Zu prüfende Hypothesen:

a) Wenn es in einem Land zu Beginn des Transformationsprozesses zu einem Regierungswechsel zuungunsten der bislang regierenden Kommunisten kommt, dann werden Reformen schneller und in größerem Umfang durchgeführt.

b) Je höher der Anteil der Vertreter der alten Nomenklatur in Schlüsselpositionen aus Politik, Wirtschaft und Administration, desto weniger kommt es zu grundlegenden Reformen.

a) Diese Hypothese bestätigt sich am Beispiel der Staaten Estland und Ukraine. Während es in Estland unter der Mitte-Links-Koalition des Premiers Tiit Vahi schon im Juni 1992 zu entscheidenden Reformmaßnahmen kam, fanden in der Ukraine erst unter dem neugewählten Präsidenten Kutchma im November 1994 die wichtigsten Reformen statt. In Estland starteten die wichtigsten Reformen damit bereits vor der Einführung einer eigenen Verfassung und den ersten damit verbundenen Wahlen. Nach den Wahlen von 1990 kam eine technokratisch und national ausgerichtete Koalition unter Premier Savisaar an die Macht. Viele ihrer Führungskräfte entstammten der alten kommunistischen Partei. 1990 -91 führte diese Koalition nach und nach eine Reihe wichtiger Reformen durch. Nachdem es jedoch Anfang 1992 aufgrund der Preisliberalisierung in Russland zu einem Inflationsschub auch in den baltischen Staaten kam, musste Savisaar zurücktreten. Der Reformer Vahi wurde Premierminister und setzte im Juni 1992, drei Monate vor den Wahlen, ein großes Reformpaket durch. In der Ukraine fanden während der dreijährigen Präsidentschaft des ehemaligen KPdSU- Funktionärs Leonid Krawtschuk als erstem postkommunistischen Präsidenten trotz anders lautender Ankündigungen keine entscheidenden Wirtschaftsreformen statt. Stattdessen fand eine Konzentration der Politik auf die gerade erreichte Nationengründung und die Wahrung des Friedens zwischen den verschiedenen Ethnien statt, Wirtschaftspolitik war zweitrangig. Wechselnde Premiers arbeiteten teilweise mit völlig unterschiedlichen Wirtschaftskonzepten, mal marktwirtschaftlich, mal mehr planwirtschaftlich ausgerichtet. Dies änderte sich erst nach der Wahl von Leonid Kutschma zum zweiten Präsidenten des Landes im Sommer 1994 (Wittkowsky 1997: 74). Im November 1994, vier Monate nach der Wahl, stellte der Präsident ein Reformpaket vor, das er gegen viele Widerstände in Parlament und Regierung weitgehend durchsetzte. Die von Postkommunisten regierte Ukraine benötigte damit 2,5 Jahre länger für einen entscheidenden Reformschritt als Estland, in dem früh Reformkräfte an die Macht gekommen waren. Es scheint also ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Faktoren zu bestehen.

b) Das Beispiel Estlands widerlegt diese Hypothese, da hier nach Lage der Daten gleichzeitig eine hohe Reproduktion der Eliten stattgefunden hat, die Reformprozesse aber trotzdem weit fortgeschritten sind. Im Gegensatz dazu scheint die Ukraine die Hypothese zu bestätigen. Um das Konstrukt „Anteil der Vertreter der alten Nomenklatur in Schlüsselpositionen aus Politik, Wirtschaft und Administration“ erfolgreich zu operationalisieren, sind genaue Daten über die Entwicklung der Eliten während des Transformationsprozesses notwendig. Leider liegen mir diese Daten nur für Estland vor. Ich werde aber trotz teils ungenauen, normativen Materialien einen Vergleich versuchen. Die Ausgangsbedingungen für mögliche Veränderungen im Elitengefüge durch den Transformationsprozess sind in beiden Ländern relativ ähnlich. Als Estland und die Ukraine noch der Sowjetunion angehörten, konnten sich aufgrund des zentralistischen Staatsaufbaus kaum eigenständige regionale Eliten herausbilden, und diese waren zusätzlich noch stark von den russischen Minderheiten in beiden Ländern durchdrungen, während gleichzeitig Esten und Ukrainer nach Moskau abwanderten und in das sowjetische System integriert wurden, in dem eine Mitgliedschaft in der KPdSU obligatorisch schien (Wittkowsky 1997). Dies änderte sich durch Unabhängigkeit und Renationalisierung Anfang der 90er Jahre. In Estland wurde versucht, ein Elitensystem zu etablieren, welches den Bruch mit der Vergangenheit symbolisiert und die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in den Eliten widerspiegelt (Steen 1997:150). Dies hatte auch zum Ziel, sich dem russischen Einfluss in jeder Hinsicht endgültig zu entziehen. Verwirklicht wurde dies über das estnische Staatsbürgerschaftsrecht: Bedingung für den Erhalt der estnischen Staatsbürgerschaft war eine nachweisliche estnische Abstammung vor dem Krieg und die Beherrschung der estnischen Sprache. In baltischen Sowjetrepubliken war die Amtssprache russisch gewesen. Viele Russischstämmige, auch aus den Eliten sprachen das Estnische nicht und scheiterten oft an dieser Hürde zur Erlangung der estnischen Staatsbürgerschaft. Schon allein dadurch wurden Teile der Nomenklatur Estlands verdrängt.

Als Indikator für den Anteil der Vertreter der Nomenklatur in den heutigen Eliten kann der Anteil der früheren KP-Mitglieder verwendet werden. Steen (1997:154) fasst diesen in einer Tabelle zusammen:

Frühere Mitgliedschaft der heutigen Eliten in der KPdSU:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ein anderer Indikator ist die Anzahl der Mitglieder der Nomenklatur, die den Wechsel unbeschadet überstanden haben. Steen (1997:157) untersucht in diesem Zusammenhang die frühere Tätigkeit der heutigen Eliten im Baltikum. In Estland hatten demnach 98 %(!) der Eliten bereits zu Sowjetzeiten ein Amt in einer Führungsposition oder dem höheren Management inne, nur 2% sind ehemalige Fabrikarbeiter oder aus den unteren Managementebenen. Da Estland eines der Länder mit den größten Erfolgen im Reformprozess ist (s.o.), wird die Hypothese, dass ein hoher Anteil von Vertretern der Nomenklatur in Schlüsselpositionen negative Auswirkungen auf Reformen hat, anhand dieser Zahlen am Beispiel Estlands eindeutig widerlegt. Allerdings sollte noch hinzugefügt werden, dass die Reproduktionsmöglichkeiten der Nomenklatur im wirtschaftlichen Bereich wesentlich besser waren als im für den Reformprozess vermutlich wichtigeren politischen Bereich (siehe Tabelle). Außerdem setzt sich die heutige Elite Estlands kaum aus der Top-Elite der Sowjetzeit, sondern eher aus der jüngeren Nachfolger- generation zusammen, die ihre Karriere in der Sowjetzeit begann, aber politisch nicht so vorbelastet und ideologisch flexibel ist (Steen 1997:165).

Leider liegen mir im Fall der Ukraine keine vergleichbaren Zahlen vor.

Die Zusammensetzung der Eliten in der Ukraine beschreibt Semivolos (1993) folgendermaßen: „...there was and still exits a nomenclature clan which controls the activity of all the institutions of power: political, state and economic ... Totalitarianism fell, but islands of post-communist authoritarianism survived. In the provinces and in the centre the same leaders remained with their established system of mutual support and pressure…” (Zitat nach Kopylov:188). Wenn von Eliten in der Ukraine die Rede ist, taucht häufig der etwas schwammige Begriff “Partei der Macht“ auf. Damit ist nach einer Definition von Andrew Wilson und Walentin Jakuschik ein „monolithischer politischer Block gemeint, der sich aus den pragmatisch orientierten und deideologisierten oberen Rängen des alten Establishments, Repräsentanten des Staatsapparats, der Massenmedien und der Manager der in den traditionellen Sektoren von Industrie und Landwirtschaft zusammensetzt.“ (Zitat nach Wittkowsky 1997:95). Es wird davon ausgegangen, dass die „Partei der Macht“ nicht an Reformen interessiert ist, da diese den Status quo gefährden, von dem die Rentiers der Nomenklatur profitieren. Die Existenz einer derartigen Gruppierung ist allerdings unbewiesen. Leider konnte ich keine empirischen Statistiken über die Zusammensetzung der ukrainischen Eliten finden. Allerdings gaben bei einer Umfrage 1994 73% der Ukrainer an, dass ihrer Meinung nach faktisch genau die gleichen Leute an der Macht wären wie vor 1991. Auch waren fast alle Personen, die in den letzten zehn Jahren entscheidende Regierungsverantwortung hatten, früher Mitglied der KPdSU. Es gibt also zahlreiche Hinweise darauf, dass sich diese Hypothese am Beispiel der Ukraine bestätigt, auch wenn dies hier empirisch nicht belegt werden kann.

2) Die Bedeutung des gesellschaftlichen Konsensus für den Transformationsprozess

Hypothese:

Je höher die Sympathien in der Bevölkerung für reformfeindliche Parteien in der postkommunistischen Phase, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass keine Reformen zustande kommen.

Diese Hypothese bestätigt sich am Beispiel der Länder Ukraine und Estland. Während die Postkommunisten in der Parteienlandschaft Estlands kaum eine Rolle spielen, stellen sie in der Ukraine einen wichtigen Machtfaktor dar.

Als Indikator für die Unterstützung einer politischen Richtung in der Bevölkerung können die Wahlergebnisse vor allem in den ersten postkommunistischen Wahlen, aber auch in späteren Wahlen dienen. In Estland schafften in den ersten Wahlen nach der neuen Verfassung 1992 bereits keine ausgewiesenen kommunistischen Parteien mehr den Sprung ins Parlament. Ein links-alternatives Wahlbündnis erreichte gerade einmal 1,6% der Stimmen. Statt dessen gewann die konservative vaterländische Union den ersten Wahlkampf. Auch bei den Wahlen 1995 und 1998 spielen kommunistische Parteien eine Nebenrolle. Das Parteiensystem Estlands besteht nach der Wahl 1999 aus vier großen gemäßigten Parteien, der Estonian Centre Party, der konservativen vaterländischen Union, der liberalen Reformpartei und den sozialdemokratischen „Moderats“. Außerdem gibt es noch zwei kleine Parteien mit Sitzen im Parlament, eine Partei der Landwirte und eine der russischen Minderheit im Land. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass ehemalige KPdSU-Mitglieder in der Parteienlandschaft heute keine Rolle mehr spielen würden. Von den heutigen Mitgliedern des estnischen Parlaments entstammen 24% der KPdSU (Steen 1997). Nach deren Auflösung in Estland traten sie anderen Parteien bei. Unübersichtlicher gestaltete sich die Wahl zu ersten Werchowna Rada i n der Ukraine, die sich aus 14 Parteien zusammensetzte. Die nach dem Verbot der KPdSU neu formierte KPU erreichte zwar nur 13% der Stimmen, erhielt aufgrund des Wahlrechts aber 23% der Sitze des Parlaments und wurde damit stärkste Kraft. Da die Werchowna Rada bei der Regierungsbildung mitwirkt, hatte dies vermutlich gravierende Auswirkungen auf die Bildung einer Reformregierung. Während der drei Jahre andauernden Präsidentschaft Leonid Krawtschuks attackierten viele Kommunisten und Sozialisten die „Schocktherapie“ der Regierung, obwohl es tatsächlich weder radikale noch graduelle Reformen gab, weil die meisten Politiker auf ideologischer Ebene an sowjetischen Planfeststellungen festhielten (Wittkowsky 1997). Dies änderte sich erst unter der Regierung Kutschma. Die Hypothese scheint sich also am Beispiel der Länder Ukraine und Estland zu bestätigen. Denkbar wären jedoch auch noch alternative Hypothesen: In der Ukraine wurden viele Abgeordnete mit spezieller regionaler Ausrichtung gewählt, die oft nur die Interessen von einzelnen ethnischen Gruppen oder etwa Industriekombinaten vertraten (Kuzio 1998). Da diese meist nicht an eine Partei gebundenen freien Abgeordneten fast 50% des Parlaments ausmachten, könnte dieser Faktor wesentlich zur Destabilisierung und zur Verhinderung von Reformen beigetragen haben.

3) Zur Rolle organisierter reformfeindlicher Interessen

Hypothesen:

a) Je stärker organisierte Interessen Einfluss auf den Staat nehmen, desto eher werden Reformen verhindert.

b) Wenn zu Beginn des Transformationsprozesses Macht etwa durch Privatisierungen an

Teilgruppen abgegeben wird, dann besteht die Gefahr, dass diese Teilgruppen versuchen, weitere Reformen zu verhindern.

a) Zwar lässt sich diese Hypothese nicht eindeutig beweisen, jedoch legt ein Vergleich zwischen der Ukraine und Estland die Vermutung nahe, dass sie zutrifft, da die Eingriffsmöglichkeiten für reformfeindliche Gruppierungen in der Ukraine nach den Daten zu urteilen, wesentlich besser sind.

Denkbare Indikatoren für die Frage, inwieweit Einflußnahmen der Wirtschaft auf den Staat

vorhanden sind, finden sich im Transition Report der EBRD. Für diese Hypothese kommen

folgende Indikatoren in Frage: die Rate der Firmen, die Bestechungsgelder zahlen, der Anteil der

Firmen, die aussagen, dass die Käuflichkeit von Regierungs -und Parlamentsentscheidungen

Auswirkungen auf ihr Geschäft hat und die Zeit, die Vorstände von Firmen durchschnittlich mit Inhabern öffentlicher Ämter verbringen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Rate der Firmen, die angeben, Bestechungsgelder zu zahlen, liegt laut Transition Report in Estland bei 12,9%, in der Ukraine bei 35,3% (siehe Schaubild). Bei der Anzahl der Firmen, die bei der Befragung angaben, dass die Bestechlichkeit von Regierungs- und Parlamentsentscheidungen Auswirkungen auf ihre Geschäfte hätte, sind die Differenzen noch größer (siehe Schaubild 2). 51% der ukrainischen Geschäftsleute stimmten dem zu, bei den estnischen Befragten waren es nur 17%. In der Ukraine verbringt ein Angestellter des höheren Managements durchschnittlich ca. 18% seiner Zeit in Geschäftsverhandlungem mit Inhabern öffentlicher Ämter, in Estland sind es nur etwa 8%. Diese Zahlen weisen zwar keinesfalls unmittelbar nach, dass es etwa einen direkten Zusammenhang zwischen Bestechlichkeit und Reformunfähigkeit gibt, jedoch wird klar, dass es in der Ukraine eine viel engere Verzahnung zwischen politischen Entscheidungsträgern und wirtschaftlichen Subjekten als in Estland gibt. Damit sind für „rent-seeking-groups“ und Vertreter der alten Nomenklatura, die nun in Schlüsselpositionen der Wirtschaft sind und kein Interesse an Reformen haben, gute Möglichkeiten gegeben, in politische Entscheidungen einzugreifen und den Reformprozess zu stören. Da eine konsequente Reformpolitik durch die erforderlichen Umstrukturierungen die Existenzgrundlage derjenigen Unternehmen der Neuen Ökonomischen Eliten gefährden würde, die ein symbiotisches, mitunter parasitäres Dasein mit den Staatsunternehmen führten, hatten diese Grund, Reformen zu verhindern (Wittkowsky 1997). Diese Hypothese ist zwar hiermit nicht bewiesen, jedoch liegt die Vermutung nahe, dass sie richtig ist.

b) Diese Hypothese lässt sich am Beispiel dieser beiden Länder nicht eindeutig belegen, da mir entsprechende Daten fehlen. Die Hypothese scheint sich aber tendenziell zu bestätigen. Ein eindeutiger Indikator für diesen Zusammenhang lässt sich kaum bilden. Ein Vergleich der Privatisierungsmodelle beider Länder lässt aber einige Schlüsse zu. Estland folgte dabei in weiten Teilen dem deutschen Treuhandmodell, das der Privatisierungsbehörde großen Spielraum und weitgehende Autonomie einräumt. Privatisiert wurde auf öffentlichen Auktionen und mit Hilfe von „Voucher-schemes“(www.eaa.ee). Estland war mit seiner Privatisierungspolitik sehr erfolgreich, bereits 1995 bekam Estland im Transition Report der EBRD sowohl für large-scale- privatization als auch für small-scale-privatisation die Note vier. Der Anteil der Privatwirtschaft am BIP betrug in Estland 1999 bereits 75%.

Anders stellt sich die Situation in der Ukraine dar. Die Privatisierungen kamen in den Jahren 1992-1993 trotz entsprechender Gesetze nur sehr schleppend voran. Trotz anderer Pläne wurden unter der Regierung Fokin von den geschätzten 10 000 Mittel- und Großbetrieben und 100 000

Kleinbetrieben lediglich 68 privatisiert (Wittkowsky 1997). Statt dessen bereicherte sich das aus der alten Nomenklatur stammende Management vieler Betriebe durch die geschickte Konstruktion sogenannter Mehrwert-Abschöpfender-Firmen (MAFs), die eine parasitäre Koexistenz zu Staatsunternehmen führten und Gewinne dadurch erwirtschafteten, dass sie den weiterhin subventionierten und von demselben Management verwalteten Staatsunternehmen Dienstleistungen zu überhöhten Preisen anboten oder als Zwischenhändler für die Waren der Staatsunternehmen fungierten und dabei beträchtliche Gewinne abschöpften. Dadurch gelangten ähnlich wie in Russland bestimmte Clans und Oligarchen zu viel Reichtum und Einfluss, mit dem sie auch in der Politik mitmischten. So werden etwa bis heute einzelne Parlamentsfraktionen von Clans aus der Nomenklatur dominiert. Die Vermutung liegt nahe, dass diese „rent-seeking- groups“ ihren Einfluss einsetzten, um mögliche systemverändernde Reformen abzuwehren. Als dann Präsident Kuchma 1994-1995 in einem zweiten Anlauf versuchte, eine Privatisierung mit Hilfe von „voucher-schemes“ durchzuführen, wurde dies vom Parlament verhindert. Danach beschleunigte sich der Privatisierungsprozess, allerdings wurde nur eine Minderheit der Firmen auf dem offenen Markt verkauft, die große Mehrheit der bislang durchgeführten Privatisierungen erfolgte durch Aufkäufe der Betriebe durch das eigene Management. 1995 bekam die Ukraine in der Bewertung der Privatisierungserfolge im Transition Report der EBRD sowohl für large- scale-privatization als auch für small-scale-privatization die Note 2, die für einen relativ geringen Fortschritt steht. Auch 1999 erreichte die Ukraine lediglich die Werte 2,3 bzw. 3,3. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es eindeutige Hinweise darauf gibt, dass durch eine schnelle und unabhängige Privatisierung wie in Estland „rent-seeking-groups“ weniger Macht und Möglichkeiten zur Einflussnahme auf den Reformprozess gegeben wird. Die Hypothese scheint sich hier also zu bestätigen.

4) Zum Einfluss des politischen Wettbewerbs und der Institutionenordnung auf den Reformprozess

Hypothesen:

a) Wenn eine Regierung stark ist, dann bestehen eher Chancen auf Reformen.

b) Wenn in einem Land Koalitionsregierungen nötig sind, um eine Mehrheit zu sichern, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit für Reformen.

c) Je größer der Zeitraum zwischen Beginn des Transformationsprozesses und den ersten einschneidenden Reformen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass kaum oder gar keine richtigen Reformen zustande kommen.

a) Diese Hypothese wird am Beispiel dieses Ländervergleichs widerlegt. Estland hat nach einem Index der EBRD eine schwächere Exekutive als die Ukraine, ist jedoch im Reformprozess deutlich weiter.

Zur Operationalisierung dieser Hypothese eignet sich der Executive Power Index des Transition Reports, der die formellen verfassungsmäßigen Rechte der Exekutive in den einzelnen Ländern vergleicht und bewertet. Aussagen über die tatsächliche Stärke einer Exekutive sind damit zwar nicht machbar, diese lässt sich jedoch wohl auch nicht eindeutig messen. Estland, dessen Premierminister als Regierungschef von der Verfassung her eine relativ schwache Rolle hat (Transition Report) erreicht bei einem Wert von 3,4 auf dem Transition Index einen Wert von 9 auf dem Exekutive Power Index. Die Ukraine erreicht die Werte 2,3 und 12,5. Damit ist die Exekutive in der Ukraine etwas stärker als in Estland, auf dem Transition Index, der den Grad der Reformen misst, liegt sie jedoch deutlich hinter Estland. Die Hypothese, dass eine starke Regierung eher Reformen durchsetzt, wird durch diesen Vergleich also widerlegt. Dies wird durch Ergebnisse anderer Länder im Exekutive Power Index bestätigt. Es scheint eher eine umgekehrte Korrelation zu bestehen: Eine schwache Exekutive begünstigt eher den Reformprozess.

b) Auch diese Hypothese wird durch Daten der EBRD am Beispiel der Ukraine und Estlands widerlegt. Estnische Regierungen sind demnach viel stärker auf Koalitionen angewiesen als ukrainische Regierungen, trotzdem ist Estland im Reformprozess deutlich weiter. Die Vermutung liegt nahe, dass Koalitionsregierungen eher zu Konzessionen zu den verschiedenen Partnern gezwungen sind und deshalb weniger Reformen durchsetzen können. Überprüfen lässt sich dies mit dem Koalition Government Index des Transition Reports. Estland erreicht hier einen Wert von 3, was bedeutet, dass estnische Regierungen von drei oder mehr Parteien gebildet werden. Die Ukraine erreicht einen Wert von 1,5. Im Falle der Ukraine steht dies für ein präsidiales System mit wechselnder Unterstützung durch das Parlament. In Estland besteht also ein größerer Koalitionszwang. Aufgrund des besseren Wertes Estlands im Transition Index trifft diese Hypothese auf diese Falluntersuchung nicht zu.

c) Die Hypothese bestätigt sich an diesem Fallbeispiel. Die Ukraine leitete erst wesentlich später wichtige Reformschritte ein als Estland.

Da viele Reformen erst nach und nach durchgeführt werden konnten und damit der genaue Ablauf schwer messbar und vergleichbar wird, ist der Zeitpunkt, an dem das umfassendste Reformpaket verabschiedet wurde als Indikator für die Überprüfung dieser Hypothese geeignet. In Estland wurde ein großes Reformpaket unter Premier Tiit Vahi im Juni 1992 verabschiedet, in der Ukraine gelang dieser Schritt erst unter Präsident Kuchma im November 1994, erst 2 ½ Jahre später. Diese Hypothese bestätigt sich also an diesem Fallbeispiel.

Zusammenfassung/Schlussfolgerungen:

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die meisten der im Hypothesenteil formulierten Hypothesen an diesem Fallbeispiel bestätigt haben. Auf die Frage, welche Faktoren für einen erfolgreichen Reformprozess von Bedeutung sind und infolgedessen warum Estland trotz weitgehend homogener Ausgangsbedingungen in vielen Bereichen wesentlich weiter im Reformprozess ist als die Ukraine, lassen sich nun einige Antworten geben. Offensichtlich scheint ein früher Regierungswechsel zu den Reformkräften, wie er in Estland stattfand, für Reformen von Vorteil zu sein. Klar wird auch, dass die Unterstützung der Reformer durch das (Wahl-) Volk von Bedeutung ist. In der Ukraine mit dem meist reformfeindlichen, kommunistisch dominierten Parlament stellt sich die Volksvertretung eher als Hindernis im Reformprozess dar als in Estland. Von großer Bedeutung sind sicher auch die Möglichkeiten der Einflussnahme der von alten Kadern dominierten Wirtschaft auf politische Entscheidungen, die in der Ukraine in sehr viel höherem Maße nachgewiesen werden konnten als in Estland. Vermutungen, dass etwa die Stärke der Exekutive oder die Alleinregierung einer Partei eine positive Korrelation mit dem Grad des Reformerfolg aufweisen würden, haben sich nicht bestätigt. Erstaunlicherweise scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Dies zu erklären, wäre eine interessante weiterführende Fragestellung.

Unklar bleibt die Rolle der Eliten im Transformationsprozess. Während am Beispiel der Ukraine alles darauf hindeutet, dass große Teile der aus den Nomenklatur stammenden Eliten kein Interesse an Reformen haben, gilt dies nicht für Estland. Obwohl sich auch hier große Teile der Eliten aus den sowjetischen Eliten rekrutiert haben, scheint sich dies nicht negativ auf den Reformprozess ausgewirkt zu haben. Eine Kategorisierung der Eliten nach ihrer Rolle in der Sowjetzeit erscheint also in diesem Zusammenhang keinen Sinn zu ergeben. Eine alternative Erklärung für die unterschiedliche Elitenstruktur und das veränderte Elitenverhalten in beiden Ländern zu finden, wäre eine weitere offene Forschungsfrage. Dass Elitenstrukturen keinen Einfluss auf den Reformprozess haben, erscheint ziemlich unwahrscheinlich. Ähnliches gilt für den Zusammenhang Privatisierung und Reformen. Ein eindeutiger Mechanismus ist hier nicht zu erkennen, auch wenn viele Hinweise auf eine Korrelation vorhanden sind. Dies könnte noch im Detail untersucht werden.

Zwei Faktoren werden aus dieser Untersuchung ganz ausgeklammert, obwohl auch hier eindeutig ein Zusammenhang mit dem Reformprozess bestehen dürfte. Zum einen sind das mögliche Störfaktoren, die aus unterschiedlichen Ausgangsbedingungen beider Länder resultieren. Zwar sind beide Länder aufgrund ihrer vormaligen Zugehörigkeit zur UdSSR in weiten Bereichen durchaus vergleichbar, trotzdem können Faktoren wie die unterschiedliche ethnische Zusammensetzung der Länder, ihre vortransitive Wirtschaftsstruktur oder schlicht die unterschiedliche Größe in Bezug auf Territorium und Bevölkerung erhebliche Auswirkungen auf das Reformgeschehen haben. Um wirklich gültige Aussagen über die Mechanismen des Reformprozesses machen zu können, müssten diese Störfaktoren ebenfalls untersucht werden. Andererseits werden auch die Beziehungen zu anderen Ländern oder Institutionen wie der Europäischen Union hier nicht weiter untersucht. Auch hier gilt, dass etwa die Aussicht auf einen EU-Beitritt durchaus zu verschärften Maßnahmen in der Reformpolitik führen könnte. Auch die Mitgliedschaft in anderen internationalen (Handels-) Organisationen oder eventuelle Auflagen des internationalen Währungsfonds könnten eine Rolle spielen, die noch zu untersuchen wäre.

Literaturliste:

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Wittkowsky, A., 1997: Fünf Jahre ohne Plan: Die Ukraine 1991-96. Hamburg: LIT Verlag.

Fin de l'extrait de 13 pages

Résumé des informations

Titre
Ländervergleich: Transformationsprozesse in Estland und der Ukraine
Université
University of Constance
Cours
Die politische und ökonomische Transformation in Osteuropa
Note
1,3
Auteur
Année
2000
Pages
13
N° de catalogue
V105337
ISBN (ebook)
9783640036325
Taille d'un fichier
452 KB
Langue
allemand
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Mots clés
Ländervergleich, Transformationsprozesse, Estland, Ukraine, Transformation, Osteuropa
Citation du texte
Matthias Holzner (Auteur), 2000, Ländervergleich: Transformationsprozesse in Estland und der Ukraine, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/105337

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