Unmenschliche Herrenmenschen. Deutscher Überfall auf die Sowjetunion vor 50 Jahren


Essai, 1991

5 Pages


Extrait


[SU_ÜBF/ 7.3.91]

Walter Grode

UNMENSCHLICHE HERRENMENSCHEN

Deutscher Überfall auf die Sowjetunion vor 50 Jahren

[Erschienen in: >Lutherische Monatshefte< , Heft 6/1991]

Obwohl am 22. Juni - dem Tag des deutschen Einmarsches - bereits ein halbes Jahrhundert vergangen sein wird, so wirft die Erinnerung an die Jahre der deutschen Okkupation nach wie vor tiefe Schatten auf das deutsch-sowjetische Verhältnis. Dies gilt auch für den deutschen Teil, denn hierdurch werden wir an eine Seite unserer Vergangenheit erinnert, von der wir nicht sicher sein können, ob wir sie ein für allemal überwunden haben: an unsere Haltung gegenüber den "Fremdvölkischen im Osten", an die zynische Besatzer-Attitüde des "Wir nehmen uns, was uns zusteht!"

Ist es nicht gerade auch diese Herren-Pose, in der wir auch weiterhin Menschen (insbesondere in und aus uns fremden Kulturen) und Natur (auch unserer eigenen) gegenüberstehen? Ist nicht diese Haltung des Unterwerfens, geradezu die Voraussetzung unserer modernen westlichen Lebensweise?

Der "Wahn vom Ostimperium"

Über die Notwendigkeit, "Lebenraum im Osten" durch die Niederwerfung Rußlands zu erobern, hatte Hitler schon in "Mein Kampf" lange Ausführungen gemacht. Er griff damit ältere ostexpansive Zielsetzungen des Kaiserreichs auf und vermengte sie mit Antiboschewismus und Rassenideologie. Als nach dem Frankreich-Feldzug im Juni 1940 die Gelegenheit günstig erschien, machten sich die Generale an die Ausarbeitung entsprechender militärischer Pläne.

Das dreifache Ziel war allen Beteiligten von Anfang an klar, auch ohne lange Erklärungen Hitlers: Vernichtung des Bolschewismus, Zertrümmerung des Großrussischen Reiches und Erwerb von Kolonialland zu Siedlungszwecken und zur wirtschaftlichen Ausbeutung.

Auch der militärische Auftrag schien zunächst einfach zu sein. Als Gegner wurde die Rote Armee nicht ernstgenommen. Daher glaubte man auch, im besetzten Rußland freie Hand zu haben, um das Land nach den Bedürfnissen der Wehrmacht und der Kriegswirtschaft "ausschlachten" zu können, ohne Rücksicht auf die Bevölkerung oder auf völkerrechtliche Verpflichtungen.

Hitler brauchte hier nur zu "ermutigen". Er stellte die ökonomischen Ziele in den Vordergrund und beauftragte mit der Durchführung den militärischen "Wirtschaftsstab Ost", in dem Offiziere und Industrievertreter zusammenarbeiteten. Doch um diese Ziele durchzusetzen, konnten die Deutschen nicht als "Befreier" auftreten. Durch rücksichtslose Gewaltanwendung sollten Angst und Schrecken verbreitet werden, damit man mit relativ geringen Kräften das riesige Land beherrschen konnte. Daher Hitlers Anweisung, die Rotarmisten nicht als "Kameraden" zu betrachten und einen erbarmungslosen Vernichtungskrieg zu führen.

Die wichtigste Begründung für den Eroberungs- und Vernichtungskrieg lieferte Herbert Backe. Der Staatssekretär im Ernährungsministerium hatte bereits im Frühjahr 1941 für die "Gruppe Landwirtschaft" im oben erwähnten "Wirtschaftsstab Ost" ein umfassendes Programm entwickelt, um aus Rußland soviel Lebensmittel herauszuholen wie möglich und damit die Nöte im Reich zu beseitigen. Denn auf neuerliche Rationskürzungen hatte die deutsche Bevölkerung schon mit Unmut und Sorge reagiert. Hitler fand damit bestätigt, was er seit Jahren immer wieder behauptet hatte: daß er unbedingt die Ukraine brauche, damit man Deutschland nicht noch einmal wie im Ersten Weltkrieg durch die Blockade aushungern könne.

Und Backe lieferte die scheinbar sachliche Rechtfertigung für Hitlers Vernichtungspläne. Wollte man aus Rußland kurzfristig Überschüsse herausholen, dann mußten der einheimische Verbrauch auf ein Minimum gedrückt und "überflüssige Esser" von der Versorgung ausgeschlossen werden. Dieses Vorgehen wurde als erster Schritt der geplanten wirtschaftlichen "Neuordnung" verstanden, der sich gegen die Arbeiterschaft und die Großstädte richtete, für die im künftigen deutschen Ostimperium kein Platz sein sollte.

So erklärt sich auch Hitlers Direktive, die Millionenstädte Leningrad und Moskau nicht zu besetzen, sondern "auszuradieren" und auszuhungern, damit man die Bevölkerung nicht miternähren mußte. Denn - so hieß es in einer Besprechung der zuständigen Staatssekretäre und Generale am 2. Mai 1941: "Der Krieg ist nur weiterzuführen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Rußland ernährt wird. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird."

Doch gehörte das Massensterben der sowjetischen Bevölkerung nicht nur zum Kalkül der militärischen Besatzungsbehörden. Es bildete zugleich den Ausgangspunkt für den "Generalplan Ost". Dabei handelte es sich um ein detailliertes Dreißig-Jahres-Programm zur Besiedlung der künftigen Ostkolonien, zur "Germanisierung" des Raumes zwischen Weichsel und Ural. Diese Vorlage aus Himmlers Planungsamt billigte der sowjetischen Bevöl-kerung nur noch den Status von Sklavenarbeitern im Dienste der "germanischen Wehrbauern" zu. Ihre Zahl sollte zunächst um 31 Millionen Menschen verringert werden. 14 Millionen "Gutrassige", die vorerst als Arbeitskräfte gebraucht wurden, sollten in Reservaten gehalten und allmählich abgeschoben werden; ein gigantischer Völkermord in den der Holcaust an den Juden eingebettet war.

Ähnliches galt für die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen. Sie waren letztlich nur Ballast, größtenteils unbrauchbares "Menschenmaterial", die man auf den Transporten und in primitiven Lagern verkommen und verhungern ließ. Hunderttausende wurden aus politischen und rassischen Gründen ausgesondert und liquidiert, Unzählige teils auf den Straßen und in den Dörfern erschlagen oder erschossen, weil sie vor Erschöpfung nicht weitermarschieren konnten oder auch nur den Anflug von Widerspruch zeigten.

Denn die "Eingeborenen", also die slawische Bevölkerung, sollten auch in der "Friedenszukunft" auf möglichst niedrigem Kulturniveau dahinvegetieren und ihre Zahl entsprechend den Siedlungsfortschritten dezimiert werden: Aus aller Welt sollten "arische" Siedler herbeiholt werden, um diesen "wilden Osten" zu germanisieren.

Die "Heimatfront"

Für Hitler stand mit dem "Lebensraumkrieg" viel auf dem Spiel. Denn es ging ja nicht nur um vage Zukunftsideen, die notfalls zurückgestellt werden konnten, sondern auch um die Lösung drängender Probleme des NS-Staates. Durch die rasante Aufrüstung der dreißiger Jahre hatten sich die inneren sozialen und ökonomischen Spannungen erheblich verschärft.

Die Kosten von Rüstung und Krieg waren durch die Notenpresse finanziert worden, die Währung schon 1941 weithin zerrüttet. Da man der eigenen Bevölkerung die Kriegslasten möglichst ersparen wollte, mußte die Ausplünderung fremder Gebiete die Kassen des Reiches wieder füllen und der Industrie die dringend benötigten Ressourcen zuführen. Vom "größten Amortisationsplan der bisherigen Wirtschaftsgeschichte" sprach man in Bankkreisen.

Der Mittelstand, wichtigste soziale Basis des Nationalsozialismus, war im Kriegsalltag durch die Stillegung von Klein- und Mittelbetrieben und andere Einschränkungen hart betroffen und pochte auf die Erfüllung der versprochenen Wohltaten. Nach den Meldungen des Sicherheitsdienstes gab es bereits im Mai 1941 offenen Protest und die Drohung, künftig zusätzliche Anstrengungen zu verweigern. Auch dem Arbeiter versuchte die NSDAP diesen Eroberungskrieg schmackhaft zu machen. In zahlreichen Broschüren und Vorträgen wurde ihm die Perspektive eines Aufstiegs "Vom Proleten zum Herrn" angeboten. Wohnungsbauprogramme, eine Verbesserung der Sozialversicherung und der Lohnordnung, das waren Entwürfe, die auf Hitlers Weisung in den Schubladen bereitlagen, um nach dem Endsieg auch den Arbeiter an der Kriegsbeute teilhaben zu lassen.

Doch führten der schwere Kriegsalltag an der Front und in der Heimat rasch zu einer Verdrängung der Kriegszieldiskussion, und die Propaganda hielt es für klüger, nur noch die "Gefahr aus dem Osten" an die Wand zu malen.

Die "Untermenschen"- und Siedlungspropaganda, die kräftige Ausmalung des Feindbildes hatten zumindest eines erreicht: Die menschliche Begegnung zwischen Deutschen und Russen war kaum noch möglich. Ganz im Gegenteil: Im rückwärtigen Raum, wo ein erbarmungsloser Partisanenkrieg tobte, fielen die Einwohner ganze Ortschaften hemmungslosen Rachefeldzügen deutscher Soldaten zum Opfer.

Und es übersteigt in der Tat unser Fassungsvermögen, daß deutsche Soldaten und Polizisten während des Raub-, Eroberungs- und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion Säuglinge zerschmettert und bajonettiert oder russische Menschen am lebendigen Leibe verstümmelt haben sollen.

"Herrenmenschen" und Sklavenvölker

Gemessen hieran wirkten Herrenmenschen-Allüren und Korruption der Besatzungsorgane geradezu human. Doch sollte uns dieses Verhalten und was seine Spuren angeht, eher noch mehr zu denken geben: Einheimische wurden - ob Bauer oder Professor - generell geduzt. Sie selber empfanden sich als "die weißen Neger der Deutschen". Auch die sowjetischen Staatsangehörigen, die als Kriegsgefangene, sogenannte Ostarbeiter und Zwangsarbeiter - darunter eine Mehrzahl von Frauen und Kindern - nach Deutschland geschickt worden waren, erlebten hier an den Werkbänken, auf den Feldern und in den Bergwerken nur selten eine menschliche Behandlung. Sie waren kaum bessergestellt als die Juden. Erst im März 1945 wurden die diskriminierenden Regelungen aufgehoben. Nur dem Umstand, daß die Nazis dringend Arbeitskräfte brauchten, verdanken sie letztlich ihr Überleben.

Wer aber die Folgen dieses Krieges für die deutsche Nation beklagt, sollte die Schuld nicht bei denen suchen, die 1941 das Opfer deutscher Politik wurden und denen das Schicksal zugedacht war, die "weißen Neger" der Deutschen, ja, schließlich vernichtet zu werden. Demgegenüber stellt sich das deutsche Schicksal nach 1945 glückhafter dar als es Graf Stauffenberg, der spätere Attentäter Hitlers, Ende 1942 voraussah: Deutschland sei dabei, "im Osten einen Haß zu säen, der sich einstmals an unseren Kindern rächen werde".

Er irrte. Das deutsche Volk wurde nicht - wie Hitler es im Falle einer Niederlage vorausgesagt hatte - "ausradiert". Den Deutschen begegnet heute in der Sowjetunion weniger Haß, sondern vielmehr Bereitschaft zur Aussöhnung. Wenn wir Deutschen die Erinnerung an die Verbrechen annehmen, werden auch wir fähig zu einem neuen Anfang.

Fin de l'extrait de 5 pages

Résumé des informations

Titre
Unmenschliche Herrenmenschen. Deutscher Überfall auf die Sowjetunion vor 50 Jahren
Auteur
Année
1991
Pages
5
N° de catalogue
V109267
ISBN (ebook)
9783640074488
Taille d'un fichier
424 KB
Langue
allemand
Annotations
Erschienen in: 'Lutherische Monatshefte', Kirche im Dialog mit Kultur, Wissenschaft und Politik, Heft 6: Juni 1991. Aufsatz ohne Sekundärliteratur.
Mots clés
Unmenschliche, Herrenmenschen, Deutscher, Sowjetunion, Jahren
Citation du texte
Dr. phil. Walter Grode (Auteur), 1991, Unmenschliche Herrenmenschen. Deutscher Überfall auf die Sowjetunion vor 50 Jahren, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/109267

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