Die Partei DIE LINKE in Nordrhein-Westfalen

„Radikale Spinner“ auf dem Weg zur geordneten Interessenpartei?


Examensarbeit, 2012

140 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Abkürzungsverzeichnis

II. Tabellenverzeichnis

III. Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Aktualität und Relevanz der Thematik
1.2 Frage- und Problemstellung
1.3 Vorgehensweise und Methodik

2. Theoretisch-analytischer Bezugsrahmen
2.1 Parteientypen und -typologien als Ordnungssystem
2.2 Stellung der Parteien im und zum politischen System
2.2.1 Regierung oder Opposition
2.2.2 Etabliert oder unetabliert
2.2.3 Radikalität und Extremismus
2.2.4 Protest und Populismus
2.3 Struktur- und Organisationsmerkmale der Parteien
2.3.1 Rahmenpartei
2.3.2 Massenintegrationspartei
2.3.3 Volkspartei
2.3.4 Wahl-professionelle Partei
2.4 Ziele und Inhalte der Parteien
2.4.1 Interessen- und Volkspartei
2.4.2 Konservative und reformistische Partei

3. Die Partei DIE LINKE auf Bundesebene
3.1 Expansionsversuche der PDS in die alten Bundesländer nach
3.2 Entstehung der Partei DIE LINKE und erste Erfolge
3.3 Stagnation der Partei DIE LINKE
3.4 Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern
3.4.1 Wahlen und Wählerschaft
3.4.2 Organisationsaufbau und Mitgliederstruktur
3.5 Die Programmdebatte im Lichte der parteiinternen Spannungen
3.5.1 Von Eckpunkten hin zu Grundsätzen
3.5.2 Innerparteiliche Strömungen

4. Politische und soziokulturelle Charakteristika des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen
4.1 Historie
4.2 Bevölkerungsstruktur und Wirtschaft
4.3 Parteiensystem: Sonderstellung der SPD?
4.4 Politisch-kulturelle Traditionslinien

5. Der Landesverband DIE LINKE.NRW
5.1 PDS und WASG vor der Fusion
5.2 Fusionsprozess zur Partei die LINKE.NRW
5.3 Wahlen und Wählerschaft
5.3.1 Kommunalwahlen 2004 und
5.3.2 Landtagswahl
5.3.3 Landtagswahl
5.3.4 Bundestagswahlen 2005 und
5.3.5 Europawahlen 2004 und
5.4 Das Verhältnis zum unmittelbaren politischen Umfeld
5.4.1 Extremistisches Umfeld
5.4.2 Minderheitsregierung 2010 bis
5.4.3 Vergleich: Hessen 2008 und Nordrhein-Westfalen
5.5 Organisationsaufbau und Mitgliederstruktur
5.5.1 Parteiinterne Strömungen
5.5.2 Landtagsfraktion
5.5.3 Organisationsmerkmale
5.6 Programmatik

6. Anwendung des theoretisch-analytischen Bezugsrahmens
6.1 Stellung zum und im politischen System
6.1.1 Opposition und unetabliert
6.1.2 Janusgesichtig: Radikal mit extremistischen Einsprengseln
6.1.3 Politischen Protests und Populismus
6.2 Struktur- und Organisationsmerkmale
6.2.1 Rahmenpartei
6.2.2 Massenintegrationspartei
6.2.3 Volkspartei
6.2.4 Wahl-professionelle Partei
6.3 Ziele und Inhalte

7. Fazit
7.1 Bilanz
7.2 Ausblick

IV. Literatur- und Quellenverzeichnis

V. Anhang

VI. Eidesstattliche Versicherung

I. Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

II. Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Ergebnisse der LINKEN bei der Bundestagswahl 2009 in den Bundesländern in Prozent

Tabelle 2: Ergebnisse und Sitze der PDS, Die Linke.PDS und DIE LINKE in den Bundestagswahlen von 1990 –

Tabelle 3: Ergebnisse der Landtagswahlen seit Gründung der LINKEN in Prozent

Tabelle 4: Soziale Zusammensetzung der Wähler der LINKEN bei der Bundestagswahl 2009 nach Geschlecht, Alter und Konfession in Prozent

Tabelle 5: Soziale Zusammensetzung der Wähler der LINKEN bei der Bundestagswahl 2009 nach Erwerbsstatus, Berufsgruppe und Gewerkschaftszugehörigkeit in Prozent

Tabelle 6: Soziale Zusammensetzung der Wähler der LINKEN bei der Bundestagswahl 2009 nach Schulbildung und Alter in Prozent

Tabelle 7: Mitgliederentwicklung der LINKEN nach Bundesländern

III. Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Darstellung der Ergebnisse der LINKEN in den jeweiligen aktuellen Landtagen

Abbildung 2: Organigramm der Bundespartei DIE LINKE

Abbildung 3: Ergebnisse der Landtagswahlen 2010 in NRW in Prozent

Abbildung 4: Gewinne und Verluste bei den Landtagswahlen 2010 in NRW in Prozent

1. Einleitung

1.1 Aktualität und Relevanz der Thematik

Die Rot-Grüne Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen ist nach knapp zwei Jahren am 14. März 2012 etwas überraschend gescheitert. Der Düsseldorfer Landtag lehnte bei der entscheidenden zweiten Haushaltslesung den Einzelplan für das Innenministerium ab. Neben CDU und FDP verweigerte auch die Fraktion der Partei DIE LINKE ihre Zustimmung und bereitete so indirekt den Weg für Neuwahlen im bevölkerungsreichsten Bundesland (vgl. RP Online 2012a).

Die Chancen nach 2010 erneut in den Düsseldorfer Landtag einzuziehen, stehen dabei nicht sehr gut. In aktuellen Umfragen liegt die Partei, bis knapp vor dem Wahltag, immer unter der 5 % Hürde[1], ihr Landesverband gilt als zerstritten, auf Bundesebene überschatten Führungs- und Personaldebatten den Wahlkampf. Auch der Landtagswahlkampf in Schleswig-Holstein konnte aufgrund der Wahlniederlage, 3,7 % Verlust und ein Endergebnis von 2,3 % am 06. Mai 2012, keine positiven Impulse für DIE LINKE.NRW freisetzen.

„Es [geht] für die Linkspartei bei der NRW-Wahl um nichts weniger als ihre Relevanz in Westdeutschland. Sollten die Linken nach ihrem verpassten Wiedereinzug in den Kieler Landtag auch in Düsseldorf scheitern, stelle sich die Frage, ob die im Osten verwurzelte Partei ihren bundesweiten Anspruch aufrechterhalten könne“ (WAZ 2012a),

sagt Parteienforscher Ulrich von Alemann gegenüber der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung einige Tage vor der für den Landesverband der Partei DIE LINKE zukunftsweisenden Wahl am 13. Mai 2012 in NRW.

Betrachtet man die aktuelle Situation, Ende April 2012, innerhalb der Bundespartei DIE LINKE und erinnert sich an die Hintergründe der Fusion von WASG und PDS, sowie die parteiinterne Hoffnung, dass mit dem Schritt der Fusion die ständige stabile Ausdehnung auf die alten Bundesländer in greifbare Nähe rückt, muss man sich die Fragen stellen: Ist diese Expansion in die alten Bundesländer und damit auf das gesamte Parteiensystem, also der Schritt von der ostdeutschen Regionalpartei hin zur Volkspartei gelungen? Oder sprechen vielmehr die letzten Landtagswahlergebnisse[2] sowie die Mitgliederentwicklung nicht eher für eine Stagnation der Entwicklung? „Seit 2005, seit der Konversion des Oskar Lafontaine, ist die erweiterte Linkspartei leise, aber systematisch in den ehemals sozialdemokratischen Raum eingedrungen – mit dem Ziel, sich dort langfristig festzusetzen“ (Walter 2008: 105), analysiert Franz Walter im Jahr 2008, oder befindet die Partei sich 2012 bereits wieder auf dem unfreiwilligen Rückzug?

Die Öffnung des bundesdeutschen Parteiensystems am linken Rand stellt insbesondere die SPD vor besondere Herausforderungen und lässt für sie verschiedenste Handlungsoptionen zu, die möglicherweise der LINKEN politische Chancen bieten. Bislang wurde eine Zusammenarbeit mit der Partei DIE LINKE vonseiten der SPD auf Bundesebene grundsätzlich ausgeschlossen. Vonseiten der LINKEN wird dies nicht ebenso kategorisch abgelehnt, aber wird bisher immer wieder mit der Forderung nach weitgehenden inhaltlichen Zugeständnissen verbunden. Auf der politischen Ebene der Bundesländer gestalten sich die Beziehungsverhältnisse vielfältiger. Eine einzigartige Konstellation auf Landesebene in der Geschichte der BRD war die fast zwei Jahre währende Rot-Grüne Minderheitsregierung unter der Duldung durch die Fraktion LINKE.NRW im Bundesland Nordrhein-Westfalen.

Letztendlich ist die Partei DIE LINKE.NRW, neben der Duldung der Minderheitsregierung und dem Neueinzug 2010 in diesen westdeutschen Landtag, durch mehrere Besonderheiten gekennzeichnet, welche sie zu einem lohnenden wissenschaftlichen Untersuchungsobjekt im Rahmen einer Staatsexamensarbeit macht. Die Parteien in NRW haben im Allgemeinen die bundesweit höchsten Mitgliederzahlen und damit großen Einfluss auf ihre Bundesparteien. Zudem stammt die größte Gruppe von Abgeordneten im Bundestag aus NRW. Die bundespolitische Bedeutung der Machtkonstellation in NRW wird ebenso in die Analyse einbezogen, wie die instabile Regierungssituation, welche sich fast regelmäßig an inhaltlichen Themen entzündet und die im Endeffekt zu vorzeitigen Neuwahlen geführt hat.

1.2 Frage- und Problemstellung

Kernthema der vorliegenden Staatsexamensarbeit ist die Analyse der Partei DIE LINKE in Nordrhein-Westfalen. Dazu wird insbesondere die Situation der Partei vor der vorgezogenen Landtagswahl 2012 untersucht. Anhand der Struktur- und Organisationsmerkmale der Landespartei, ihrer Stellung im und zum politischen System, sowie ihrer programmatischen Ziele und Inhalte, wird diese parteientypologisch verortet. Vergleichend dazu werden die Erkenntnisse aus den bereits untersuchten Bundesländern Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland genutzt, um zu analysieren, ob die Westausdehnung der Partei DIE LINKE gelungen ist, ob sie stagniert oder ob ihr Scheitern wahrscheinlich ist.

Die parteientypologische Einordnung liefert dazu weitere systematische Hinweise, die die Situationen in den verschiedenen Bundesländern vergleichbar machen. Die Serie der vorliegenden Arbeiten[3] zu den Landesverbänden der Partei DIE LINKE wird somit erweitert und die Möglichkeit der diachronen Betrachtungsweise genutzt, um weitere Entwicklungen zu prognostizieren.

Die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes in seinem neuesten Bericht aus dem Jahr 2011 werden ebenso berücksichtigt, wie die noch immer währende Programmdebatte innerhalb der Partei, um zu untersuchen, wie eine Einordnung unter den Gesichtspunkten ‚Radikalität‘ und ‚Extremismus‘ erfolgen kann. Ebenso werden die erzielten Wahlergebnisse der Partei DIE LINKE bis zum 06. Mai 2012 (Landtagswahl in Schleswig-Holstein), bei Europa-, Bundes-, Landtags- und Kommunalwahlen als Merkmal einer Typisierung in die Arbeit einfließen.

Nicht Bestandteil der Staatsexamensarbeit hingegen soll eine Reproduktion der Geschichte der Partei DIE LINKE im Sinne eines historischen Abrisses über Entstehung und Entwicklung von der PDS über die Linkspartei.PDS hin zur Partei DIE LINKE sein. Nur jene Aspekte, die zur Erklärung der Westausdehnung und der aktuellen Lage der Bundespartei notwendig sind, werden Eingang in Kapitel 3 und 5 finden.

Ziel dieser Arbeit ist es, ein möglichst genaues Bild des Landesverbandes DIE LINKE.NRW zu zeichnen, dabei seine Charakteristika herauszustellen und ihn mithilfe der gewonnenen Erkenntnisse parteientypologisch einzuordnen. Im diachronen Vergleich mit den Untersuchungen zu anderen Bundesländern wird eine Prognose zum weiteren Verlauf der Expansionsbemühung der Bundespartei DIE LINKE in die alten Bundesländer erstellt.

1.3 Vorgehensweise und Methodik

Für die vorliegende Arbeit wird auf zwei Arten von Quellen zurückgegriffen: Erstens auf die vorhandene wissenschaftliche Forschungsliteratur. Da sich diese aber weitestgehend mit der Partei DIE LINKE als bundespolitisches Phänomen befasst und nur sehr vereinzelt einen Landesverband und fast nie explizit den Landesverband NRW in den Fokus ihrer Untersuchung rückt, muss die Literaturlage ergänzt und verbreitert werden. Die einzige Publikation, die sich direkt auf den Landesverband der LINKEN IN NRW bezieht ist der Aufsatz von Patrick Moreau ‚Freiheit oder Sozialismus. Die Linke in Nordrhein-Westfalen‘ (vgl. Moreau: 2010). Inhaltlich befasst sich der Aufsatz ausführlich mit der Programmatik des Landesverbandes zur Landtagswahl 2010, kann aber auch zu Erkenntnissen über den Landesverband im Allgemeinen beitragen.

Eine umfassende Analyse eines der Landesverbände der Partei DIE LINKE wie sie von Florian Hartleb für Bayern vorgelegt wurde, existiert für den nordrhein-westfälischen Landesverband bisher nicht (vgl. Hartleb 2008). Der Beitrag von Hartwig Möller zur PDS in NRW aus dem Jahr 2000 ist lediglich für den Abschnitt über die LINKE.NRW vor der Fusion von Interesse und kann zu einer aktuellen Analyse des Landesverbandes aufgrund seines Publikationszeitpunktes nichts beitragen (vgl. Möller: 2000). Hubertus Knabe ‚Die Wahrheit über die Linke‘ bietet, weitgehend journalistisch und inhaltlich klar gegen diese Partei positioniert, eine recht aktuelle Analyse, die trotz ihrer tendenziellen Mängel, als Quelle Eingang in die Arbeit nehmen wird (vgl. Knabe 2010).

Zahlreiche Publikationen beziehen sich, wie bereits erwähnt, alleine auf die Bundespartei. Von diesen finden, unter den Gesichtspunkten der Aktualität und der des Erkenntnisgewinnes zur Beantwortung der Fragestellung, nur ausgewählte Beiträge Eingang in die Arbeit. Beiträge zur Situation in den Landesverbänden in Westdeutschland und spezifische Wahlanalysen zu NRW hingegen werden besonders berücksichtigt.

Zweitens werden zur Analyse die systematischen Auswertungen von Parteipublikationen und insbesondere der Internetauftritte der Landesfraktion, des Bundes- und Landesverbandes sowie die Presseberichterstattung der Rheinischen Post und der Süddeutschen Zeitung hinzugezogen. Von besonderem Vorteil ist die breit gefächerte Medienlandschaft in NRW, sowie die Beachtung der Landespolitik in NRW durch überregionale Tages- und Wochenzeitungen.

Anfragen an den Verfassungsschutz in NRW und die Partei DIE LINKE bzw. Geschäftsstelle und einzelne Funktions- und Mandatsträger werden im Anhang exemplarisch dokumentiert (vgl. Kapitel V. Anhang), sind aber weitgehend ohne Erkenntnisgewinn geblieben, da bisher keine inhaltlichen Antworten vorliegen. Informelle Hintergrundgespräche und Besuche von Parteiveranstaltungen, wie der Tagung der Kommunistischen Plattform in NRW, der Sprechstunde in der Landesgeschäftsstelle in Düsseldorf und der Jubiläumsveranstaltung für die 555 Tage Parlamentsarbeit der Partei DIE LINKE in NRW, fließen in die Untersuchung als Hintergrundwissen mit ein.

Wahlergebnisse werden, wenn nicht anders kenntlich gemacht, den Veröffentlichungen des Bundeswahlleiters entnommen.

In der Politikwissenschaft wurden bisher eine Vielzahl von Typologien, Parteitypen und deren Kombinationsmöglichkeiten entworfen und zur Anwendung gebracht (von Beyme 1985: 674f.). Richard Stöss sieht darin nicht nur die Vorstufe zu einer allgemeinen Theoriebildung über Parteien, sondern auch den Vorteil, dass „eine Typologie realitätsnäher ist als eine Theorie“ (Stöss 1986: 146). Die Reduktion der Komplexität des Untersuchungsgegenstands durch die Strukturierung mithilfe der Typenbildung hat eine verbesserte Übersichtlichkeit zur Folge.

Diese Arbeit wird also die Partei DIE LINKE.NRW in den, innerhalb des Kapitels 2 aufgespannten, theoretisch-analytischen Rahmens parteientypologisch analysieren und einzuordnen. Mit den in der Literaturliste aufgeführten Quellen, insbesondere den bereits oben erwähnten, ist es möglich die parteientypologischen Charakteristika der Partei DIE LINKE auf Bundesebene und auf nordrhein-westfälischer Landesebene, vor der Wahl in NRW im Mai 2012, herauszuarbeiten.

Die im folgenden in Kapitel 2 vorgestellten Parteientypologien dienen dabei als als theoretischer Bezugsrahmen. Kapitel 3 widmet sich der Bundespartei als Grundlage des späteren Vergleichs. Nach den soziokulturellen Charakteristika des Bundeslandes NRW in Kapitel 4, bezieht sich Kapitel 5 dann ausführlich auf den Landesverband DIE LINKE.NRW. Die Analyse des Landesverbandes und der Vergleich mit der Bundespartei erfolgen nach dem theoretischen Rahmen, der in Kapitel 2 aufgespannt wurde. Bilanz, Fazit und Ausblick der vorliegenden Arbeit bilden die Kapitel 7 und 8, hier werden ebenso die Grenzen der Zuordnung zu den Parteitypen reflektiert, wie die gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst. Allen Kapiteln ist zur besseren Orientierung eine überblicksartige Einleitung vorangestellt. Daher kann an dieser Stelle der Einleitung auf eine ausführlichere Darstellung der Gliederung verzichtet werden.

2. Theoretisch-analytischer Bezugsrahmen

Im folgenden Kapitel sollen die theoretischen Grundlagen gelegt werden, mithilfe derer später die parteientypologische Einordnung der Partei DIE LINKE in NRW vorgenommen werden kann. Dazu ist eine Aufteilung des Kapitel ‚Theoretisch-analytischer Bezugsrahmen‘ in vier Unterkapitel vorgenommen worden.

Im Kapitel 2.1 werden Parteientypen und –typologien als Ordnungssysteme vorgestellt. In den Kapitel 2.2 wird darauffolgend der Analyserahmen, mit dem die Partei DIE LINKE in NRW im Hinblick auf ihre Stellung im und zum politischen System untersucht werden soll, festgelegt. Struktur- und Organisationsmerkmale werden in Kapitel 2.3, Ziele und Inhalte in Kapitel 2.4 analysiert. Diese Aufteilung lehnt sich am Beitrag ‚Zur Typologie politischer Parteien‘ von Manfred Hättich (vgl. Hättich 1967: 375-410) an, variiert aber in ihrer Reihenfolge, da sich diese für die von mir gewählte Thematik besser eignet als Hättichs ursprüngliche Abfolge (vgl. Hättich: 1967: 377).

In Anbetracht der Thematik liegt der Fokus der Darstellung stärker auf den offensichtlich passenderen Parteitypen, so sind diese, neben den klassischen Gegenüberstellungen von z. B. Regierungs- und Oppositionspartei, für DIE LINKE vor allem die der radikalen, populistischen und extremistischen Parteitypen. Neue Typen werden nicht konstruiert. Bestehende bereits in der Politikwissenschaft zur Anwendung gekommene Typen, bilden das Grundgerüst der Untersuchung (vgl. Wiesendahl 1985: 675).

2.1 Parteientypen und -typologien als Ordnungssystem

Zunächst erfolgt eine Klärung zur Frage, was im folgenden allgemein unter Parteitypen und –typologien zu verstehen ist, bzw. was ihre Leistung als Ordnungssystem ausmacht. Dabei ist festzuhalten, dass jede Typologie „das Ergebnis eines Gruppierungsprozesses, bei dem ein Objektbereich anhand eines oder mehrerer Merkmale in Gruppen bzw. Typen eingeteilt wird“ (Kluge 1999: 26f.) ist. Wesentlich häufiger als eindimensionale Typen treten multidimensionale Typen auf, welche in mehrere Dimensionen abstufbar sind. Auch für Hofmann stellen Typologien „eine übergeordnete Ebene dar und werden als systematische Verknüpfung oder gegenseitige Abgrenzung mehrerer einzelner Typen verstanden“ (Hofmann 2004: 19). Beide Definitionen teilen die Auffassung von Typologien als Ordnungssysteme, welche durch Typen als Teil- oder Untergruppen untergliedert sind. Die Untersuchungsebene der Typologie lenkt den Blick auf die Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen und kann somit die Heterogenität des Themengebietes abbilden. Der Blick auf die Typen hingegen lenkt den Blick auf die Gemeinsamkeiten desselben Typus, sodass jeder Typ eine hohe interne Homogenität aufweisen sollte. „Mit Hilfe einer komplexen und differenzierten Typologie können sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede in einem Untersuchungsraum ermittelt werden“ (Kluge 1999: 31). Dabei ist die Typologie nicht Selbstzweck, sondern dient in einem Verfahren der vorsichtigen Annäherung der Analyse real existierender Parteien.

Grundsätzlich unterscheidet man in der Politikwissenschaft zwischen generalisierenden und entwicklungsorientierten Typologien. Die generalisierenden Typologien ordnen üblicherweise statisch einem Typus immer einen Gegentypus zu und nehmen keinen Bezug auf die Situation der Partei in ihrem zeitlichen und politischen Kontext. Entwicklungsorientierte Typologien hingegen versuchen diachrone Veränderungen im Parteienwesen aufzuzeigen und neigen daher zu einem eher historischen Verfahren (vgl. Hättich 1969: 377). Zentral ist dabei die Abfolge verschiedener Parteitypen im zeitlichen Verlauf und im Kontext des sozialen Wandels (vgl. Wiesendahl 1985: 676).

Die Verortung von Typen ist dementsprechend auf zwei Arten möglich: a) als eine aus Typ und Gegentyp bestehende Typologie aus zwei Extremtypen und b) als singuläre Zusammenfassung bestimmter Merkmale zu einem Typ (vgl. Nohlen 1985: 1041). Im ersten Fall wird davon ausgegangen, dass die in der Realität auftretenden Phänomene in einer Reihe anzuordnen sind. Dabei bilden die Extremtypen die beiden Pole, die die Reihe begrenzen. Extremtypen treten selten auf und dienen eher der Verdeutlichung von Trends. Häufiger nähern sich die vorkommenden Phänomene lediglich einem Extremtyp an (vgl. Hofmann 2004: 23).

Auch bei der Typenbildung lassen sich zwei Vorgehensweisen unterscheiden: Typen, die in der Empirie auftretende Merkmalskombinationen aufweisen, nennt man Realtypen. Diese sind hochspezifisch und sehr stark an Raum und Zeit gebunden. Der Idealtyp hingegen ist Ergebnis theoretischer Überlegungen und der Überzeichnung bestimmter Merkmale real existierender Parteien. Er kann somit nicht rein aus der Empirie gewonnen werden (vgl. Kluge 1999: 60f.).

Zwei allgemeine Probleme treten bei der Typenbildung auf: Zum einen ist eine Eigenschaft eines Typs der möglicherweise nur fließender Übergang zum nächsten Typ, d.h. dass sich die Objekte, die unter einem Typ subsumiert werden, nur ähneln und nicht vollständig gleichen müssen (vgl. Kluge 1999: 33). Dabei werden selbstverständlich Objekte zu Typen zusammengefasst, deren gemeinsamen Merkmale eine größere Übereinstimmung haben als andere. Ein Objekt kann so durchaus mehreren Typen zugeordnet werden. Das andere Problem bilden sich überschneidende Typen. In diesem Fall weisen verschiedene Typen die gleichen oder ähnliche Merkmalsausprägungen auf (vgl. Hofmann 2004: 21f.).

2.2 Stellung der Parteien im und zum politischen System

In diesem Kapitel wird durch Hättichs Unterscheidung zwischen ‚in-group‘ und ‚out-group‘ strukturiert. Die grundlegenden Frage ist, ob eine Partei innerhalb oder außerhalb einer Ordnung, eines Systems oder eine Institution steht. (vgl. Hättich: 1967: 377). Darüber hinaus soll hier nicht nur die Stellung im politischen System untersucht werden, sondern auch die Stellung zum politischen System.

Als Erstes werden die Extremtypen ‚Regierungs- und Oppositionspartei‘ sowie ‚etablierte und unetablierte Partei‘ jeweils gegenübergestellt. Beide Gegenüberstellungen dienen der Verortung der Partei innerhalb des politischen Systems. Die Typen ‚radikale Partei‘ und ‚extremistische Partei‘ und ‚Protestpartei‘ und ‚populistische Partei‘ verdeutlichen hingegen die Stellung zum politischen System.

Mithilfe der vorgestellten Typen wird dann DIE LINKE.NRW in Kapitel 6 eingeordnet werden. Es wird die Frage geklärt ob sie das bestehende politische System anerkennt oder ob sie es verändern möchte. Im Gegensatz zu den Entwicklungstypologien in Kapitel 2.3 handelt es sich in diesem Kapitel um generalisierende Typologien.

2.2.1 Regierung oder Opposition

Bei der Gegenüberstellung der beiden jeweils extremen Typen ‚Regierungs- und Oppositionspartei‘ orientiert sich die Darstellung an dem Aufsatz „Zur Typologie politischer Parteien“ von Manfred Hättich (vgl. Hättich 1967: 375-410).

Die Überlegung, ob ‚Regierungsbeteiligung‘ ein Erkenntnis bringendes Kriterium für eine Parteientypologie sein kann, wirft Hättich selbst auf. Für ihn ist diese Unterscheidung nur dann sinnvoll und von Nutzen für die Typologie, wenn man eine diachrone Untersuchungsperspektive wählt. Parteien, die über einen längeren Zeitraum entweder dem Typ ‚Regierungspartei‘ oder ‚Oppositionspartei‘ entsprechen, akzentuieren ihre spezifische Leistungsfähigkeit je nach Typ. So entstehen die typischen Merkmale einer ‚Regierungs-‘ bzw. einer ‚Oppositionspartei‘. „Wird die eine oder die andere Rolle sehr lange Zeit hindurch von einer Partei gespielt, dann wird diese Rolle auf die Partei, auf ihre Ziele, auf ihre Struktur und auf ihr allgemeines Verhalten zurückwirken“ (Hättich 1967: 378). Eine synchrone Untersuchungsperspektive erscheint nicht als sinnvoll. Hättich schreibt: „[Da] der Wechsel im Sinne der Demokratie liegt, dürfte darin, welche Funktion eine Partei gerade ausübt, kein substanzielles Unterscheidungsmerkmal für die Charakterisierung der Parteien selber liegen“ (Hättich 1967: 378). Im Folgenden sollen die Merkmale der Typen ‚Regierungs-‘ und ‚Oppositionspartei‘ vorgestellt werden.

Kennzeichnend für eine Regierungspartei ist ihr legitimes Ziel, die ihr durch die Wähler übereignete Regierungsverantwortung möglichst lange ausüben zu können. Jedoch sollte sie zu jedem Zeitpunkt ein Verständnis für die legitime Rolle der Opposition beibehalten, damit sie auch nach einem möglichen Rollentausch, zurück in die Opposition, nicht als Partei auseinanderfällt. Wenn sich eine Partei in dem Status einer typische Regierungspartei zu sehr verfestigt, so kann das negative Konsequenzen haben (vgl. Hättich 1967: 381). „Die große Versuchung einer verfestigten Regierungspartei ist es, daß sie den Gesamtstaat mit sich identifiziert“ (Hättich 1967: 378). Erliegen die Partei oder ihre Mitglieder dieser Versuchung, so nimmt sie die Opposition als außerhalb des Systems stehend wahr und kann sich im Umkehrschluss nicht mehr mit dem Staat identifizieren, wenn sie selber in die Oppositionsrolle wechseln muss.

Je sachlicher und überzeugender eine Regierungspartei ihre Politik vor einer starken Opposition zu begründen hat, umso detailreicher sind die Informationen, die sie zur Verfügung stellen muss. Da die Regierungspartei zudem verstärkt über Ministerialbürokratie verfügt, auf die die Opposition keinen direkten Zugriff hat, sind aus Sicht des politischen Systems starke, wettbewerbsfähige Oppositionspartei wünschenswert. Diese können die Regierungsmehrheit im Plenum, in den Ausschüssen und in der öffentlichen Diskussion, insbesondere in den Medien, zur Begründung ihrer Vorhaben und Entscheidungen zwingen und auch Einfluss auf die Entscheidungen selbst nehmen (vgl. Hättich 1967: 382). Zusätzlich dazu dient die Kooperation der Ministerialbürokratie von Bund und Ländern, welche möglicherweise unterschiedlichen Regierungsmehrheiten untersteht, als weiterer Kontrollmechanismus. Die Wahlen zum Bundesparlament, bzw. zu den Landesparlamenten im föderativen politischen System der BRD bewirken, dass Parteien oftmals zeitgleich beide Rollen, die der Regierung und die der Opposition, auf verschiedenen Ebenen einnehmen müssen. Somit kann sich das Muster einer typischen Regierungspartei nicht verfestigen (vgl. Hättich 1967: 382).

Dem Typus der Regierungspartei steht im politischen System der Typus der Oppositionspartei diametral gegenüber. Dieser Typus zeichnet sich in erster Linie durch seinen politischen Gegenpart im Parlament aus. Für eine zahlenmäßig schwach vertretene Oppositionspartei besteht schnell die Gefahr in eine verfestigte Rolle zu rutschen, weil sie realistischerweise nicht in der Lage sein wird, in die Rolle einer Regierungspartei zu wechseln. Je größer eine Oppositionspartei ist und je mehr Anhänger sie aus unterschiedlichen Wählergruppen hat, desto geringer ist die Gefahr, dass sie sich selber als außerhalb des politischen Systems oder gar als außerhalb der Gesellschaftsordnung stehend betrachtet (vgl. Hättich 1967: 383). „Aber generell muß mit der Gefahr gerechnet werden, daß eine verfestigte Oppositionspartei ihrerseits den Staat mit der herrschenden Mehrheit zu identifizieren beginnt und sich selber im Gegensatz zu diesem Staat stellt“ (Hättich 1967: 383). Sie macht sich somit zu einer ‚out-group‘. In der Empirie finden sich auch Fälle, in denen eine Opposition von Anfang an als eine solche Außengruppe auftritt, „indem sie aus der Gegnerschaft zum System, zur politischen Ordnung oder zur ganzen Gesellschaftsordnung heraus entsteht“ (Hättich 1967: 383).

Insbesondere die Entwicklung anfänglicher ‚out-group‘-Parteien hin zu ‚in-group‘-Parteien zeichnet Hättichs Typologie nach. Diese Entwicklung bedeutet für ihn eine zunehmende Integration der Gesellschaft in die demokratische Ordnung. „Die Demokratie ist am funktionsfähigsten, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen und politischen Parteien am prinzipiellen Konsens über die [politische] Ordnung teilhaben“ (Hättich 1967: 383). Des Weiteren zeigt sie zwei wichtige Punkte auf: Verfestigte Rollen in der Regierung neigen dazu die Opposition in eine ‚out-group‘-Position zu drängen. Umgekehrt drängt eine selbst verstandene ‚out-group‘-Position der Opposition die Regierung zu einer hohen Identifikation mit dem Staat. Dies zeigt sich zunächst in der Anhängerschaft der Parteien, sodass deren Parteiführungen gefordert sind, das Bewusstsein ihrer Anhänger so zu beeinflussen, indem sich ihre Rollenwahrnehmung nicht all zu sehr verfestigt und bei einem möglichen Wechsel der Rolle für Differenzen sorgt.

2.2.2 Etabliert oder unetabliert

Die im folgenden Kapitel dargestellte Typologie von etablierten und unetablierten Parteien beschäftigt sich in erster Linie mit dem Themenkomplex der ‚Kleinpartei‘. Es gibt bisher noch keine allgemeingültige wissenschaftliche Definition in der Forschung zum deutschen Parteiensystem für den Begriff ‚Kleinpartei‘. Dirk van den Boom definiert diese recht eng gefasst als politische Partei,

„die sich aufgrund der rechtlichen, finanziellen, personellen, organisatorischen und programmatischen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit nicht derart im politischen System durchsetzt, daß sie in signifikantem Maße aktiv und gestaltend am Entscheidungsprozeß und an der Auswahl politischen Führungspersonals teilhat“ (Boom 1999: 21).

Jun/Kreikenbom hingegen definieren Parteien mit der Bezeichnung ‚Kleinpartei‘ etwas umfassender, indem sie zu ihnen Parteien zählen, die nur über

„eine kleine Mitgliederzahl verfügen, […] [und daher] auf ein eingeschränktes Wählerpotenzial zurückgreifen können, welches in der Regel nur einzelne gesellschaftliche Gruppen umfasst und [...] [demzufolge] im Kampf um Wählerstimmen Sperrklauseln eine besondere Beachtung schenken“(Jun/Kreikenbom 2006: 22)

muss.

Kleinparteien, ob etabliert oder noch unetabliert, streben wie alle anderen Parteitypen auch immer danach, ihren politischen Einfluss zu erhöhen und ihre Stellung im politischen System damit auf Dauer zu festigen. Erste und schwierigste Hürde stellt dabei für die Kleinparteien in der BRD in der Regel die Überwindung von Sperrklauseln dar. Nur wer diese Hürde überwinden kann, erlangt parlamentarische Präsenz auf Bundes- bzw. Landesebene.[4] Damit gehen eine deutlich verbesserte Ressourcenausstattung über die Wahlkampfkostenerstattung und eine erhöhte mediale Aufmerksamkeit einher. Sollte die Überwindung der 5-Prozent-Hürde nicht im Bereich des Wählerpotenzials einer Kleinpartei liegen, bleibt ihr das Minimalziel der Teilnahme an der staatlichen Parteienfinanzierung.

Etablierte Parteien definieren sich durch die erfolgreiche Mobilisierung von mindestens fünf Prozent der Wähler in mindestens drei aufeinanderfolgenden Wahlen. Erst ihre Präsenz im jeweiligen Parlament versetzt Kleinparteien in die Lage, eine Infrastruktur aufzubauen, die eine dauerhafte Einflussnahme auf politische Prozesse ermöglicht. Dazu zählen a) eine flächendeckende Organisationsstruktur, b) ausreichend Finanzmittel zur Bezahlung von hauptamtlichen Mitarbeitern, c) ein Mindestmaß an Strategiefähigkeit und Professionalität der Wahlkampfführung, d) ein gesicherter Zugang zu den Medien sowie e) der Aufbau eines Netzwerkes mit einer hinreichend großen Anzahl an Anhängern und Mitgliedern (vgl. Jun/Kreikenbom 2006: 22). Haben Kleinparteien diese Kernpunkte der Infrastruktur geschaffen, so sind sie deutlich verbessert in der Lage, die ihnen vom Parteiengesetz zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen. Dazu gehört seit 1967 nach §1 Abs. 2 PartG die Aufstellung von Kandidaten bei Wahlen (Rekrutierung von politischem Personal), die Konzeptualisierung von Politik in Form von Parteiprogrammen (Politikformulierung), die Einflussnahme auf die öffentliche Meinung und Willensbildungsprozesse der Bürger (Meinungsbildung) sowie die Mitgestaltung von Politik in Parlament und Regierung (Einflussnahme) (vgl. Rudzio 2011: 103f.). „Die Mindestfunktion, von der die rechtliche Anerkennung als Partei abhängt, ist dabei die Beteiligung an Wahlen“ (Rudzio 2011: 103).

Treffen auf die Kleinparteien die im vorherigen Abschnitt aufgezählten Kriterien aus dem PartG zu, sind sie eine begehrte Koalitionsoption für die anderen Parteien im Parlament und nehmen nicht selten die Rolle eines Mehrheitsbeschaffers und Juniorpartners ein. Voraussetzung für die Koalitionsfähigkeit ist allerdings ein Mindestmaß an Übereinstimmung in den programmatischen Zielvorstellungen mit dem Koalitionspartner (vgl. Jun/Kreikenbom 2006: 21). Sie bewegen sich aber damit auch „im Zwiespalt zwischen der Bewahrung eigener Identitäten und Anpassungszwängen“ (Jun/Kreikenbom 2006: 23). Sie müssen daher ihre eigenen langfristigen inhaltlichen Positionen immer wieder neu überprüfen.

Unetablierte Parteien hingegen haben Probleme überhaupt tragfähige Organisationsstrukturen zu installieren. Sowohl in der Fläche ihres Bezugsgebietes fehlt es ihnen an Abdeckung, als auch an Organisationsebenen. Unterorganisationen, wie Orts- und Stadtteilverbände, sowie Arbeitskreise sind häufig nur in Ansätzen vorhanden. Parteinahe Stiftungen sind üblicherweise nicht gegründet worden. Die finanzielle Situation verhindert den Ausgleich der organisatorischen Mängel durch hauptamtliche Mitarbeiter. Alle Aspekte in Summe führen zu einer geringen öffentlichen Wahrnehmung und zu einer geringen medialen Präsenz. Beide Aspekte sind jedoch unabdingbar, um größere Wählergruppen zu erschließen und sicher in die jeweiligen Parlamente einziehen zu können. Gelingt dies nicht, sinkt die Medienresonanz, sodass die potenziellen Wählergruppen noch weniger über die Ziele und programmatischen Absichten der Kleinparteien erfahren.

Bei Wahlhochrechnungen und der Darstellung von Wahlergebnissen zeigen sich die Identitätsprobleme in der Tatsache, dass unetablierte Kleinparteien meist nur unter ‚Sonstige‘ an der rechten Seite der Balkendiagramme subsumiert werden.

2.2.3 Radikalität und Extremismus

Auch im Wissenschaftsbereich wurden „bis in die siebziger Jahre […] die Begriffe Links- und Rechts radikalismus häufig synonym mit dem Extremismus-Begriff verwendet, teilweise dazu, um eine weichere Form des Extremismus anzudeuten“ (Jaschke 2006: 17). Auch heute werden die Begriffe ‚Radikalismus‘ und ‚Extremismus‘ nicht selten gleichberechtigt nebeneinanderstehend verwendet, eine genauere Differenzierung findet kaum statt (vgl. Everts 2000: 43ff.). Viola Neu kommt in ihrer Analyse zu dem Schluss, dass „aus politikwissenschaftlicher wie aus juristischer Sicht […] als zentrales Unterscheidungskriterium zwischen Extremismus und Radikalismus die Zielebene [erscheint]“ (Neu 2004: 161). Übereinstimmendes Merkmal beider Positionen ist die Ablehnung gegenwärtiger gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse und ein angestrebter grundlegender Wandel derer.

„Während Extremisten den demokratischen Verfassungsstaat fundamental ablehnen, zielen Radikale auf eine Veränderung der politischen Kultur und stellen die prinzipielle Legitimität der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht in Frage“ (Morgenstern 2007: 279 und vgl. Jesse 2003: 178f.).

Bereits an dieser Stelle ist zu erkennen, dass es sich bei den beiden Typen ‚radikale Partei‘ und ‚extremistische Partei‘ nicht um zwei Extremtypen handeln kann. Im Unterschied zu den Begriffspaaren ‚Regierungspartei‘ und ‚Oppositionspartei‘ sowie ‚etablierte Partei‘ und ‚unetablierte Partei‘ bilden die beiden Typen dieses Kapitels nicht die beiden Pole auf der Dimensionsachse, sondern stehen beide zugleich der Position des demokratischen Verfassungsstaates, wenn auch mit unterschiedlicher Vehemenz, entgegen (Morgenstern 2006: 41f.). Diese Konstruktion sieht den Radikalismus auf der Dimension der Mittel, den Extremismus ordnet sie aber mithilfe der Zieldimension ein (vgl. Neu 2004: 161). Entscheidend bleibt die Distinktion auf der Zielebene, da auf der Ebene der Mittel keine deutliche Trennschärfe herzustellen ist. Die Anwendung von Gewalt oder Gewaltbereitschaft sind gleichermaßen Merkmale des Radikalismus und des Extremismus. Daher erfolgt im Folgenden die Unterscheidung der beiden Typen ‚radikale Partei‘ und ‚extremistische Partei‘ anhand ihrer Positionen und Ziele.

Zunächst wird der in Wissenschaft, Politik und dem öffentlichen Diskurs umstrittene Begriff ‚Extremismus‘ näher definiert. Problematisch ist nicht nur seine Anwendung als wissenschaftliches Analyseinstrument, sondern auch seine Handhabung in der politischen Auseinandersetzung. Backes/Jesse definieren Extremismus

„als Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen […], die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen, sei es, daß das Prinzip menschlicher Fundamentalgleichheit negiert (Rechtsextremismus), sei es, daß der Gleichheitsgrundsatz auf alle Lebensbereiche ausgedehnt wird und die Idee der individuellen Freiheit überlagert (Kommunismus), sei es daß jede Form von Staatlichkeit als »repressiv« gilt (Anarchismus)“ (Backes/Jesse 1993: 40).

Das Problem dieser Definition ist, dass sie inhaltlich auf sehr unterschiedliche Phänomene bezogen wird. Die sich diametral gegenüberstehenden Ideologien Nationalismus und Kommunismus, Faschismus und Anarchismus werden unter dem Label ‚extremistisch‘ zusammengefasst (vgl. Neu 2004: 152). Diese vermeintliche Gleichsetzung verursacht das gleiche Unbehagen, welches viele Politikwissenschaftler befällt, wenn ‚rechte‘ und ‚linke‘ Phänomene unter dieselbe Definition von Extremismus gesetzt werden (vgl. Neu 2004: 152f.).

In der politischen Auseinandersetzung und in der öffentlichen Wahrnehmung wird der Begriff ‚Extremismus‘ gezielt als Mittel der Diffamierung des politischen Gegners eingesetzt, um diesen auszugrenzen. Oft ist eine öffentliche Unterstellung einer extremistischen Positionierung einer Partei ausreichend, um diese in ein negatives Licht zu rücken. „Solche Vorgänge zeigen, dass die interessengeleitete Operation mit dem Extremismus-Begriff zum Zweck der Skandalisierung, Ausgrenzung und Ausschaltung politischer Konkurrenz zum politischen Tagesgeschäft gehört und eine differenzierte, abgewogene Diskussion erschwert“ (Jaschke 2006: 18). Jaschke fordert daher eine Vermeidung des Kampfbegriffes Extremismus und schlägt vor, sich unbefangener mit den Phänomenen auseinander zu setzen (vgl. Jaschke 1991: 46).

Extremistische Parteien weisen nach Morgenstern folgende fünf Hauptmerkmale auf (vgl. Morgenstern 2007: 281ff.):

a) Extremistische Parteien verabsolutieren ihre Ideologie. „Mit ihrem absoluten Wahrheitsanspruch bekämpfen sie die Meinungsvielfalt und bestreiten die Legitimität inhaltlicher Auseinandersetzungen“ (Morgenstern 2007: 281). Im Gegensatz zu demokratischen Parteien geben sie vor, einen gesellschaftlichen Alleinvertretungsanspruch zu haben oder im Besitz der einzigen allgemeingültigen Wahrheit zu sein. Das Denken bestimmt das extremistische Handeln, Widersprüche werden ausgeblendet, Rückschläge führen nicht zur Hinterfragung der eigenen Position, sondern zur Abkapselung (vgl. Morgenstern 2007: 281). Sowohl parteiintern als auch im Verhalten gegenüber anderen Parteien prägt die Gewissheit, alleine im Recht zu sein, den Umgang. Parteiinterne Meinungsverschiedenheiten kommen gar nicht erst auf und der Respekt vor Auffassungen Andersdenkender geht verloren (vgl. Backes/Jesse 1993: 40f.)

b) Extremistische Parteien negieren oder überhöhen das Gebot der fundamentalen menschlichen Gleichheit. Sie bestreiten entweder natürliche Unterschiede oder sehen unüberbrückbare Gegensätze. „Besonderheiten dienen als Grundlage für die Wertung des Gegenübers […]“ (Morgenstern 2007: 282). Entspricht dieser nicht ihrem Ideal, wird er herabgesetzt. Linksextremisten tendieren dazu, die individuellen Besonderheiten des Einzelnen zu bestreiten, sie missachten die Verschiedenartigkeit der Menschen und sehen die Gleichheit aller Menschen als erstrebenswertes Ziel (vgl. Morgenstern 2006: 49). Diese erzwungene Unterordnung des Individuums unter die Interessen des Kollektivs widerspricht dem Menschenrecht das Individuum zu schützen (vgl. Neu 2004: 164). Die Gemeinsamkeit von links und rechts extremistischen Einstellungen stellt die Unterdrückung und Nivellierung von Unterschieden dar.

c) Extremistische Parteien legitimieren vergangene Diktaturen. Dabei sind sie sich ihrer Unattraktivität bewusst und beschränken sich meist darauf, die positiven Leistungen heraus zu heben und Kritik an denen zu üben, die diese Diktaturen verurteilen (vgl. Morgenstern 2007: 283). „Über die Kritik an der Kritik soll die historische Verantwortung gegen andere Verfehlungen aufgerechnet werden, um die gesellschaftlichen Gegenkräfte zu schwächen“ (Morgenstern 2006: 51).

d) Extremistische Parteien bekämpfen repräsentativ-pluralistische Gremien. Sie sprechen den politischen Institutionen die Legitimation zur Vertretung des Volkes ab und versuchen die Regierungsmehrheit als Inhaberin der Exekutive zu delegitimieren (vgl. Morgenstern 2006: 53). Extremistische Parteien fühlen sich dazu berufen, das Volk zu führen und das Land zu retten, denn sie sehen sich als die alleinigen Inhaber der allgemeingültigen Wahrheit.

e) Extremistische Parteien missachten die Grundlagen innerparteilicher Demokratie. Sie stellen sich, wie unter Punkt a) der Merkmale erwähnt, gegen einen gesellschaftlichen Interessenpluralismus und dulden auch keinen innerparteilichen Austausch von Standpunkten. „Der Standpunkt der Führung wird verabsolutiert und Widerspruch im Keim erstickt“ (Morgenstern 2006: 55). Meinungsaustausch wird nicht als Grundbestandteil der politischen Auseinandersetzung innerhalb der Partei wahrgenommen, sondern als kontraproduktiver Faktor aufgefasst. Oftmals weisen Parteien dieses Typs starke, autoritäre Führungspersönlichkeiten auf, die den Standpunkt der politischen Vorgehensweise vorgeben.

Aufgrund des Untersuchungsgegenstandes wird im Folgenden der Linksextremismus als spezifische Ausprägung des Extremismus dargestellt. Viola Neu zeigt als verbindendes Element aller linksextremistischen Strömungen die Forderung nach menschlicher Fundamentalgleichheit auf (vgl. Neu 2004: 164 sowie Jaschke 2011: 16ff.). Vor allem die Befreiung des Individuums von seinen ökonomischen und sozialen Zwängen durch eine radikale Veränderung der Eigentumsverhältnisse und die Umgestaltung der Machtverhältnisse hin zu einer herrschaftsfreien Gesellschaft bilden das Ideal linksextremistischer Ideologien. Diese versprechen, gleich einer säkulären Heilslehre, die Schaffung einer idealen Welt ohne antagonistische Widersprüche und „können als politische Religionen verstanden werden“ (Neu 2004: 164). Die Konsequenzen, die aus dem Grundprinzip der menschlichen Gleichheit gezogen werden, sind denkbar radikal und münden in der Errichtung einer herrschaftsfreien Gesellschaft. Anarchistische und kommunistische Gesellschaftslehren haben dieses Ziel gemeinsam, allerdings unterscheidet sie der aus ihrer Sicht zum Ziel führende Weg. Während der Anarchismus auf spontane Bewusstseinsveränderungen setzt, fordert der Kommunismus die Unterordnung des Einzelnen unter die Erfordernisse der Belange der großen revolutionären Ziele (vgl. Backes/Jesse 1993: 53). Im Kern geht es dabei um die Abschaffung der Diktatur des Kapitals, daher rührt die eindeutige Positionierung als Gegner der kapitalistischen Systeme.

Die Einordnung des Begriffes ‚Radikalismus‘ ist ungleich schwerer als die des ‚Extremismus‘, da dieser immer als unzweideutiges Merkmal die Gegnerschaft zum demokratischen Verfassungsstaat aufweist. Der Radikalismus hingegen akzeptiert zwar grundsätzlich die freiheitlich-demokratische Grundordnung als Minimaldefinition der Demokratie, „bejaht aber nicht deren konkrete Ausformung und beschreibt so eine ‚Grauzone‘ zwischen Verfassungstreue und Verfassungsfeindlichkeit. Eine deformierte Republik ist sein Ziel“ (Morgenstern 2007: 288). Ebenso lehnt der Radikalismus den auf einer umfassenden Welterklärung basierenden Extremismus ab und akzeptiert im Gegensatz zu ihm parteiinterne Vielfalt, welche jedoch ihre Grenzen in der Dominanz der Parteiführung findet. Das zentrale Unterscheidungskriterium ist auf der Zielebene zu finden: Vernichtung des Verfassungsstaates oder dessen Veränderung (vgl. Neu 2004: 161). Auf der Ebene der Mittel ist, wie eingangs beschrieben, die Unterscheidung schwerer, da die Anwendung von Gewalt und Gewaltbereitschaft gleichermaßen Merkmale von Radikalismus und Extremismus sein können.

Die fünf Merkmale für radikale Parteien sind nach Morgenstern (vgl. Morgenstern 2006: 57ff. und Morgenstern 2007: 283ff.):

a) Radikale Parteien fordern Reformen an ‚Haupt und Gliedern‘ des demokratischen Verfassungsstaates und behandeln demokratisch legitimierte Institutionen als formbare Objekte. Als Beispiel dafür ist die Forderung nach direktdemokratischen Elementen auf Bundesebene zu nennen. Damit heben sich radikale Parteien öffentlichkeitswirksam von anderen Parteien ab. Sie können diese Forderungen erheben, ohne Gefahr zu laufen, dass die Funktionsfähigkeit von direktdemokratischen Elementen getestet wird, da ihre Umsetzung recht unwahrscheinlich ist. Parteien dieses Typs zielen darüber hinaus auf eine „evolutionäre Deformierung der pluralistischen Gesellschaft“ (Morgenstern 2006: 58) ab. Ihre radikalen Forderungen und die zugrunde liegenden Utopien haben zwar keine realistische Chance auf Umsetzung, beeinflussen jedoch die politische Diskussion. „Der dialektische Widerspruch zwischen Theorie und Praxis wird nicht aufgelöst“ (Morgenstern 2006: 59).

b) Radikale Parteien provozieren kalkulierte Brüche des gesellschaftlichen common sense und spielen gesellschaftliche Konfliktlinien zur Veränderung der politischen Kultur aus. Um in der medienzentrierten öffentlichen Wahrnehmung Aufmerksamkeit geschenkt zu bekommen, setzen radikale Parteien gezielt Populismus und Provokation ein. Mit plakativen, knappen Thesen stellen sie einen Kontrast zu den staatstragenden demokratischen Parteien her, um Einfluss auf die Politik zu erlangen. Gezielte Tabubrüche erhöhen nicht nur die mediale Aufmerksamkeit, sondern sollen auch zu einem gesamtgesellschaftlichen Diskurs über bestehende Normen und Werte führen (vgl. Morgenstern 2006: 61ff.).

c) Radikale Parteien zeigen nach innen und außen eingeschränkte Konfliktfähigkeit, zumindest solange alternative Strömungen den Kurs der Partei nicht nachhaltig beeinflussen. Ein straffer Führungsstil und eine charismatische Führungspersönlichkeit mit großer Popularität kennzeichnen oftmals radikale Parteien. Bei einem Misserfolg der Partei steht nicht nur der Parteiführer zur Diskussion, sondern der gesamte Kurs (vgl. Morgenstern 2007: 286). So entsteht ein instabiles Parteikorsett aus einem Mittelweg der Dominanz der Parteiführung und gleichberechtigter Mitbestimmung aller Parteiebenen. Ein gesellschaftlicher Pluralismus wird von radikalen Parteien toleriert, aber im Gegensatz zum demokratischen Verfassungsstaat nicht gefördert. Radikale Parteien gewähren demnach parteiintern und akzeptieren parteiextern ein Minimum an Pluralismus (vgl. Morgenstern 2006: 62f.).

d) Radikale Parteien stilisieren sich zum politischen Arm einer ‚sozialen Protestbewegung‘. So können, mit begrenzter inhaltlicher Übereinstimmung, breite Teile der Bevölkerung angesprochen werden. Protestbewegungen bieten ein alternatives Artikulationsforum, „eine Gemengelage aus thematischer Beschränkung und bunter Sympathisantenschar verleiht ihnen Attraktivität“ (Morgenstern 2007: 286). Die Bewegungen können aufgrund ihrer Organisationsformen nicht von Parteien selber angestoßen werden, vielmehr nutzen die radikalen Parteien die ideologisch nahestehenden Weltbilder der Bewegungssympathisanten für gezielte Ansprache. „Radikalismus kann ‚Bewegungen‘ nur begleiten und dient sich deren Speerspitze an.“ (Morgenstern 2006: 287).

e) Radikale Parteien kooperieren mit Feinden des demokratischen Verfassungsstaates. Dabei werden durch die Kooperation und gegenseitigen Sympathiebekundungen endgültig die Grenzen zwischen den Anhängern freiheitlicher Demokratie und den Verfassungsfeinden verwischt. Eine Partei, die mit Antidemokraten zusammenarbeitet, kann nicht zugleich als Stütze der demokratischen Ordnung fungieren. „Somit stellt für Radikale ihr Verhalten gegenüber Extremisten ein Spagat dar“ (Morgenstern 2007: 287). Sie versuchen deren Ressourcen zu nutzen und strategische Optionen vorzubereiten, ohne dabei zu sehr öffentlich den Charakter und die Intensionen der Bewegungen bei der Kooperation in den Vordergrund zu rücken. Dabei bewegen sie sich im Graubereich des demokratischen Raumes, wollen ihm weiterhin angehören, stehen aber mit einem Bein bereits außerhalb. Dies erschwert die Zusammenarbeit mit Gruppierungen und Parteien des demokratischen Spektrums (vgl. Morgenstern 2007: 287).

2.2.4 Protest und Populismus

Das Wort ‚Protestpartei‘ ist bereits vor langer Zeit in den Gebrauch der deutschen politischen Alltagssprache aufgenommen worden. In einem Atemzug werden die Begriffe ‚soziale Bewegungen‘ und ‚Protestwähler‘ genannt und zählen ebenso wie der Begriff der ‚Protestpartei‘ auch zum Sprachgebrauch der Politikwissenschaft (vgl. Holtmann 2002: 67f.).

Eine zentrale Aufgabe politischer Parteien aus politikwissenschaftlicher Perspektive ist es, die Interessen der Bevölkerung in ihre Parteiprogramme aufzunehmen und dadurch in das politische System zu integrieren. Kommen die etablierten Parteien dieser Funktion nicht in ausreichender Art und Weise nach, kann dies zu zwei möglichen Effekten führen: Eine mögliche Konsequenz ist eine sinkende Wahlbeteiligung, die daraus resultiert, dass sich die Wähler mit ihren Anliegen von keiner Partei des parlamentarischen Systems mehr vertreten fühlen. Der zweite Effekt kann der Weg des aktiven Protestes durch die Wahl einer Protestpartei sein (vgl. Rudzio 2011: 124f.).

Schmidt bezeichnet als Hauptanliegen dieses Parteitypus „die Bündelung und Bekundung spezifischer oder diffuser politischer Unzufriedenheit“ (Schmidt 2010: 650). Der Protest der Wähler von Protestparteien „kann vor allem gegen das Personal oder einen Teil des Personals der etablierten Politik, gegen Spielregeln des politischen Betriebs, die Regierungspolitik oder gegen Zustände oder Trends in Wirtschaft und Gesellschaft gerichtet sein“ (Schmidt 2010: 650).

Das Auftreten der Protestparteien ist daher in der Regel auf ein Nachlassen der Integrationsfähigkeit der etablierten Parteien zurückzuführen und wird durch die ebenfalls nachlassenden Bindekräfte dieser Parteien in ihren traditionellen Wählermilieus verstärkt. Insbesondere die großen Parteien müssen immer mehr um die Stimmen ihrer Stammwählerschaft fürchten. Die Volatilität des Wählervotums steigt, denn es „verschwinden sozial-kulturelle Stabilisatoren, die ein spontanes individuelles Abwandern zu extremen oder populistischen Lockangeboten verhindern“ (Holtmann 2002: 65). Wählern, die keine stabile Parteipräferenzen aufweisen, liegt es deutlich näher, einer Partei bei der Wahl einen ‚Denkzettel‘ zu verpassen und die Stimme situativ auch einmal einer Protestpartei zu geben (vgl. Holtmann 2002: 65).

Formal lässt sich der Typ ‚Protestpartei‘, angelehnt an Holtmann, wie folgt definieren (vgl. Holtmann 2002: 69f.).

a) Protestparteien formieren sich um ein Reizthema herum. Daher neigen sie stark dazu, eine one-issue-Partei zu verkörpern, die verbreitete Ängste und Aggressionen der Bevölkerung aufnimmt, bündelt und zugespitzt öffentlichkeitswirksam artikuliert.
b) Protestparteien durchlaufen keine lange Formierungsphase, sondern konstituieren sich quasi aus der Situation heraus. Begünstigt wird dies ggf. durch das „zu Wahlkampfzeiten erhöhte Interesse der medienvermittelten Öffentlichkeit“ (Holtmann 2002: 69).
c) Protestparteien stellen, mit unterschiedlicher Radikalität und Totalität, geltende Verfassungsnormen und politische Verfahrensregeln infrage und sprechen etablierten Parteien Problemlösungskompetenzen ab. In ihrem eigenen Handeln setzen sie auch auf kalkulierte Regelverletzungen.
d) Protestparteien werden aus situativen Gründen und nicht aus langfristigen stabilen Bindungen heraus gewählt.
e) Protestparteien artikulieren die diffusen Statusverlust- und Konkurrenzängste von potenziellen Modernisierungsverlierern infolge von ökonomischem und sozialem Wandel oder bedienen ein sozial unspezifisches Sicherheitssyndrom von Teilen der Bevölkerung mit ‚law-and-order‘ Parolen (vgl. Holtmann 2002: 70).
f) Protestparteien verweigern sich nicht generell Koalitionen mit etablierten Parteien. Ihr Streben nach Regierungsteilhabe erklärt sich aus „ihrer in der Regel relativ geringen gesellschaftlichen Vernetzung und ihres vergleichsweise schwächer entwickelten Organisationsgrades“ (Holtmann 2002: 70). Sie müssen den Machtvorteil einer Regierungspartei suchen, um ihre Strukturschwächen auszugleichen.

Den Typ der ‚populistischen Partei‘ beschreibt Hartleb in seinem Aufsatz (vgl. Hartleb 2008). Bis in die 90er Jahre wurde der Populismusbegriff nur recht nebensächlich behandelt und zumeist mit Parteien aus dem rechten Spektrum in Verbindung gebracht. Die Bundestagswahl 2005 und Gerhard Schröders Verbalangriffe auf die Linkspartei.PDS, in denen er diese und deren Politik als linkspopulistisch abqualifizierte, brachten den Begriff des ‚Linkspopulismus‘ in die mediale und gesellschaftliche Diskussion (vgl. Hartleb/Rode 2006: 162). Diese Angriffe dienten u.a. der Begründung der von ihm gestellten Vertrauensfrage.

Der Begriff ‚Populismus‘ bedeutet, positiv bewertet, „eine Politik, die die Probleme der »kleinen Leute« ernst nimmt, sie artikuliert und sich in direkter Kommunikation mit dem Volk vollzieht“ (Nohlen 1998: 515). Bewertet man ihn negativ, kann man ihn allgemein als Bezeichnung für eine Politik sehen, „die sich in der Gier nach Zustimmung von Seiten des Volkes demagogischer Parolen bedient, dem Volk nach dem Mund redet, an Instinkte appelliert und einfache Lösungen propagiert“ (Nohlen 1998: 514) und dabei verantwortungsethischen Problemen weitgehend keine Beachtung schenkt. Für Hartleb ist solch ein Politikstil grundsätzlich erst einmal weder extremistisch noch radikal, auch grundsätzlich nicht zwingend negativ, sondern Bestandteil jeder Demokratie (vgl. Hartleb 2008: 37). In den Medien und der öffentlichen Wahrnehmung herrscht allerdings eine überwiegend negative Konnotation vor.

Folgende fünf Merkmale werden sowohl links- als auch rechtspopulistischen Parteien zugeordnet (vgl. Hartleb 2004: 106ff. und Holtmann 2002: 69f.):

a) Populistische Parteien verstehen das Volk als homogene Einheit, Partikularinteressen werden negiert. Eigene Projekte werden von Populisten mit dem Willen des Volkes gleichgesetzt.
b) Populistische Parteien sehen sich in einer Gegnerschaft zum Establishment. Diesem unterstellen sie gegen den Willen des Volks zu handeln, daher zeigen sich auch offen ihren „Argwohn gegen ‚die da oben‘, gegen die politische und gesellschaftliche Elite“ (Hartleb 2004: 50). Ihre Kritik gilt ebenso dem Zentralismus, dem Bürokratismus, der Finanzherrschaft sowie dem Klientelismus des Staates.
c) Populistische Parteien vermuten die Tugend bei dem einfachen Bürger und sieht ihn als tugendhafter als die Regierenden. Ziel ist eine moralisch und organisatorische Erneuerung der Politik, begründet aus dem Ist-Zustand heraus. Die eigenen Motive werden als moralisch hochstehend und edel begriffen.
d) Populistische Parteien versuchen stark auf das Unmittelbare Bezug zu nehmen und eine direkte Verbindung zu ihrer Basis herzustellen. Politische und soziale Probleme werden im öffentlichen Diskurs auf singuläre Ursachen reduziert, komplexe Erklärungsansätze werden nicht angeboten. Vereinfachungen und Gleichsetzungen sollen den direkten Kontakt zur Basis stabilisieren und stellen deren Interesse in den Mittelpunkt.
e) Populistische Parteien lehnen sich an real existierende diffuse Einstellungen und Vorurteile aus der Bevölkerung an. Sie greifen damit tiefsitzende Ressentiments gegen die herrschende Politik auf und versprechen diese Defizite „mit der Fiktion konkreter Feindbilder zu beseitigen und dadurch das Gemeinwohl des ‚Volkes‘ zu vertreten“ (Hartleb 2004: 51).

Populismus entsteht oftmals als Folge von Krisenerscheinungen und Umbrüchen. Er ist dementsprechend nicht das Produkt stabiler und geordneter Verhältnisse (vgl. Hartleb 2004: 51). Das Auftreten populistischer Parteien fällt mit dem der schlagartigen Kappung affektiver Bindungen von Bevölkerungsgruppen an die soziale Ordnung einer Gesellschaft zusammen. Ihre bisherige Bindung verliert abrupt ihre ökonomische Basis und ihren kulturellen Ort in der gesellschaftlichen Realität. Statusängste ganzer Bevölkerungsgruppen und frustrierte Glückserwartungen führen zu hohen Potenzialen für populistische Parteien, die quer zum Spektrum politischer Richtungstraditionen liegen.

Für Parteien mit linkspopulistischer Ausprägung sind zudem folgende Merkmale von zentraler Bedeutung (vgl. Hartleb 2004: 151ff.):

a) Linkspopulistische Parteien sind häufig pazifistisch orientiert und treten als Parteien des Friedens auf. Dieser Position folgen ihre Proteste gegen Aufrüstung, Kriegseinsätzen im Ausland und Forderungen nach Kürzung der Militäretats.
b) Linkspopulistische Parteien sehen die USA und ihr kapitalistisches System als Taktgeber für eine sozialfeindliche globalisierte Welt. Weitere Kritikpunkte an den USA sind ihre Außen- und Militärpolitik, welche als imperialistisch gewertet werden. Die Globalisierung wird als starke Bedrohung und ungebremsten Kapitalismus wahrgenommen.
c) Linkspopulistische Parteien betonen immer wieder öffentlichkeitswirksam ihre antifaschistische und antirassistische Grundüberzeugung. Damit nehme sie einen moralisch höherwertigen Standpunkt in Anspruch, versuchen so aber auch politische Parteien der Mitte zu diskreditieren, indem sie ihnen faschistische Merkmale vorwerfen.

2.3 Struktur- und Organisationsmerkmale der Parteien

In den folgenden vier Unterkapiteln 2.3.1 bis 2.3.4 werden Idealtypen von Parteien dargestellt. Diese zeichnen sich jeweils durch ein gemeinsames Bündel bestimmter Struktur- und Organisationsmerkmale aus und lassen sich so von anderen Parteitypen abgrenzen. Es geht hingegen nicht um die Abbildung real existierender Parteien. Die entwicklungstypologisch dargestellten Parteitypen, die sich in der Epoche ihres Auftretens jeweils durch ihre dominante Stellung unter den Parteitypen Westeuropas ausgezeichnet haben, sind: a) die Rahmenpartei, b) die Massenintegrationspartei, c) die Volkspartei und d) die wahl-professionelle Partei (vgl. Grabow 2000: 12). Eben diese vier Parteitypen sind es, die in der sonst sehr heterogenen und unübersichtlichen Vielfalt der Parteientypologien eine Art Konstante bilden.

Diese Parteitypen, so wie auch die anderen „wichtigsten historischen-typologischen Ansätze in der Parteientheorie rekurrieren alle stark auf die organisatorischen Charakteristika der verschiedenen Parteitypen“ (Pogunthke 2000: 63). Daher ist eine Orientierung an zwei Fragen bei der Vorstellung der Parteitypen im zeitlichen Verlauf von zentraler Bedeutung: a) Wie ist die Partei strukturiert? Und b) Welche Zielgruppen unter den Wählern versucht sie zu mobilisieren? Dabei spielen bei a) vor allem die Anzahl der Parteimitglieder, die soziale Verankerung der Mitglieder und potenziellen Wähler, die Ausprägung der innerparteilichen Demokratie, der Organisationsaufbau und die Machtverteilung eine Rolle. Ferner findet die Stabilität und deren Dauerhaftigkeit Berücksichtigung (vgl. Grabow 2000: 12). Bei der Beantwortung von b) ist ist wichtig, „mit welchen inhaltlichen Grundlagen sowie strategischen Mitteln eine Partei versucht, bestimmte Wählergruppen zu mobilisieren“ (Grabow 2000: 12).

Wie bereits vorgestellt, bieten die unterschiedlichen Parteitypen durch ihre jeweils vorherrschende Dominanz zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Geschichte des Parteiensystems der BRD, die Möglichkeit Epochen der Parteitypen zu konstruieren. Dabei ist der Übergang von einer Epoche zur folgenden oder äquivalent von einem Parteityp zum nächsten immer eine langsamer prozesshafter Wandel. Geschuldet ist dieser entweder exogenen Faktoren, wie etwa veränderten Systembedingungen, unter denen Parteien agieren, oder endogenen Faktoren, wozu innerparteilichen Veränderungen zählen. Als Beispiel wären hier Personalentscheidungen oder Veränderungen in der Mitgliederstruktur anzuführen. Diese entwicklungstypologische Perspektive schließt nicht aus, dass die in den verschiedenen Epochen aufgetretenen Parteitypen nicht auch zeitgleich empirisch nachgewiesen werden können. Es ist durchaus möglich, dass „in Parteien in Abhängigkeit äußerer wie innerer Faktoren Organisationsmerkmale eines älteren Typs wieder auftauchen, sich mit neuen Merkmalen überlappen und sich Mischformen zwischen den hier skizzierten Typen bilden“ (Grabow 2000: 31). Für die vorliegende Arbeit heißt das, dass „empirisch gesehen […] keine zeitgenössische Partei nur ideale Rahmenorganisation, Massenintegrations-, Allerwelts- oder wahl-professionelle Partei“ (Grabow 2000: 31) ist. Jede Partei zeigt verschiedene Merkmale der im Folgenden vorgestellten Parteitypen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung.

Zusammengefasst: Zeitgenössisch real existierende Parteien müssen zum Beispiel nicht unbedingt alle Merkmale einer wahl-professionellen Partei aufweisen oder dem Typ überhaupt zu zuordnen sein. Die verschiedenen Parteitypen werden im Folgenden vorgestellt, damit später analysiert werden kann, welchen Typen die Partei DIE LINKE.NRW tendenziell zugeordnet werden kann.

[...]


[1] Umfragedaten abgerufen von http://www.wahlrecht.de/umfragen/index.htm am 12.05.2012 23:07 Uhr.

[2] 2011: Bürgerschaftswahl in Hamburg und Bremen, Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz. 2012: Landtagswahlen im Saarland und Schleswig-Holstein.

[3] In ähnlichen Kontext entstanden sind: Maike Vogelgesang: „Die Oskar-Partei? DIE LINKE im Saarland – eine parteientypologische Einordnung“ (Vogelgesang 2010) und Daniel Junglas: „Die Linke in Rheinland-Pfalz – eine parteientypologische Untersuchung“ (Junglas 2009) sowie Olaf Streubig mit seiner aktuellen Arbeit „DIE LINKE in Hessen“ (Streubig 2011).

[4] Auf Bundesebene ist die Sperrklausel durch § 6 Absatz 6 des Bundeswahlgesetztes definiert. Parteien müssen mindestens 5 % der Stimmen erhalten, um in den Bundestag einzuziehen. Durch die Grundmandatsklausel kann die Sperrklausel ebenfalls übersprungen werden: Drei Direktmandate für eine Partei führen ebenfalls zu ihren Einzug mit der prozentual am bundesweiten Stimmanteil entsprechenden Anzahl von Mandaten. Ausgenommen von der Fünf-Prozent-Hürde sind alle Parteien nationaler Minderheiten in Deutschland, welche auch den Definitionsrahmen von Kleinparteien fallen könnten (BWG). Um an der staatlichen Parteienfinanzierung zu partizipieren sind 0,5 Prozent der Zweitstimmen bei Europa- oder Bundeswahlen oder 1,0 Prozent bei Landtagswahlen Voraussetzung (vgl. Jun/Kreikenbom 2006: 22).

Ende der Leseprobe aus 140 Seiten

Details

Titel
Die Partei DIE LINKE in Nordrhein-Westfalen
Untertitel
„Radikale Spinner“ auf dem Weg zur geordneten Interessenpartei?
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Institut für Politikwissenschaft)
Note
2,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
140
Katalognummer
V203521
ISBN (eBook)
9783656474197
ISBN (Buch)
9783656474333
Dateigröße
1427 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
DIE LINKE, NRW, Parteienforschung, Linkspartei, Nordrhein-Westfalen, SPD, Hannelore Kraft, Sahra Wagenknecht, KPF
Arbeit zitieren
Florian Reuther (Autor:in), 2012, Die Partei DIE LINKE in Nordrhein-Westfalen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/203521

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