Die Facetten des rechten Terrors in Deutschland nach 1989

Herkunft und Gegenwartsentwicklung


Referat / Aufsatz (Schule), 2017

46 Seiten, Note: 14


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Herkunft und Ursprung des Rechtsextremismus
2.1 Rechtsextremismus in der DDR
2.2 Rechtsextremismus in der BRD

3 Rechtsextremismus seit der Wiedervereinigung 1989
3.1 1989 – 2000
3.1.1 Mord an Amadeu Antonio Kiowa 1990
3.1.2 Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991
3.1.3 Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992
3.1.4 Mordanschlag Mölln 1992
3.1.5 Brandanschlag Solingen 1993
3.1.6 Mord an Patrick Thürmer 1999
3.2 2001 – 2013
3.2.1 Mord an Marinus Schöberl 2002
3.2.2 Mord an Kamal Kilade 2010
3.2.3 Nationalsozialistischer Untergrund
3.3 2014 – 2017
3.3.1 Freital 2015
3.3.2 Ausschreitungen in Heidenau 2015
3.3.3 Mordanschlag in Köln 2015
3.3.4 Ausschreitungen in Clausnitz 2016
3.3.5 Amoklauf in München 2016

4 Schluss

5 Literaturverzeichnis
5.1 Buchquellen
5.2 Internetquellen
5.3 Weitere Quellen

6 Anhang
6.1 Komplette Auflistung der rechtsextremen Morde seit 1989
6.2 Verdachts- und Sonderfälle
6.3 Abkürzungen

1 Einleitung

Mehr als 1800 politisch motivierte Straftaten gegenüber Migrant_innen1 von Januar bis August 20162, 372 per Haftbefehl gesuchte Neonazis3, mindestens 179 Todesopfer rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung 19894 – und trotz dieser erschreckenden Zahlen haben rechtspopulistische, rechtskonservative und rechtsextreme Parteien in ganz Europa großen Zulauf. Laut einer Umfrage5 vom 22.11.2016 würden 25% der Sachsen die „Alternative für Deutschland“ (AfD) wählen. In Österreich erreichte Norbert Hofer für die „Freiheitliche Partei Österreichs“ (FPÖ) erschreckende 46,6% im dritten Wahlgang zum Bundespräsidenten und verlor somit nur relativ knapp gegen Alexander van der Bellen von den Grünen, welcher mit 53,4% die Wahl für sich entscheiden konnte6. In Frankreich besteht für Marine Le Pen von der „Front National“ (FN) eine Chance bei der Präsidentenwahl 2017 in die Stichwahl zu kommen. Laut aktuellen Umfragen ist die „Partij voor de Vrijheid“ („Partei für die Freiheit“, PVV) von Geert Wilders in den Niederlanden die stärkste Partei, Großbritannien erfüllte mit dem BREXIT eine Forderung der „UK Independence Party“ (UKIP), in Ungarn ließ der Ministerpräsident Viktor Orbán die Grenze mit einem Zaun abriegeln um gegen ankommende Geflüchtete vorzugehen7.

Vor allem in Deutschland ist der gesellschaftliche und politische Rechtsruck zu spüren: Laut des Tagesspiegels gab es von Januar bis Oktober 2016 bereits elf versuchte Tötungsdelikte8, in Bayern erlag im Oktober 2016 ein Polizist seinen Verletzungen nachdem er von einem sogenannten „Reichsbürger“9 angeschossen wurde10. Am 17.10.2015 wurde in Köln die Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker von einem Rechtsradikalen niedergestochen, weil er „ein Klima der Angst schaffen und die Politik beeinflussen“11 wollte. Das gemeinnützige Recherchezentrum „CORRECTIV“ beschrieb nach dem Attentat die aktuelle Stimmung in Deutschland mit folgenden Worten: „Die Stimmung ist aufgeheizt in jenen Tagen. Pegida demonstriert, die AfD gießt Öl ins Feuer, enthemmte Wutbürger tragen Galgen durchs Land, an denen Merkel und Gabriel baumeln sollen, symbolische Aufforderungen zur Gewalt an Politikern allerorten.“12.

In der vorliegenden Arbeit soll gezeigt werden, wie sich Rechtsextremismus in Deutschland seit dem Ende des Nationalsozialismus entwickelt hat. Dazu wird im ersten Abschnitt die Herkunft und der Ursprung rechtsextremer Einstellungen in beiden Teilen Deutschlands zwischen 1945 und 1989 untersucht. Im zweiten Teil der Arbeit soll die Gegenwartsentwicklung des Rechtsextremismus in Deutschland seit der Wiedervereinigung 1989 behandelt werden. Hierzu soll auf exemplarische Ereignisse näher eingegangen werden.

2 Herkunft und Ursprung des Rechtsextremismus

2.1 Rechtextremismus in der DDR

Über Rechtsextremismus in der DDR sind nur wenige Aufzeichnungen vorhanden, er war allerdings im Gegensatz zur BRD kaum ideologisch fundiert und zeichnete sich durch seine besondere Aggressivität aus13, hierzu werden in den folgenden Absätzen Beispiele genannt. Laut Richard Stöss „war die DDR blind gegenüber dem Rechtsextremismus im eigenen Lande.“14, was er auf einen „sozialwissenschaftlich nicht tragfähigen Faschismusbegriff“ 15 zurückführt. Rechtsextremistische Tendenzen galten als Tabu-Thema, „weil nicht sein kann, was nicht sein darf“16. Im Entnazifizierungsverfahren17 in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wurden viele als belastet eingestufte Personen18 inhaftiert oder setzten sich in die westlichen Besatzungszonen ab. Andere begannen sich in neu zugelassenen Parteien wie der „Christlich-Demokratischen Union“ (CDU), der „Liberaldemokratischen Partei Deutschlands“ (LDPD) oder der „Sozialistischen Einheitspartei“ (SED) zu engagieren „um nicht mehr als Mitträger des NS-Regimes erkannt zu werden“19. Von vielen Bürger_innen der SBZ wurden diese Entnazifizierungsverfahren als „von der Besatzungsmacht angeordnetes Übel“20 empfunden.

Für Neonazis in der DDR bedeuteten die rechtsradikalen Parolen jedoch nicht ausschließlich eine Identifikation mit dem nationalsozialistischen Gedankengut, sondern auch eine Ablehnung der antifaschistischen Staatsdoktrin21. Gegen Ende der achtziger Jahre verzeichneten rechtsextreme Gruppierungen im Osten einen hohen Zulauf. So waren der Kriminalpolizei der DDR im Jahr 1986 etwa 1500 Jugendliche bekannt, welche dem militanten Rechtsextremismus zugeneigt waren22. 1959 bildeten einige SchülerInnen der Polytechnischen Oberschule Beeskow eine SS-ähnliche Gruppe. Im darauffolgenden Jahr wurden 40 Jugendliche wegen Gründung einer rechtsextremistischen Untergruppe verhaftet. Auch in den folgenden Jahren kam es immer wieder zu Zwischenfällen, beispielsweise wurden Schweigeminuten anlässlich des Geburtstags Adolf Hitlers abgehalten oder antisemitische Parolen und Lieder verwendet23. Zu einer der wenigen bekannten Taten gehört unter anderem die versuchte Sprengung der Wohnung eines Mitglieds der jüdischen Gemeinde in Halle/S. im Oktober 1976 und diverse antisemitische Friedhofsschändungen24. Außerdem kam es am 17. Oktober 1987 zu einem Überfall auf ein Punk-Konzert in der Berliner Zionskirche durch ca. 30 rechtsextremen Skinheads. Beteiligt an dem Übergriff waren auch mehrere rechte Skinheads aus West-Berlin. Viele Besucher_innen des Konzerts wurden bei dem Überfall verletzt25. In Leipzig zeigte sich die Verbindung der rechten Szene zu Fußball-Hooligans, besonders bei Fans der BSG Chemie Leipzig e. V. und des 1. FC Lokomotive Leipzig e. V., welche nicht selten nach Spielen gemeinsam mit Neonazis durch den Hauptbahnhof marschierten. Im Frühjahr 1988 wurde in Karl-Marx-Stadt „einem etwas fremdländisch aussehendem Mädchen von rechtsextrem gesinnten Jugendlichen unter übelsten antisemitischen Beschimpfungen ein Davidsstern in den Oberarm geschnitten“26. Die Neonazis der DDR wurden von ihren KameradInnen aus der BRD lange Zeit wegen ihrer enormen Gewaltbereitschaft und Brutalität bewundert27.

2.2 Rechtsextremismus in der BRD

Rechtsextremismus war seit 1945 fester Bestandteil der politischen Landschaft in der Westlichen Besatzungszone (WBZ) und späteren Bundesrepublik28. Die rechte Szene bestand im Westen überwiegend aus Parteien, Verbänden und Jugendorganisationen und war somit strukturiert, organisiert und ideologisch fundiert29. Zehn Jahre nach Gründung der BRD, am 25. Dezember 1959, wurde die Kölner Synagoge von Rechtsextremen durch „nazistische Schmierereien geschändet“30. Dies hatte eine Initialwirkung und es folgten mehrere Schmieraktionen und Friedhofsschändungen31. Mitte der siebziger Jahre kam es trotz niedriger Mitgliederzahlen im organisierten Rechtsextremismus zu einem starken Anstieg der Gesetzesverletzungen. Zu diesem „Boom“ kam es aus zwei Gründen: Zum einen nahm sich die rechte Szene den linken Terrorismus der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) als Vorbild und baute eine neonazistische Terrorszene auf. Dazu gehörte unter anderem die „Volkssozialistische Bewegung Deutschlands“ (VSBD) und die „Wehrsportgruppe Hoffmann“32, 1973 gegründet von Karl-Heinz Hoffmann, welcher auch im Zusammenhang mit dem NSU auftauchte33. Des Weiteren gab es 1960/61 vor allem an Schulen „Hakenkreuzschmierereien, „Judenwitze“ und pronazistische bzw. fremdenfeindliche Provokationen“34. Als sich am 28. November 1964 die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) aus „473 alten und neuen Nazis, Nationalisten und Nationalkonservative[n]“35 gründete, erfuhr die rechte Szene der BRD erneut großen Zulauf. Am 17. Juni 197536 demonstrierten ca. 3500 Angehörige der „Deutschen Volksunion“ (DVU), der Wiking-Jugend, der NPD und des Stahlhelms in Bonn für die Wiedervereinigung37. Den Saalschutz bei NPD-Veranstaltungen übernahm die bereits genannte „Wehrsportgruppe Hoffmann“ (WSG). Nach mehreren Razzien bei denen unter anderem Waffen und ein Panzer beschlagnahmt wurden, wurde sie am 30.01.1980 vom damaligen Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) verboten38. Die größte neonazistische Gruppierung in Deutschland war die 1979 gegründete „Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige“ (HNG). Ihr Ziel war die Verfestigung der nationalsozialistischen Ideologie39. Auch diese Gruppierung trat später in Verbindung mit dem NSU in Erscheinung40.

Am 11. April 1968 schoss der Rechtsextremist Josef Bachmann auf dem Berliner Kurfürstendamm auf den politischen Aktivist Rudi Dutschke, welcher dabei lebensgefährlich verletzt wird und elf Jahre später an den Folgen des Attentats stirbt41. Dutschke war der damals bekannteste Redner der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Der Attentäter hatte einen Artikel der rechtsextremen „Deutschen National-Zeitung“ (DNZ) bei sich, welcher mit der Schlagzeile „Stoppt Dutschke jetzt! Sonst gibt es Bürgerkrieg“ versehen war42.

Der wahrscheinlich größte rechtsextrem motivierte Angriff in der Bundesrepublik ereignete sich am 26. September 1980. Während des Münchner Oktoberfest explodierte um 22:21 Uhr eine Bombe am Haupteingang. 13 Menschen wurden dabei getötet, 211 schwer verletzt. Der Täter selbst – Gundolf Wilfried Köhler, Anhänger der wenigen Monate zuvor verbotenen WSG – starb bei dem Attentat. Seit diesem Anschlag werden auf dem Volksfest keine Papierkörbe mehr aufgestellt, da der Täter die Bombe mit knapp 1,5 Kilogramm TNT in einem solchen platzierte. Laut der Bundesanwaltschaft war Köhler ein „von einer Persönlichkeitskrise und Unzufriedenheit mit dem System getriebener Einzeltäter“ und kein vernetzter Rechtsterrorist. Die Angehörigen der Opfer vermuten allerdings einen rechtsextremistisch motivierten Terrorakt. Heute erinnert eine Stele, umringt von einer rostigen, durchlöcherten Stahlwand an die Opfer des Attentats. Für jedes der Opfer wurde ein Stahlsplitter in den Boden eingearbeitet. Der Bildhauer Friedrich Koller, welch er das Denkmal gestaltete, zeigt mit dem Stahlmantel eine „Metapher für Schutz, ja für Demokratie“, welche jedoch verletzt wurde und jetzt Wunden zeigt43.

Im Dezember 1980 wurden der jüdische Verleger Shlomo Lewin und dessen Frau ebenfalls von einem Ex-Mitglied der WSG erschossen44.

Im Jahr 1981 zählte der Verfassungsschutz 17 Todesopfer rechtsextremer Gewalt, im darauffolgenden Jahr sechs. Dazu kamen 1982 15 Brandanschläge und fünf Sprengstoffanschläge45. Außerdem begannen Odfried Hepp, ebenfalls Ex-Mitglied der WSG, und Walter Kexel, Mitglied der VSDB, 1982 eine Untergrundorganisation aufzubauen46. Kexel erschoss sich selbst, nachdem er 1985 einen Grenzwachtgefreiten und einen Kantonspolizisten an der Schweizer Grenze tötete47.

3 Rechtsextremismus seit der Wiedervereinigung 1989

Mit der deutschen Wiedervereinigung kam es bundesweit zu einem steigenden Gewaltpotential von Rechtsextremisten und Neonazis. Die Szene vernetzte sich bundesweit und international48. Mit dem Sturz des DDR-Regimes wurde den Völkischen gezeigt, dass politische Umwälzungen durchaus möglich seien49. Die Zahl der Gewalttaten verzehnfachte sich von 270 (1990) auf 2584 (1992), davon ereigneten sich 865 auf dem ehemaligen Gebiet der DDR. Im Vergleich zu früheren Taten gab es nach der Wende Schaulustige und AnwohnerInnen, welche sich mit den TäterInnen solidarisierten und diese bejubelten50, wie beispielsweise 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Eine Liste der Amadeu Antonio Stiftung51 zählt 179 Todesopfer rechter Gewalt und 20 Verdachtsfälle. Darunter nicht nur Migrant_innen, sondern auch Antifaschist_innen, Obdachlose, Kinder und Polizist_innen52. Es wurden also seit 1989 über 180 Menschen „totgetreten, erschlagen, erschossen, erstochen oder zu Tode gehetzt“. Laut Bundesregierung sind es lediglich 58 Tote53.

In Deutschland orientiert sich die Definition von Terrorismus an den Taten der „Roten Armee Fraktion“ (RAF), welche zu ihren Morden Bekennerschreiben verfasste und ihre Motivation erklärte54. Im Gegensatz dazu gibt es allerdings zu kaum einem rechtsextremen Überfall ein Bekennerschreiben. Diese sind aber meist auch nicht nötig, denn wer sich mit rechter Mode und Musik auseinandersetzt, wird schnell Parolen finden, die zu solchen Taten aufrufen. So prangern auf T-Shirts Sprüche wie „Vernichtet den Feind“ oder „Gegen Demokraten – Helfen nur Granaten“55. Weiterhin heißt es im Lied „Ich bin dabei“ der Rechtsrock-Band Sturm 18 (18 als Chiffre für Adolf Hitler) „Wir werden Terroristen sein, ja und ich bin dabei. Wir räumen hier auf, wir räuchern sie aus. Macht der Rasselbande den Garaus. Für jeden dieser feinen Herren gibt’s ’nen Koffer voll TNT und für Spiegel, Friedmann und Konsorten auf Wunsch auch gerne Zyklon B.“56. Wer nach solchen Texten sucht, wird schnell fündig. Die Lieder sind öffentlich zugänglich, Rechtsrock-Bands und rechte LiedermacherInnen wie Landser, Kategorie C, Makks Damage und Stahlgewitter können diese auf Konzerten und Festivals, wie zum Beispiel im Oktober 2016 in der Schweiz, verbreiten57.

3.1 1989 – 2000

In den neunziger Jahren radikalisierte sich die rechtsextreme Szene zunehmend durch Wehrsport und Schießübungen, so Martina Renner, die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion in Thüringen58.

In den folgenden Absätzen werden diverse rechtsextrem motivierte Übergriffe im Zeitraum von 1989 bis 2000 aufgelistet. Auf ausgewählte Vorfälle wird im Verlauf der Arbeit näher eingegangen.

Am 31. Januar 1992 wurde die Flüchtlingsunterkunft im hessischen Lampertheim angezündet. Dabei starb eine dreiköpfige Familie aus Sri Lanka. Die drei jugendlichen Täter wurden im Herbst 1992 festgenommen und 1994 wegen besonders schwerer Brandstiftung zu viereinhalb bis fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Einen fremdenfeindlichen Hintergrund sah das Gericht nicht59. In der Nacht vom 17. zum 18. Januar 1996 wurden bei einem Brandanschlag auf das Flüchtlingsheim in Lübeck zehn Menschen, darunter sechs Kinder, getötet und 38 Menschen verletzt. TäterInnen wurden nie gefasst60. Im Jahr 1997 erschoss der Neonazi Kay Dieser einen linken Buchhändler und einen Polizisten61. Im Februar 1999 jagten elf Jugendliche den Geflüchteten Farid Guendoul alias Omar Ben Noui62 durch das brandenburgische Guben. Auf der Flucht verletzte sich das Opfer eine Beinarterie und starb kurz darauf aufgrund des hohen Blutverlusts. Der damals 21-jährige Haupttäter Alexander B. wurde wegen versuchter Körperverletzung mit Todesfolge zu nur zwei Jahren Jugendgefängnis verurteilt63.

Besonders Ende der neunziger Jahre gab es Hinweise auf mögliche weitere rechte Terrorzellen. So berichtete der Tagesspiegel 1999, „dass die Gefahr rechtsextremer Terroraktionen zunehme.“64.

Der Neonazi Michael Berger erschoss am 14. Juni 2000 drei Polizisten und anschließend sich selbst. Nach seinem Tod wurde er von seinen Kameraden als „Märtyrer“ gefeiert65.

Einen Monat später wurde in Düsseldorf eine Bombe gezündet. Dabei wurden zehn Menschen verletzt, ein ungeborenes Kind wurde getötet. Erst 16 Jahre nach der Tat, im Februar 2017, wurde der Täter gefasst. Der mittlerweile 50-jährige Ralf S. hatte Kontakte in die rechte Szene. Zwischenzeitlich wurde auch eine Verbindung zu den Taten des NSU vermutet66.

In den elf Jahren von 1989 bis 2000 gab es insgesamt 122 Todesopfer rechter Gewalt, davon sind allerdings nur 54 staatlich anerkannt67.

3.1.1 Mord an Amadeu Antonio Kiowa 1990

Der angolanische Vertragsarbeiter Amadeu Antonio Kiowa zählt zu den ersten Todesopfern rechtsextremer Gewalt seit der Wiedervereinigung 1989. In der Nacht zum 25. November 1990 traf er in Eberswalde (Brandenburg) auf rund 50 Neonazis. Diese attackierten Amadeu Antonio und seine Freund_innen mit Latten und Baseballschlägern. Auf der Flucht wurde er weiterhin von zehn Neonazis verfolgt, welche ihn später brutal geschlagen und ins Koma getreten hatten. Elf Tage nach dem Angriff verstarb Amadeu Antonio im Krankenhaus. Fünf TäterInnen wurden zwei Jahre später wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt68.

3.1.2 Ausschreitungen in Hoyerswerda 1991

Am 17. September 1991 verjagten jugendliche Neonazis vietnamesische Händler_innen vom Marktplatz in Hoyerswerda. Vor dem Heim für Vertragsarbeiter_innen, wohin die Menschen flüchteten, sammelte sich schnell ein immer größer werdender rassistischer Mob. Erst flogen Steine, am darauf folgenden Tag Molotowcocktails. Am 20. September räumte die Polizei die Unterkunft. Aufgrund der vorherrschenden rassistischen Stimmung griff der Mob von mittlerweile fast 500 Personen die örtliche Flüchtlingsunterkunft an. Die dort lebenden 240 Personen mussten von einem Sondereinsatzkommando der Polizei in Sicherheit gebracht werden. Insgesamt wurden 32 Personen verletzt69. Die Ausschreitungen in Hoyerswerda im September 1991 waren die Grundlage für viele rassistische Übergriffe, die in den nächsten Jahren folgen sollten.

3.1.3 Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992

Die Vorfälle in Rostock-Lichtenhagen zählen bis heute noch zu den schwersten rassistischen Ausschreitungen seit 194570. Vom 22. bis zum 28. August 1992 versammelten sich bis zu 1200 GewalttäterInnen und 3000 Schaulustige im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen71. Ein Plattenbau war seit Ende 1990 eine Anlaufstelle für Asylbewerber_innen, im August 1992 galt er als komplett überfüllt. Die ankommenden Menschen, überwiegend Sinti und Roma, mussten tagelang auf der Wiese vor dem Plattenbau ohne Sanitäranlagen und Versorgung im Dreck leben. Bereits am Nachmittag des 22. August 1992 beschimpften Neonazis und AnwohnerInnen die Geflüchteten, des Weiteren wurde ein Polizist verprügelt und ein Polizeiwagen angezündet72. In der darauffolgenden Nacht eskalierte die Situation. Knapp 3000 Menschen umzingelten den Plattenbau, brüllten Parolen und warfen unter dem Applaus der AnwohnerInnen Steine und Molotowcocktails auf die Unterkunft. Die Einsatzleitung der Polizei war überfordert, erst nach drei Stunden kamen Wasserwerfer zum Einsatz, nach 18 Stunden wurde Verstärkung angefordert, zeitweise hatte sich die Polizei komplett zurückgezogen. Am Mittag des darauffolgenden Tages kamen wieder Neonazis zusammen, diesmal waren auch KameradInnen aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein angereist. Auch die „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“ (GdNF) unter Michael Kühnen und Christian Worch agierte vor Ort73. Bereits einige Tage vorher wurden in der Stadt rund 100.000 Flugblätter der Aktion „Rostock bleibt deutsch“, gesteuert von Michael Andrejewski (NPD), verteilt. Erst am 24. August 1992 wurden die Bewohner_innen von der Polizei evakuiert, begleitet vom Jubel der AnwohnerInnen und Neonazis. In der folgenden Nacht wurde der benachbarte Plattenbau in der Mecklenburger Allee 19 angegriffen. Dieser diente zu diesem Zeitpunkt ebenfalls als Wohnheim für rund 150 ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter_innen. Im Haus befanden sich auch die Journalisten Thomas Eutin und Jochen Schmidt, die für das ZDF berichteten, sowie Antifaschist_innen, die den Bewohner_innen Schutz bieten wollten. Die AngreiferInnen warfen wieder Steine und Brandsätze, verriegelten die Notausgänge und griffen das Haus mit Äxten und Baseballschlägern an. Weiterhin hielten sie die Feuerwehr davon ab, die Brände zu löschen. Letztendlich half eine Nachbarin den Menschen über das Dach in das benachbarte Gebäude zu fliehen74. Die Politik reagierte auf die Vorfälle mit einer Verschärfung des Asylrechts. Der amtierende Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern Berndt Seite erklärte bereits am 25. August 1992, die Vorfälle würden zeigen, dass die Bevölkerung durch den „ungebremsten Zustrom von Asylanten“ überfordert sei75. Auch die Strafverfolgung der TäterInnen ging schleppend voran. Aus über hundert eingeleiteten Ermittlungsverfahren folgten 32 Anklagen, meist Bewährungsstrafen oder Jugendarrest. Drei Neonazis wurden wegen schwerer Brandstiftung und Landfriedensbruch zu Haftstrafen von bis zu drei Jahren verurteilt76. Vier weitere TäterInnen wurden wegen versuchten Mordes angeklagt, da ein von ihnen geworfener Molotowcocktail in einem Raum explodierte. Der Prozess begann erst im Jahr 2001. Ein Verfahren war bereits verjährt, die anderen drei Angeklagten erhielten Bewährungsstrafen77.

[...]


1 Anmerkung: Um auch andere Geschlechter neben Mann und Frau zu berücksichtigen, wurde im vorliegenden Text die Form des „Gender Gap“ verwendet. Bei VertreterInnen der rechten Szene wurde das Binnen-I verwendet, da es in ihrem Selbstverständnis keine weiteren Geschlechter, sondern nur Männer und Frauen gibt. Auf die Verwendung des generischen Maskulinums wurde bewusst verzichtet. Zitate wurden ohne Änderung übernommen.

2 Vgl. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-rechte-gewalt-gegen-auslaender-nimmt-zu-a- 1113669.html (21.11.2016).

3 Stand: 23. September 2015, vgl. https://www.tagesschau.de/inland/terror-von-rechts-101.html (21.11.2016).

4 Vgl. http://www.opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/todesopfer-rechter-gewalt/ (21.02.2017).

5 Vgl. http://www.focus.de/politik/deutschland/umfrage-in-sachsen-allzeithoch-afd-kommt-auf-25-prozent- der-stimmen_id_6238311.html (22.11.2016).

6 Vgl. http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-11/bundespraesidentenwahl-oesterreich-norbert-hofer- alexander-van-der-bellen-live (04.12.2016).

7 Vgl. https://www.welt.de/politik/ausland/article154723983/Wo-Europa-nach-rechts-driftet.html (22.11.2016).

8 Vgl. http://m.tagesspiegel.de/politik/rechtsextremismus-zahl-der-versuchten-toetungsdelikte-durch- neonazis-steigt-stark/14703844.html?utm_referrer=http%3A%2F%2Fm.facebook.com%2F (19.10.2016).

9 Eine allgemeingültige Definition existiert nicht, da es keine einheitliche „Reichsbürger-Bewegung“ gibt. Sie orientieren sich an einer rechtsextremistischen, antisemitischen und rassistischen Ideologie, welche mit esoterischen Weltbildern und Verschwörungstheorien vermischt wird. Sie lehnen die Bundesrepublik Deutschland als Staat ab und behaupten, das Deutsche Reich bestehe bis heute in den Grenzen von 1937. Vgl. http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/reichsbuerger-wer-sie-sind-was-sie-wollen-a- 1117364.html (05.12.2016).

10 Vgl. http://www.merkur.de/politik/schuesse-von-reichsbuerger-polizist-erliegt-seinen-verletzungen-zr- 6859488.html (23.11.2016).

11 Vgl. http://www.spiegel.de/panorama/justiz/attentat-auf-henriette-reker-angeklagter-frank-s-zu-14- jahren-haft-verurteilt-a-1100893.html (23.11.2016).

12 Vgl. https://correctiv.org/blog/ruhr/artikel/2016/10/17/reker-attentat-festplatte-frank-s-doch-ein-nazi/ (17.10.2016).

13 Vgl. Stöss, Richard: Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, 3. überarbeitete Auflage, Berlin, 2000, S. 150.

14 Ebd., S. 62.

15 Ebd.

16 Madloch, Norbert: „Rechtsextremismus in Deutschland nach dem Ende des Hitlerfaschismus“, in: Kinner, Klaus/Richter, Rolf (Hrsg.): Rechtsextremismus und Antifaschismus: Historische und aktuelle Dimensionen, Berlin, 2000, S. 64.

17 „Von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführte Maßnahmen in Deutschland und Österreich, um ehemalige Nationalsozialisten aus wichtigen Positionen zu bringen und auch die nationalsozialistischen Strukturen zu zerstören.“, http://wissen.woxikon.de/entnazifizierung (30.11.2016).

18 „Hauptschuldige, […] Aktivisten, Militaristen und Nutznießer“, Vgl. http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/dossier-nationalsozialismus/39605/entnazifizierung- und-erziehung?p=all (30.11.2016).

19 Madloch (2000), S. 66.

20 Ebd.

21 Vgl. Stöss (2000), S. 63.

22 Vgl. Ebd., S. 63/64.

23 Vgl. Madloch (2000), S. 68 – 70.

24 Zitiert nach Gensing, Patrick: Terror von rechts Die Nazi-Morde und das Versagen der Politik, Berlin, 2012, S. 45.

25 Vgl. Stöss (2000), S. 64.

26 Madloch (2000), S. 80.

27 Vgl. Stöss (2000), S. 63.

28 Vgl. Madloch (2000), S. 106.

29 Vgl. Stöss (2000), S. 150.

30 Ebd., S. 151.

31 Vgl. Ebd.

32 Vgl. Ebd., S.152-153.

33 Vgl. http://www.br.de/nachrichten/rechtsaussen/oktoberfestattentat-nsu-netzwerke-100.html (30.11.2016).

34 Stöss (2000), S. 153.

35 Madloch (2000), S. 114.

36 Am 17. Juni 1953 kam es zur ersten Massenerhebung im Machtbereich der Sowjetunion. DDR- Bürger_innen forderten Senkung der Normen, Freilassung politischer Häftlinge, freie Wahlen, den Rücktritt der Regierung und die Einheit Deutschlands. In Ost-Berlin wird zum Generalstreik aufgerufen, in der ganzen Stadt demonstrierten zehntausende Menschen. Die Demonstrationen wurden von sowjetischen Truppen und Panzern gewaltsam aufgelöst. Dabei starben 55 Demonstrant_innen, Passant_innen und Zuschauer_innen. Vgl. https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/der-aufstand-des-17-juni- 1953/152593/der-aufstand (05.12.2016).

37 Vgl. Gensing (2000), S. 70.

38 Vgl. Gensing (2012), S. 49.

39 Vgl. Ebd., S. 51.

40 Vgl. Ebd., S. 52.

41 Vgl. Dutschke, Gretchen: Rudi Dutschke Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben, Köln, 2007, S. 501.

42 Vgl. Maegerle, Anton/Röpke, Andrea/Speit, Andreas: „Der Terror von rechts – 1945 bis 1990“, in Röpke, Andrea/Speit, Andreas (Hrsg.): Blut und Ehre Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland, Berlin, 2013, S. 34.

43 Vgl. http://www.br.de/wiesn/oktoberfest-attentat-bombenanschlag100.html (30.11.2016).

44 Vgl. Gensing (2012), S. 49.

45 Vgl. Ebd., S. 46.

46 Vgl. Ebd., S. 50.

47 Vgl. Sochatzy, Klaus: „Parole: rechts! Jugend, wohin? Neofaschismus im Schülerurteil.“, in: „Der Spiegel“, 1981, 3/1981, 12.01.1981, S. 85.

48 Vgl. Gensing (2012), S. 58.

49 Vgl. Ebd., S. 61.

50 Vgl. Stöss (2000), S. 153.

51 Amadeu Antonio Stiftung: Initiative für Zivilgesellschaft und demokratische Kultur, gemeinnützige Stiftung bürgerlichen Rechts, wendet sich konsequent gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Rassismus. Namensgeber der Stiftung war Amadeu Antonio Kiowa (siehe 3.1.1), eines der ersten Todesopfer rechtsextremer Gewalt seit dem Fall der Mauer. Vgl. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wir-ueber- uns/ (05.12.2016).

52 Vgl. http://www.opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/todesopfer-rechter-gewalt/ (04.12.2016).

53 Gensing (2012), S. 12.

54 Vgl. Ebd., S. 22.

55 Vgl. Ebd., S. 21.

56 Zitiert nach Gensing (2012), S. 28.

57 Vgl. http://www.netz-gegen-nazis.de/lexikontext/liste-rechtsextremer-bands-und-liedermacher (05.12.2016), http://blog.zeit.de/stoerungsmelder/2016/10/17/neonazis-schweiz-rock-konzert_22534 (05.12.2016).

58 Vgl. Gensing (2012), S. 129.

59 Vgl. http://www.morgenweb.de/region/sudhessen-morgen/lampertheim/vor-20-jahren-erschuttert-ein- brand-die-stadt-1.171775 (21.02.2017).

60 Vgl. http://stadtzeitung.luebeck.de/archiv/artikel/id/19390 (21.02.2017).

61 Vgl. Gensing (2012), S. 54.

62 Vgl. http://www.opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/erinnerungen/februar/farid-guendoul-alias-omar- ben-noui/ (05.12.2016).

63 Vgl. Gensing (2012), S. 109.

64 Ebd., S. 52.

65 Vgl. Ebd., S. 54.

66 Vgl. http://www.rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/anschlag-in-duesseldorf-wehrhahn-2000- mutmasslicher-attentaeter-in-haft-aid-1.6575557 (01.02.2017).

67 Vgl. http://www.opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/todesopfer-rechter-gewalt/ (21.02.2017).

68 Vgl. http://www.opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/erinnerungen/dezember/amadeu-antonio/ (21.02.2017).

69 Vgl. Langer, Bernd: Antifaschistische Aktion – Geschichte einer linksradikalen Bewegung, Münster, 2014, S. 212 – 213.

70 Vgl. Speit, Andreas: „Der Terror von rechts – 1991 bis 1996“, in Röpke, Andrea/Speit, Andreas (Hrsg.): Blut und Ehre Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland, Berlin, 2013, S. 94.

71 Vgl. Stöss (2000)., S. 154 – 156.

72 Vgl. Speit in Röpke/Speit (2013), S. 96.

73 Vgl. Ebd., S. 97.

74 Vgl. Ebd., S. 98.

75 Ebd., S. 99.

76 Vgl. Ebd.

77 Vgl. Ebd., S. 100.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Die Facetten des rechten Terrors in Deutschland nach 1989
Untertitel
Herkunft und Gegenwartsentwicklung
Note
14
Autor
Jahr
2017
Seiten
46
Katalognummer
V506961
ISBN (eBook)
9783346069764
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rechtsextremismus, Terror, Deutschland, Geschichte
Arbeit zitieren
Anna Hunger (Autor:in), 2017, Die Facetten des rechten Terrors in Deutschland nach 1989, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/506961

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Facetten des rechten Terrors in Deutschland nach 1989



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden