Deliberatives Demokratiemodell nach Guttman/Thompson

Ein angemessenes Konzept zur Bearbeitung moralischer Uneinigkeit?


Hausarbeit, 2006

19 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Demokratie und Uneinigkeit

2. Deliberative Demokratie - ein Abriss
2.1 Definition
2.2 Theorieverortung
2.3 Verlauf der Diskussion und Forschungsstand

3. Deliberative Demokratie nach Gutmann/Thompson
3.1 Begründung der deliberativen Demokratie
3.2 Den Prozess konstituierende Bedingungen
3.3 Inhaltliche Bedingungen

4. Deliberative Demokratie im Spiegel der Kritik
4.1 Übersicht über die Kritik
4.2 Ist Deliberation eine Methode der Politik?
4.3 Wirkt deliberative Demokratie Exklusion entgegen?
4.4 Ist deliberativen Demokratie umsetzbar?

5. Resümee

6. Literaturverzeichnis

1. Demokratie und Uneinigkeit

Können moralische Konflikte einer demokratischen Gesellschaft gelöst werden? Wie kann damit angemessen umgegangen werden? Wie können trotz moralischer Kon- flikte gerechtfertigte und vernünftige Entscheidungen gefunden werden? Bietet die poli- tische Theorie geeignete Modelle an? Wo liegen die Chancen und Grenzen dieser Mo- delle?

Gutmann/Thompson beschreiben deliberative Demokratie als das Modell, das diese Fragen am besten klären kann: „Deliberation is the most way for citizens collec- tively to resolve their moral disagreements not only about policies but also about the process by which policies should be adopted.“[1] Sie fordern: „When democratic citizens disagree about public policy, what should they do? They should deliberate with one an- other, seeking moral agreement when they can, and maintaining mutual respect when they cannot.”[2] - Ist dieses Konzept ein angemessenes Lösungsmodell?

Um den eingangs gestellten Fragen nachzugehen, stellt die Hausarbeit deskriptiv das Modell deliberativer Demokratie nach Gutmann/Thompson dar und geht auf die daran geübte Kritik näher ein. Inhaltlich werden bei der Untersuchung der These der Angemessenheit des Modell zur Bearbeitung moralischer Uneinigkeit und zur Entschei- dungsfindung in kulturell pluralistischen Gesellschaften u.a. die Fragen verfolgt, ob die Methode der Deliberation auf Politik anwendbar ist, ob Deliberation das in Demokrati- en auftretende Problem der Exklusion von Minderheiten lösen kann, ob deliberative Demokratie umsetzbar ist und ob die Agenda der Deliberation angemessen ist.

Nicht näher eingegangen wird daher auf andere Modelle deliberativer Demokratie, wie sie von Habermas, Schmalz-Bruns, Fishkin, Benhabib u.a. vorgelegt wurden. Ergebnisse und Bewertungen werden daher nahe am Modell nach Gutmann/Thompson und der explizit daran geübten Kritik ausgerichtet sein.

Zunächst wird die deliberative Demokratie allgemein und hinsichtlich Diskussi- onsverlauf erläutert, bevor im 3. Kapitel ausführlicher das Modell nach Gut- mann/Thompson dargestellt wird. In Kapitel 4 setzt sich die Arbeit kritisch mit der Theorie und ihrer inneren Logik, der Auswahl der Begründungsbeispiele, der Umsetz- barkeit und normativ mit dem Anspruch der deliberativen Demokratie als Lösung mora- lischer Uneinigkeit auseinander. Der Schluss fasst die Kernergebnisse zusammen und gibt eine Bewertung des Modells unter Berücksichtigung der Kernfragestellung.

2. Deliberative Demokratie - ein Abriss

2.1 Definition

Deliberation bedeutet allgemein „beratende Rede“. Es ist Ausdruck für „Kommunikation mit argumentativem Charakter, insbesondere für systematische Erwägung und Überprüfung von Aussagen auf ihren normativen und empirischen Gehalt auf Grundlage beratender Rede“[3].

Gutmann/Thompson definieren ihr Konzept der deliberativen Demokratie „as a form of government in which free and equal citizens (and their representatives), justify decisions in a process in which they give one another reasons that are mutually accept- able and generally accessible, with the aim of reaching conclusions that are binding in the present on all citizens but open to challenge in the future.”[4] In diesem Konzept sind die wesentlichen Merkmale des Modells genannt: Freiheit und Gleichheit als grundle- gende Bedingungen der Demokratie, gerechte Entscheidungen, ein Prozess der „bera- tenden Rede“ mit Argumenten, gegenseitige Akzeptanz von Begründungen, Ziel der bindenden Entscheidungsfindung für Konflikte, provisorische Entscheidungen und Of- fenheit gegenüber Veränderungen im Rahmen eines deliberativen Prozesses.

2.2 Theorieverortung

Gutmann/Thompson schließen sich mit ihrem demokratietheoretischen Modell der normativen Theorie an.[5] In der Landschaft der Demokratietheorien steht sie zwi- schen identitären oder republikanischen auf der einen und liberalen Ansätzen auf der anderen Seite. Sie setzt sich kritisch mit beiden Ansätzen auseinander und sucht einen Mittelweg: Sie will mehr normative Aspekte und Bürgerbeteiligung als das liberale Modell mit seinen Interessenskompromissen, aber weniger als das republikanische bzw. identitäre mit seinen politisch ständig aktiven Bürgern. Vom liberalen Ansatz über- nimmt die deliberative Demokratie die verfassungsmäßige Institutionalisierung von Entscheidungsprozessen, vom republikanischen Modell wird die stärkere Orientierung auf den tatsächlichen Willensbildungsprozess einer diskutierenden Öffentlichkeit über- nommen.[6]

Gutmann/Thompson setzen sich eingehend mit dem Utilitarismus als einem wei- teren normativen Theorieansatz auseinander, der ebenfalls für sich beansprucht, morali sche Konflikte zu lösen und öffentliche Politik zu gestalten und einer der einflussreich sten und am weitesten akzeptierten Mechanismen ist, zu bindenden Entscheidungen zu gelangen.[7] Entscheidungsprinzip des Utilitarismus sei „to maximize the welfare of the greatest number of citizens“[8]. Hier argumentieren die Autoren, der Utilitarismus werde seinem Anspruch nicht gerecht, da er „either neglects moral claims that should have a place in deliberation or abandons its won claim to provide a distinctive resolution to conflicts”[9] Der Utilitarismus sei daher in seiner inneren Logik nicht fähig, das Problem moralischer Konflikte zu lösen;[10] er produziere vielmehr einen Angleichungszwang an das für nützlich Erachtete, legitimiere sich nicht als Entscheidungsprozess und erreiche allenfalls ausgehandelte Kompromisse (bargaining).[11]

2.3 Verlauf der Diskussion und Forschungsstand

Die Wurzeln deliberativer Demokratie reichen bis in die griechische Antike zu- rück, in der Aristoteles den Wert öffentlicher Diskussionen und Begründungen von Re- geln verteidigte. Im 18. Jahrhundert war Deliberation Teil politischer Repräsentation, bevor im 20. Jahrhundert Deliberation eng mit Demokratie verknüpft wurde. Habermas begründete theoretisch ihre Bedeutung für die Legitimation von Entscheidungen, be- schreibt aber deliberative Demokratie aber noch ausschließlich als Prozedere.[12]

Gutmann/Thompson haben mit Democracy and Disagreement Aufsehen erregt: Sie versuchen mit zahlreichen qualitativen empirischen Beispielen zu belegen, dass und warum deliberative Demokratie ein angemessenes Konzept für den Umgang morali- scher Uneinigkeit ist. Dabei bewegen sie sich weg vom reinen Prozeduralismus[13] und integrieren inhaltliche Bedingungen für Deliberation in ihrer umfassenden Beschrei- bung.

1999 gab Stephen Macedo mit Deliberative Politics in der Folge der Diskussionen eine Sammlung von kritischen Essays heraus, die sich umfangreich und vielschichtig mit dem Gutmann/Thompson’schen Modell befasst und mit einer Antwort der Autoren auf die geäußerte Kritik endet.

2004 erschien die Sammlung Why Deliberative Democracy? von Gut- mann/Thompson mit Essays und Artikeln, die im Rahmen der fortschreitenden Diskus sionen um die deliberative Demokratie publiziert wurden. Das Buch enthält neue aktuel le Beispiele wie die Entscheidung der USA zum Irakkrieg. Insgesamt präsentieren die Autoren eine partiell modifizierte Version des Modells von 1996, in der die Bedeutung der Repräsentation stärker betont,[14] das Konzept der deliberativen Demokratie auf eine globale Dimension ausgeweitet[15] und in dem die Deliberation von anderen Methoden der Entscheidungsfindung unterstützt und begleitet wird und nicht die wichtigste Prak- tik ist.[16] Gutmann/Thompson skizzieren zwei Entwicklungen für die Zukunft der delibe- rativen Demokratie: Auf theoretischer Ebene müsse klar werden, dass auch die delibera- tive Theorie an sich wie die Ergebnisse, die Deliberation produziere, provisorisch sei. Auf praktischer Ebene müssten nicht nur die Deliberationsfreundlichkeit von Institutio- nen erweitert werden, sondern auch die Deliberation auf neue Institutionen ausgeweitet werden, denen dieses Verfahren fremd ist, beispielweise das Bildungssystem.[17]

3. Deliberative Demokratie nach Gutmann/Thompson

3.1 Begründung der deliberativen Demokratie

Das Kernproblem der moralischen Uneinigkeit (moral disagreement) sei, dass sie sich nicht endgültig lösen lasse.[18] Deliberation könne als Prozess nie abgeschlossen sein, sondern dauere ebenso wie die Uneinigkeit an, bearbeite diese und erzeuge provi- sorische Entscheidungen, die für den Moment ihrer Beschließung die beste Lösung dar- stellen.[19] Deliberative Demokratie sei notwendig, weil sie als einziger Ansatz der Tatsa- che ständig andauernder Diskussion gerecht werde. Die resultiere aus forlgenden Quel- len für moralische Uneinigkeit, die nicht nur auf widerstreitende Eigeninteressen redu- zierbar seien:[20] 1. Knappheit (scarcity) meint begrenzte Ressourcen, die in einer Demo- kratie zwischen den Bürgern möglichst gerecht aufgeteilt werden sollten, z.B. Gesund- heitsfürsorge.[21] 2. Begrenzte Großzügigkeit (limited generosity): Diese Quelle für Unei- nigkeit verstärkt das Problem der begrenzten Ressourcen, da Menschen ihr Eigeninter- esse gegen andere durchzusetzen versuchen.[22] 3. Unvereinbare Werte (incompatible values) sind moralische Werte, die sich diametral gegenüberstehen. Diese Quelle von Uneinigkeit liegt in der Moralität selbst, d.h. zwischen in einer Demokratie anerkannten und grundlegenden Werte.[23] 4. Unvollständiges oder mangelndes Verständnis (incom plete understanding) bezieht sich auf die mangelnde Fähigkeit und Bereitschaft, sich für die Probleme und Meinungen anderer zu interessieren und einzusetzen.[24]

Die Begründung der deliberativen Demokratie hängt mit diesen Quellen von Uneinigkeit zusammen: Erstens seien Entscheidungen akzeptabler, wenn die Absichten aller Betroffenen vorher bedacht und ihre Wünsche angehört wurden. Begrenzte Res- sourcen könnten so gerechter verteilt werden, da es keinen vermachteten Konsens um seiner selbst willen gibt, sondern einen gerechten.[25] Deliberation begründe die Legiti- mation von Entscheidungen. Zweitens erzeuge Deliberation Foren, in denen Bürger sich eine breitere und sozial gesinnte Perspektive auf einen politischen Sachverhalt verschaf- fen und Verständnis für die Belange anderer entwickeln könnten.[26] Daher sollten ver- schiedene gesellschaftliche Gruppen in einen Prozess der Deliberation inkludiert wer- den.[27] Drittens könne Deliberation den Charakter entgegengesetzter Werte klären und zu einer Positionsbestimmung beitragen.[28] Konflikte, die auf Missverständnissen oder Fehlinformation beruhen, können so als solche geklärt und beigelegt werden durch Praktiken der Deliberation, Höflichkeit und der Ökonomie der moralischen Uneinigkeit (economy of moral disagreement)[29]. Viertens erhöhe deliberative Demokratie durch das Primat des vernünftigen Arguments die Chance, zu akzeptierten und gerechten Lösun- gen zu kommen. Die Diskussion korrigiere sich durch den Austausch von Argumenten und Gegenargumenten selbst. Diese Kapazität ermögliche es, Fehler der Vergangenheit zu berichtigen.[30]

Demgegenüber seien die demokratietheoretischen Konzepte des Prozeduralis- mus[31] (proceduralims) und Konstitutionalismus[32] (constutitionalism) jeweils für sich genommen beide ungeeignet, weil sie die Probleme zu einseitig betrachteten.[33] Legitime

[...]


[1] Gutmann/Thompson: Democracy and Disagreement, 4.

[2] Ebenda, 346.

[3] Schmidt: Wörterbuch zur Politik, 145.

[4] Gutmann/Thompson: Why Deliberative Democracy? 7.

[5] Vgl. ebenda, 346, 349.

[6] Vgl. ebenda, 199-200. Vgl. Reese-Schäfer: Politische Theorie heute, 15-18. Vgl. Habermas: Faktizität und Geltung, 359.

[7] Vgl. Gutmann/Thompson: Democracy and Disagreement, 165.

[8] Ebenda, 165.

[9] Ebenda, 166.

[10] Vgl. ebenda, 196.

[11] Vgl. ebenda, 197.

[12] Vgl. ebenda, 8-9

[13] Vgl. Gutmann/Thompson: Why Deliberative Democracy? viii 4

[14] Vgl. Gutmann/Thompson: Why Deliberative Democracy, 29-30.

[15] Vgl. ebenda, 36-39, 62.

[16] Vgl. ebenda, 56, 43.

[17] Vgl. ebenda, 56-57, 59-61.

[18] Vgl. Gutmann/Thompson: Democracy and Disagreement, 1, 9, 361. Ein Beispiel dafür wäre die Debatte über Schwangerschaftsabbruch in den USA. Vgl. dazu ebenda, 60.

[19] Vgl. ebenda, 9.

[20] Vgl. ebenda, 20.

[21] Vgl. ebenda, 21-22.

[22] Vgl. ebenda, 22.

[23] Vgl. Gutmann/Thompson: Democracy and Disagreement, 24. Unvereinbare Werte stehen sich z.B. in der Frage staatlich geförderten Schwangerschaftsabbruchs einander gegenüber: Freiheit (der Mutter) und Leben (des ungeborenen Kindes).

[24] Vgl. ebenda, 25.

[25] Vgl. ebenda, 42.

[26] Vgl. ebenda, 42.

[27] Vgl. Macedo: Deliberative Politics, 10.

[28] Vgl. Gutmann/Thompson: Democracy and Disagreement, 43.

[29] Vgl. ebenda, 85.

[30] Vgl. ebenda, 43-44, 224. Vgl. Macedo: Deliberative Politics, 10.

[31] Der Prozeduralismus nimmt formal an, dass politische Entscheidungen ihre Legitimität aus einem legitimen Entscheidungsprozess erhalten, nämlich per Mehrheitsabstimmung. Wenn der Prozess legitim ist, ist auch das Ergebnis legitim. Vgl. Gutmann/Thompson: Democracy and Disagreement, 28-33.

[32] Der Konstitutionalismus hingegen arbeitet normativ und legt die Priorität auf das outcome einer politischen Entscheidung. Wenn dieses gerecht ist, ist es zweitrangig, wie die Entscheidung zustande gekommen ist. Vgl. ebenda, 34.

[33] Vgl. Macedo: Deliberative Politics, 6.

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Details

Titel
Deliberatives Demokratiemodell nach Guttman/Thompson
Untertitel
Ein angemessenes Konzept zur Bearbeitung moralischer Uneinigkeit?
Hochschule
Universität Trier  (Politikwissenschaft / Politische Theorie und Ideengeschichte)
Veranstaltung
Politische Theorie und Ideengeschichte: Demokratietheorien
Note
1,7
Autor
Jahr
2006
Seiten
19
Katalognummer
V142745
ISBN (eBook)
9783640519392
ISBN (Buch)
9783640520886
Dateigröße
429 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Deliberatives, Demokratiemodell, Guttman/Thompson, Konzept, Bearbeitung, Uneinigkeit
Arbeit zitieren
Anna Milena Jurca (Autor:in), 2006, Deliberatives Demokratiemodell nach Guttman/Thompson, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/142745

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