Interkulturelle Probleme von Deutschen in Mexiko

Eine qualitative Untersuchung


Magisterarbeit, 2010

394 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Forschungsstand und Methodik
2.1 Forschungsstand
2.2 Methodik

3. Definitionen und Grundlagen
3.1 Interkulturalität - Was ist Kultur?
3.1.1 Nationalkulturen
3.1.2 Weitere grundlegende Begriffe
3.2 Stereotypisierung versus kulturelle Unterscheidung
3.2.1 Unterscheidung zwischen Stereotypisierung und kultureller Kategorisierung
3.2.2 Entstehung von Stereotypen
3.2.3 Umgang mit Stereotypen
3.3 Wissenschaftliche Ansätze: Kulturdimensionen und -standards und Kommunikationsmodelle
3.3.1 Kulturdimensionen
3.3.2 Kulturstandards
3.3.3 Kommunikationsmodelle - Friedemann Schulz von Thun interkulturell
3.4 Definition von Kulturtiefe
3.4.1 Begründung der Wahl der Faktoren
3.4.2 Die rechnerische Darstellung der Kulturtiefe

4. Aufbau und Herangehensweise der Untersuchung
4.1 Aufbau des Fragebogens
4.2 Aufbau und Idee der Gruppendiskussionen
4.3 Herangehensweise an die Auswertung
4.4 Grenzen der Untersuchung

5. Auswertung und Analyse
5.1 Auswertung des Fragebogen und der Gruppendiskussionen
5.1.1 Soziografische Daten
5.1.2 Selbst- und Fremdbild
5.1.3 Gefallen und Missfallen Interkulturelle Probleme von Deutschen in Mexiko Sara Konstanze Müller
5.1.4 Gesprächsverhalten
5.1.5 Unpünktlichkeit
5.1.6 Körperkontakt
5.1.7 Organisation
5.1.8 Kulturelle Umstellung und Anpassung
5.1.9 Indirektheit
5.1.10 Kulturschock
5.1.11 Selbstveränderung
5.1.12 Vermissen an Deutschland und an Mexiko
5.1.13 Hierarchisch geordnete Merkmale, die an der mexikanischen Kultur gefallen bzw. missfallen
5.1.14 Feedback zur Umfrage
5.2 Vergleichende Auswertung nach Kulturtiefenkategorien

6. Zusammenfassung der Ergebnisse

Literaturverzeichnis

Anhang

1 Einleitung

„ Das Leben in einer fremden Kultur gestaltet sich oft genauso wie das Spielen eines Spiels, dessen Regeln man nicht kennt. “

(Kumbier et al., 2009: 73)

Das (Ein)Leben in einer neuen Kultur bringt oft Irritationen, Verwirrungen und Missverständnisse mit sich. Die „Spielregeln“ der anderen Kultur sind gar nicht oder nur teilweise bekannt. Daher werden automatisch bekannte, eigenkulturelle Spielregeln, also eigenkulturelle Verhaltens- und Erklärungsmuster, angewandt, die jedoch häufig nicht mit denen der Fremdkultur übereinstimmen. Dadurch kommt es zu unangenehmen Verwirrungen und Missverständnissen bis hin zu Abwertungen und Negativstereotypisierungen. Dieses Phänomen ist umso stärker, je mehr sich die Kulturen voneinander unterscheiden.

Die deutsche und die mexikanische Kultur sind in Vielem sehr verschieden. In ländervergleichenden Untersuchungen, wie sie zum Beispiel von den Kulturforschern Geert Hofstede oder Fons Trompenaars durchgeführt wurden, stehen sie sich oft kontrastierend gegenüber.

Trotz der kulturellen Unterschiede zieht es immer mehr Deutsche zum Studieren, Leben und/oder Arbeiten nach Mexiko. Schätzungen des Auswärtigen Amtes zufolge sind derzeit 15.000 Deutsche in Mexiko ansässig, neben 75.000 Deutschstämmigen (vgl.: Auswärtiges Amt: Länderinformationen: Mexiko). Viele deutsche Universitäten bieten Auslandssemester in Mexiko an, unter anderem die Technische Universität Dortmund (vgl.: Technische Universität Dortmund: Auslandsamt: Aktuelles), die Technische Universität Berlin (vgl.: TU Berlin: Akademisches Auslandsamt: Lateinamerika), die Hochschule Esslingen (vgl.: Hochschule Esslingen: Auslandssemester: Auslandssemester in Mexiko), die Technische Universität Dresden (vgl.: Technische Universität Dresden: Zentrale Einrichtungen: Zentrum für Internationale Studien: Kooperationspartner: Universitäre Kooperationspartner) und viele andere. Die Universität Hildesheim bemüht sich derzeit um ein Austauschprogramm mit der Universidad Aut ó noma del Estado de M é xico in Toluca (vgl.: Universität Hildesheim: Auslandsamt: Aktuelles).

Ziel dieser Magisterarbeit ist es, interkulturelle Probleme von Deutschen in Mexiko und deren Umgang mit diesen aufzuzeigen. Außerdem soll das Konzept „Kulturtiefe“ vorgestellt und auf seine Gültigkeit bzw. Geltungsbreite untersucht werden. Dieses nimmt Unterschiede im Auftreten von und im Umgang mit interkulturellen Problemen in Abhängigkeit von dem Aufenthaltsgrund des/der Deutschen, der Aufenthaltsdauer, dem Spanischniveau und sozialen Kontakten zu Mexikanern an. Diese vier Faktoren summiert und unterschiedlich gewertet sollen Aufschluss darüber geben, inwieweit die (in diesem Fall: deutsche) Person in die (hier:) mexikanische Kultur integriert ist. Die Summe dieser vier Faktoren wird Kulturtiefe genannt. Eine ausführliche Definition und Erläuterung folgt im Kapitel 3.4 und 3.5.

In dieser Arbeit soll es nicht darum gehen, typisch deutsche oder typisch mexikanische Eigenschaften aufzuzeigen. Vorurteile und Stereotype werden durchaus eine Rolle spielen, aber sie sollen weder widerlegt noch untermauert werden. Sie sollen lediglich als Ausdruck von möglichen interkulturellen Problemen behandelt werden. Es werden nicht alle interkulturellen Probleme vollständig erfasst und untersucht - sowieso ein unmögliches Vorhaben -, sondern einige ausgewählte, häufig auftretende Probleme werden darauf analysiert, wann sie unter welchen Umständen auftauchen. Ein Methodenmix soll einen differenzierten und vielseitigen Zugang zum Thema ermöglichen.

Das folgende Kapitel 2 gibt einen kurzen Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand sowie das methodische Vorgehen in dieser Untersuchung.

Das Kapitel 3 legt die Grundlagen für diese Arbeit. Hierzu werden in Kapitel 3.1 grundlegende Begriffe definiert und ihre Verwendung innerhalb dieser Arbeit erläutert. Das Kapitel 3.2 befasst sich mit Stereotypisierung und der Abgrenzung von Stereotypen zu wissenschaftlich sinnvollen und notwendigen Kategorisierungen. Im letzten Unterkapitel (3.3) werden für diese Arbeit wesentliche wissenschaftliche Ansätze vorgestellt, deren Modelle und Konzepte Grundlage für die Erstellung des Fragebogens waren und auch zur Analyse und Auswertung herangezogen werden.

Ausführlich wird in Kapitel 3.4 der in dieser Arbeit definierte Begriff der Kulturtiefe sowie dessen rechnerische Darstellung erläutert.

Der Aufbau des Fragebogens und der Gruppendiskussionen sowie die Herangehensweise an die Auswertung werden in Kapitel 4 erläutert. Außerdem sollen an dieser Stelle Probleme und Grenzen der Untersuchung erläutert und die von den Teilnehmern an der Umfrage geübte Kritik diskutiert werden.

In Kapitel 5 werden die gewonnenen Daten schließlich vorgestellt und ausgewertet sowie die Ergebnisse nach Kulturtiefenkategorien verglichen.

Anschließend werden die wichtigsten Ergebnisse in Kapitel 6 zusammengefasst.

2 Forschungsstand und Methodik

2.1 Forschungsstand

Die mexikanische Kultur gerät immer stärker in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen. Viele Studenten schreiben in Mexiko ihre Abschlussarbeiten, zum Beispiel über die indigenen Sprachen in Mexiko wie die Hildesheimer Studentin Julia Verena Weske, die 2009/2010 ihre Magisterarbeit mit dem Titel „Eine Untersuchung der gegenwärtigen sprachpolitischen Situation urbanisierter indigener Sprechergruppen in Monterrey, Mexiko“ in Monterrey schrieb. Auch Jana Scheidemann, ehemalige Studentin der Universität Hildesheim, verfasste im Wintersemester 2007/2008 in Michoacan ihre Magisterarbeit über „Mexiko und seine Minderheitensprachen - Eine sprachpolitische Untersuchung am Beispiel des Purépecha im Bundesstaat Michoacan“. Einige beschäftigen sich auch mit interkulturellen Problemen, oft fixiert auf ein bestimmtes Themenfeld bzw. auf eine bestimmte Umgebung. So schrieb Kai Ina Wolff 2005 ihre Masterarbeit an der Universidad de las Am é ricas Puebla mit dem Titel „Information for intercultural context and the importance of good design“ (vgl.: Wolff, 2005), welche unter diesem Aspekt die Website und sonstige Informationsbereitstellung der Universität für ausländische Studenten untersuchte.

Derzeit schreibt außerdem Nadine Leptich an der Universität Passau ihre Bachelorarbeit über „Kultur und Werte deutscher und mexikanischer Studenten im Vergleich. Eine länderspezifische Analyse von Kulturdimensionen und Werten“.

Umfangreiche Forschungen zu interkulturellen Problemen von Deutschen in Mexiko gibt es wenige. Der Guide Culture Shock! Mexico (Vgl.: Cramer, 1998) bietet bestückt mit vielen Anekdoten und historischen Fakten und Erzählungen einen guten Einblick in die mexikanische Kultur. Der US-amerikanische Autor Mark Cramer hat in Mexiko studiert und einige Reisen dorthin gemacht. Allgemeine Aussagen über kulturelle Merkmale macht er kaum und die wenigen kulturellen Eigenschaften, die er nennt, sind nicht wissenschaftlich hinterlegt, sondern basieren auf seinen persönlichen Erfahrungen.

Derzeit ist ein Ratgeber mit dem Titel „Leben und Arbeiten in Mexiko“ in Arbeit, welches deutschen Einwanderern das Ankommen und Einleben in Mexiko erleichtern soll. Das Buch wird Anfang 2011 im Gentlemen’s Digest Verlag erscheinen. Hierin werden praktische Tipps zum Leben in Mexiko gegeben wie „Wie eröffne ich ein Bankkonto?“ oder „Wie beantrage ich ein Visum?“ Außerdem soll es einen Einblick in die mexikanische Kultur bieten, um eventuellen kulturellen Verwirrungen und Problemen vorzubeugen. Vergleichbares ist momentan unter anderem in dem Buch „Auswandern nach Mittelamerika“ (vgl.: Wolf, 2009) von Peter R. Wolf zu finden. Allerdings wird die Thematik viel allgemeiner behandelt, da dieses Werk acht Länder gleichzeitig abdeckt. Wissenschaftlich gut hinterlegt und ziemlich ausführlich ist „Beruflich in Mexiko - Trainingprogramm für Manager, Fach- und Führungskräfte“ (vgl.: Ferres et al., 2005) von Renate Ferres (u.a.). Hierin werden zum Beispiel die mexikanischen Kulturstandards einzeln aufgezählt und praktische Tipps und Tricks zur Vermeidung bzw. Verminderung des Kulturschocks und zu allgemeinen kulturellen Verhaltensweisen gegeben.

Standardwerke wie Cultures and Organizations - Software of the Mind (2005) von Geert Hofstede oder Riding the Waves of Culture - Understanding Cultural Diversity in Business (1997) von Fons Trompenaars zeigen die Lage von Deutschland und Mexiko - unabhängig voneinander - in den Kulturdimensionen auf, woraus man auf gewisse Unterschiede zwischen beiden Kulturen schließen kann.

In zwei der vier Kulturdimensionen von Geert Hofstede (in der fünften gibt es keine Angaben zu Mexiko) sind Deutschland und Mexiko fast am entgegengesetzten Ende der Polaritätsskala angesiedelt: Im Power Distance Index belegt Deutschland Rang 35, Mexiko hingegen Rang 81 (von 104) und im Individualism Index ist Deutschland auf Rang 67, Mexiko auf Rang 30 (von 91) (vgl.: Hofstede et al., 2005: 43f., 78f.). In der mexikanischen Kultur spielt demzufolge Hierarchie eine sehr viel größere Rolle (größere Machtdistanz), ebenso wie Gemeinschafts- und Familienleben (größerer Kollektivismus). Ob dies von den in Mexiko lebenden Deutschen als problematisch empfunden wird, wird sich im Verlaufe der Arbeit zeigen.

Auch Trompenaars hat in seinen Untersuchungen zu kulturellen Unterschieden in Wirtschafsorganisationen starke Unterschiede zwischen der deutschen und der mexikanischen (Organisations-)Kultur gefunden, vor allem im Bereich Kollektivismus versus Individualismus (vgl.: Trompenaars et al., 1997: 51, 55). Interessant ist auch ein Unterschied in der Dimension „spezifisch versus diffus“, welche darstellt, wie bzw. ob Lebensbereiche (zum Beispiel: privat und beruflich) und die darin vorkommenden Personen voneinander getrennt werden (vgl.: a.a.O.: 81, 88). Trompenaars zufolge sind Mexikaner eher diffus, also vermischen die Bereiche, und Deutsche eher spezifisch. Die Dimensionen werden einzeln in Kapitel 3.3.1 vorgestellt.

Einige Werke befassen sich mit der Geschichte deutscher Präsenz in Mexiko, so zum Beispiel Zu nahe der Sonne. Deutsche Schriftsteller im Exil in Mexiko von Marcus G. Patka (vgl.: Patka, 1999), welches die Einwanderung zahlreicher Deutscher nach Mexiko im Zuge der Judenverfolgung und deren Probleme mit dem Leben und der Eingewöhnung in Mexiko beschreibt.

Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, wird die deutsch-mexikanische Geschichte keine Rolle spielen.

2.2 Methodik

Grundlage dieser Arbeit sollen verschiedene qualitative und quantitative Untersuchungen bilden: Die umfangreichste Quelle ist eine Onlineumfrage, die vom 24.11.2009 bis zum 26.05.2010 auf der Schweizer Plattform www.onlineumfragen.com durchgeführt wurde. Insgesamt beantworteten 238 Deutsche mindestens die ersten neun Fragen, was die Voraussetzung für eine sinnvolle Auswertung war. Die Ergebnisse dieser Umfrage wurden in zwei verschiedenen Gruppendiskussionen diskutiert: In der Diskussion, an der am 10. Dezember 2009 acht Deutsche teilnahmen, wurden auf Deutsch einige bis dahin vorliegende Ergebnisse der Onlineumfrage besprochen. Thema waren vor allem die offenen Fragen 11 und 12, welche sich damit beschäftigen, was den Umfrageteilnehmern an der mexikanischen Kultur ge- bzw. missfällt. Die zweite Gruppendiskussion fand eine Woche später statt. Hieran beteiligten sich zwei der Deutschen, die auch an der ersten Diskussion teilgenommen hatten, die Initiatorin der Diskussionen und zwei Mexikanerinnen. Thema der Diskussion waren wiederum die offenen Aussagen aus der Onlineumfrage sowie einige provokative Aussagen aus der vorangegangenen Diskussion. Die wichtigsten Teile der Diskussionen sind im Anhang 5.1 und 5.2 transkribiert zu finden. Die Analyse der Transkriptionen fließt in die Auswertung des Fragebogens in Kapitel 5.1 ein.

Den wissenschaftlichen Hintergrund sollen die bereits erwähnten Standardwerke von Hofstede und Trompenaars sowie eine sehr interessante, auf interkulturelle Kommunikation bezogene Bearbeitung der bekannten Modelle des Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun mit dem Titel „Interkulturelle Kommunikation: Methoden, Modelle, Beispiele“ (vgl.: Kumbier et al., 2009) bilden. Außerdem sollen unter anderem Werke wie „Perception & Identity in Intercultural Communication“ von Marshall R. Singer (vgl.: Singer, 1998), die drei Standardwerke von Edwart T. Hall (vgl.: Hall, 1976 mit: Hall, 1983 mit: Hall, 1990), „A Geography of Time - The Temporal Misadventures of a Social Psychologist or How Every Culture Keeps Time Just a Little Bit Differently“ von Robert Levine (Vgl.: Levine, 2006) und „Die Deutschen - Wir Deutschen: Fremdwahrnehmung und Selbstsicht im Berufsleben“ von Sylvia Schroll-Machl (Vgl.: Schroll-Machl, 2007) zur theoretischen Grundlage beitragen.

3 Definitionen und Grundlagen

3.1 Interkulturalität - Was ist Kultur?

Das Leben in einer fremden Kultur kann wie das Spielen eines Spiels sein, dessen Regeln man nicht kennt. Kultur bestimmt die Spielregeln für dieses Spiel. Hofstede beschreibt dies folgendermaßen: „Culture is the unwritten book with rules of the social game that is passed on to newcomers by its members, nesting itself in their minds.“ (Hofstede et al., 2005: 36) Mit „social game“ ist hier ein bestimmter Raum gemeint, „people who live or lived within the same social environment“ (a.a.O.: 3), innerhalb dessen gewisse einheitliche Spielregeln gelten. Diese umfassen zum Beispiel Regeln zum Grüßen, Essen, Gefühle zeigen, Körperabstand halten oder auch zur Sprache, Gestik, Mimik oder Kleidung. (vgl.: Hofstede et al., 2005: 3 mit Thomas et al. 2, 2003: 22)

Der Psychologe Alexander Thomas nennt diese Spielregeln Orientierungssystem und benennt auch das social game genauer: „Kultur manifestiert sich immer in einem für eine Nation, Gesellschaft, Organisation oder Gruppe typischen Orientierungssystem.“ (Thomas et al. 2, 2003: 22). Auch Diplom-Psychologin Dagmar Kumbier definiert in ihrem auf den Modellen von Friedemann Schulz von Thun aufbauenden Werk „Interkulturelle Kommunikation“ Kultur als „identitätsstiftendes Orientierungsmodell“: „Es definiert Zugehörigkeit; es reguliert das Verhalten der Kulturmitglieder; und es strukturiert deren Wahrnehmung und Deutung der Umwelt - meist ohne dass es diesen bewusst ist.“ (Kumbier et al., 2009: 33).

Kultur bestimmt Verhalten sowie Wahrnehmung und Interpretation der Umwelt, was meist unbewusst stattfindet. Sie umfasst mehr als nur Spielregeln zu bestimmten Verhaltensweisen. Kultur ist gewissermaßen eine Brille, durch die wir unsere Umwelt wahrnehmen. Sie bietet uns gleichzeitig einen Rahmen, in dem wir handeln können, sie steckt Handlungsgrenzen und -bedingungen ab (vgl.: Thomas et al. 2, 2003: 22). Kultur hilft uns, unsere Umwelt und unsere Mitmenschen richtig wahrzunehmen, ihr Handeln richtig zu interpretieren und dementsprechend richtig darauf zu reagieren. Mit richtig ist hier nicht universell korrekt gemeint, sondern den eigenkulturellen Regeln, die in der jeweils eigenen Gruppe gelten, gerecht. „Bei dem Versuch, Orientierung zu gewinnen, bietet das, was hier „Kultur“ genannt wird, eine wertvolle Hilfe, da sie es ermöglicht, den uns umgebenden Dingen, Personen, Gegenständen, aber auch Ereignisfolgen und komplexen Prozessabläufen sowie Verhaltenskonsequenzen Bedeutung und Sinn zu verleihen.“ (ebd.). Man könnte Kultur auch mit einem Filter vergleichen, der bestimmt, was wahrgenommen und wie es wahrgenommen und interpretiert wird. Kultur beeinflusst nicht nur die Sprache und das Denken, sondern auch was gesehen, gehört, geschmeckt, gefühlt und gerochen wird (vgl.: Singer, 1998: 3).

Kultur bietet ein Orientierungssystem und einen Filter für die Wahrnehmung, innerhalb der eigenen Kultur fühlt man sich wohl, weil die Regeln bekannt sind und angewendet werden können, ohne dass man sich dessen überhaupt bewusst ist. Kultur hat auch einen identitätsstiftenden Charakter: Als Zugehöriger einer Gruppe identifiziert man sich über bestimmte Eigenschaften der Gruppe wie Nationalität, Berufsstatus oder auch Alter und über gewisse mit dieser Gruppe verbundene Persönlichkeitseigenschaften (vgl.: Roth, 2004: 16).

Kulturelle Merkmale zeigen sich in Normen, Werten, Einstellungen, Ritualen, Symbolen, Traditionen, Glaubenssystemen, in Sprache, Rechtssystemen, Organisationen, Einrichtungen und anderen Elementen, die die Angehörigen einer Gruppe gemein haben. Der Anthropologe Edward T. Hall geht sogar noch einen Schritt weiter: „there is not one aspect of human life that is not touched and altered by culture” (Hall, 1976: 16). Er behandelt Kultur in ihrer Ganzheit als Kommunikation (vgl.: Hall, 1990: 28). Kultur passiert überall dort, wo kommuniziert wird. Da man nicht nicht kommunizieren kann1, passiert demnach in allen zwischenmenschlichen Begegnungen Kultur.

Kultur ist ein Gemeinschaftsphänomen und zudem universell (vgl.: Thomas et al. 2, 2003: 22 mit Hofstede 2005: 3). Sie ist nicht angeboren, sondern wird im Verlaufe des Sozialisationsprozesses ebenso selbstverständlich erlernt wie die eigene Muttersprache (vgl.: Hofstede, 2005: 4). Dennoch kann Kultur nicht erlernt bzw. gelehrt werden wie eine Sprache (vgl.: Hall, 1959: 25). Das liegt vor allem daran, dass sie uns zu großen Teilen nicht bewusst ist.

Der bewusste Teil von Kultur betrifft zum Beispiel gewisse Benimmregeln oder Verbote. Der sehr viel größere, unbewusste Teil umfasst vor allem Werte, Normen und bestimmte kulturgeformte Denk- und Wahrnehmungsweisen. Da wir die kulturelle Prägung unserer Werte und Normen nicht wahrnehmen, halten wir sie für selbstverständlich, universell gültig und oft sogar anderen gegenüber überlegen (vgl.: Singer, 1998: 68). Diese Einstellung wird Ethnozentrismus genannt (vgl.: Roth, 2004: 12). Wir werden uns der kulturellen Behaftung unserer Einstellungen, Werte und Normen häufig erst dann bewusst, wenn wir mit fremdkulturellen konfrontiert werden, wenn also unsere kulturellen Vorstellungen verletzt werden (vgl.: Kumbier et al., 2009: 142).

Edward T. Hall stellt fest, dass Kultur vor allem für die in der Kultur Beheimateten schwer zugänglich ist: „Years of study have convinced me that the real job is not to understand foreign culture but to understand our own.” (Hall, 1959: 29). Hall macht außerdem darauf aufmerksam, dass alle kulturellen Facetten zusammenhängen: “you touch a culture in one place and everything else is affected.” (Hall, 1976: 16).

Auch Alexander Thomas konstatiert, dass die größten Probleme beim Zusammentreffen zweier Kulturen dadurch entstehen, dass die Personen zu wenig über ihre eigenen kulturellen Merkmale und deren Auswirkungen auf ihr Handeln wissen (vgl.: Schroll-Machl, 2007: 11).

Eine einheitliche Definition von Kultur gibt es nicht. Das liegt vor allem auch daran, dass der Begriff in den unterschiedlichsten Disziplinen gebraucht wird, unter anderem in der Literatur, der Kunst, Psychologie, Soziologie, Anthropologie und Geschichte.

Als Arbeitsdefinition für diese Arbeit soll die folgende Zusammenfassung aus den oben genannten Definitionen von Kultur gelten:

Kultur ist ein Gruppenphänomen,

sie ist nicht angeboren, sondern wird im Sozialisationsprozess erlernt,

sie ist uns nur zu einem kleinen Teil bewusst,

sie bietet ein Orientierungssystem,

sie stellt einen Filter für unsere Wahrnehmung dar und beeinflusst so unsere Interpretation der Umwelt,

sie ist identitätsstiftend,

sie stellt uns Handlungsbedingungen und -grenzen,

sie zeigt sich in Kommunikation und

sie beeinflusst alle Lebensbereiche und alle Kulturaspekte hängen als Ganzes zusammen.

Eine solche Auffassung von Kultur als etwas Allumfassendes beurteilt Gunter Gebauer, deutscher Philosoph und Linguist, problematisch bei der Beschreibung von Inter kulturalität: „„Interkulturell“ - dieses Wort verspricht einen Raum, eine Plattform zwischen den Kulturen. […] Einen vermittelnden, kulturfreien Platz, einen neutralen Ort zwischen den Kulturen kann es nicht geben, denn er wäre au ß erhalb jeglicher Kultur. Doch impliziert der Kulturbegriff, dass es nichts außerhalb von Kultur geben kann. Lehnt man die Vorstellung des „Inter“ jedoch ab, erscheint eine Vermittlung zwischen den Kulturen unmöglich zu sein. Offenkundig gibt es doch einen Austausch, eine Vermittlung, ein Hin und Her zwischen den Kulturen. Wir sind aber nie in einem Bereich des „Inter“, sondern immer in unserer eigenen Kultur, wie auch unsere Partner in ihrer Kultur verbleiben.“ (Merkens et al., 2004: 140). Wird Kultur als Bedingung für das gegenseitige Verstehen aufgefasst, führen bereits geringe Kulturunterschiede dazu, dass eine Verständigung nicht möglich ist. Da aber offensichtlich interkulturelle Kommunikation möglich ist, selbst wenn beiden Partnern die jeweils andere Kultur fremd ist, muss Kultur vom Verstehen getrennt werden (vgl.: a.a.O.: 142). Alexander Thomas spricht hierzu von der Bildung einer dritten Kultur zwischen beiden Kommunikationspartnern: „Beide Kulturmerkmale müssen in Verbindung mit der beginnenden Entwicklung einer neuen, durch die beginnende Kommunikation und Interaktion entstehende „dritte“ Kultur im Denken und Verhalten der beteiligten Personen zur Wirksamkeit kommen (Breitenbach 1975).“ (Thomas et al. 2, 2003: 44).

Bestenfalls bestimmen dabei beide Kulturen teilweise zu unterschiedlichen Teilen, aber stets ausgewogen die Interaktion (vgl.: a.a.O.: 47).

„Der Kulturbegriff bleibt offen, er wird nicht inhaltlich definiert; er entzieht sich allen juristischen und administrativen Regelungen. Von seiner Konzeption her ist es auch gar nicht möglich, ihn zu begrenzen, zu definieren, denn er ist ständig im Fluss; er ist in Geschichte getaucht.“ (Merkens et al., 2004: 146).

Kultur beeinflusst uns, unser Handeln und unsere Wahrnehmung zwar in jeder Situation, sie macht uns aber nicht zu ihren Sklaven. Bei einem Zusammentreffen von Personen aus der gleichen oder aus unterschiedlichen Kulturen bestimmt Kultur nur zu einem Teil die Kommunikation. Hinzu kommen als weitere grundlegende Faktoren Situation und Persönlichkeit der Kommunikationsteilnehmer.2 Weiterhin haben Status, die gegenwärtige Aktivität, Ort und Erfahrung einen Einfluss auf die Wahrnehmung und auf die Kommunikation (vgl.: Hall, 1976: 100f.).

Für die Erklärung jeder (misslungenen) interkulturellen Kommunikation nach kulturellen Gründen zu suchen, ist nicht nur nicht sinnvoll, sondern kann zu falschen Schlussfolgerungen und somit vorschnellen Verallgemeinerungen oder auch zur Bildung von Stereotypen führen: „Die Gefahr einseitiger kultureller Erklärungsmuster liegt jedoch nicht nur darin, dass sie personale Konfliktursachen verdecken, sondern sie sind zudem dynamisch. Denn, werden kulturelle Fehlinterpretationen nicht überprüft und korrigiert, bieten sie sich als nunmehr bewährte Deutungsschlüssel auch für zukünftige Konflikte an.“ (Kumbier et al., 2009: 333).

Kommunikation findet immer in einem Kontext statt. Eine Person handelt nie nur ihrer Kultur entsprechend. „Genau wie das Individuelle einer Situation müssen Lebensumstände und Strukturen jedes Mal erkundet werden.“ (a.a.O.: 344).

Weiterführend werden im Kapitel 3.2. Chancen und Grenzen von Stereotypisierungen besprochen und die problematische Auswirkung auf Wahrnehmung, Deutung und Kommunikation dargestellt.

3.1.1 Nationalkulturen

Jede Gruppe von Personen, die über einen längeren Zeitraum zusammen ist, bildet eine eigene (Gruppen-) Kultur heraus. Es gibt zum Beispiel Unternehmenskulturen, Schulkulturen, Universitätskulturen oder Fußballkulturen. Jede Organisation oder Gruppe entwickelt gewisse gruppeneigene Strukturen und Regeln und somit eine eigene Gruppenkultur. Umso schwieriger ist es, zu bestimmen, ab wann man von interkultureller Kommunikation sprechen kann: Theoretisch findet eine interkulturelle Kommunikation bereits statt, wenn sich ein Bauer aus Brandenburg mit einem Manager aus Berlin unterhält oder sogar wenn beide aus der gleichen Gegend stammen. Diese Kommunikation kann durchaus ähnlich problematisch sein, wie wenn der Berliner Manager mit einem indischen Manager aus der gleichen Branche diskutiert.

Dass sogar jeder selbst verschiedene Kulturen in sich trägt, macht eine Abgrenzung noch schwieriger: Jeder verhält sich anders auf einem Fußballturnier als beispielsweise auf einer Familienfeier, weil wir uns - unbewusst - an die jeweiligen kulturellen Regeln halten. „Further, since each person’s experience in life is, and must be, different, so perforce, each person must be considered culturally unique. That is why it is not only possible but necessary to speak of each interpersonal communication as also being an intercultural communication.” (Singer, 1998: 84).

Nun soll es in dieser Arbeit jedoch nicht um Kommunikation zwischen Menschen verschiedener Berufsgruppen gehen. Es soll das Zusammentreffen der mexikanischen mit der deutschen Kultur untersucht werden. In diesem Fall müssen also der Bauer und der Manager in eine Schublade gesteckt und als Deutsche verallgemeinert werden. Aber haben denn der Bauer und der Manager Gemeinsamkeiten, die man als Eigenschaften der deutschen Kultur bezeichnen kann?

Geert Hofstede ging bei seiner umfangreichen Untersuchung in den 60er und 70er Jahren, in der er 116.000 Mitarbeiter des Großkonzerns IBM in über 50 Ländern befragte, ebenfalls von der Existenz von Nationalkulturen aus:3 „Within nations that have existed for some time there are strong forces toward further integration: (usually) one dominant national language, common mass media, a national education system, a national army, a national political system, national representation of sports events with a strong symbolic and emotional appeal, a national market for certain skills, products, and services.” (Hofstede et al., 2005: 18). Dennoch weist auch er auf ethnische, linguistische und religiöse Unterschiede innerhalb einer Nation hin. „Yet it is often the only feasible criterion for classification.“ (Hofstede et al., 2005: 18f.).

Auch Alexander Thomas geht von kulturellen Gemeinsamkeiten innerhalb einer Nation aus: „Nationalkultur kann man definieren als die Kultur, die eine große Anzahl von Menschen, die einer Nation per Geburt angehören oder sich ihr zugehörig fühlen, im Verlauf ihrer Geschichte entwickelt haben und als für sie verbindlich und daseinsbestimmend definieren. Die Nationalkultur verkörpert so etwas wie das kollektive Bewusstsein der Bevölkerung, genauer: die tradierten Werte, Normen, Verhaltensregeln (Sitte, Gesetz, Brauch) und ethischmoralischen Überzeugungssysteme (Religion) sowie die daraus abgeleiteten Welt- und Menschenbilder.“ (Thomas et al. 2, 2003: 33). Er geht von der Existenz gewisser Kulturstandards innerhalb einer Nationalkultur aus.

Zahlreiche Studien haben ebenfalls kulturelle Gemeinsamkeiten innerhalb von Nationen untersucht und gefunden: Neben Hofstede ist die sehr ähnliche, wenn auch weniger umfangreiche Untersuchung von Trompenaars (vgl.: Trompenaars et al., 1997) zu erwähnen, die Ansätze von Edward T. Hall (vgl.: Hall, 1976 mit: Hall, 1983 mit: Hall, 1990), das Organizational Behavior Effectiveness (GLOBE) Research Project (vgl.: House et al., 2002), die World Value Survey (vgl.: World Values Survey) und die European Value Study (vgl.: European Values Study), um nur einige wenige zu nennen. Allen ist gemein, dass sie kulturelle Merkmale, zum Teil in Form von Dimensionen, zum Teil in Form von Kulturstandards oder Werten für Nationalkulturen herausgefunden haben.

Meist kamen sie zu ähnlichen Ergebnissen. Die verschiedenen Modelle und Theorien werden in Kapitel 3.3 vorgestellt.

In Anlehnung an die genannten Studien, deren Ergebnisse auch in diese Arbeit einfließen sollen, wird auch hier von der Existenz gewisser intranationaler kultureller Merkmale ausgegangen.

Somit kann für diese Arbeit festgehalten werden, dass „Verallgemeinerungen über „die Deutschen“ [oder hier auch: „die Mexikaner“] Aussagen über vorherrschende Tendenzen in einer nationalen Gruppe sind, aber keine Aussagen über die Einstellungen und Verhaltensweisen einzelner Angehöriger einer nationalen Gruppe. […] Die kulturelle Identität ist zwar Bestandteil des Selbstkonzepts und prägt daher die Identität des Individuums entscheidend mit, doch sie wird wesentlich ergänzt durch persönliche Identität.“ (Schroll- Machl, 2007: 31).

3.1.2 Weitere grundlegende Begriffe

In der anderen, unbekannten Kultur gelten andere kulturelle Spielregeln und somit funktioniert unser eigenkulturelles Orientierungssystem nicht mehr. Dies kann zu starken Problemen in der Verständigung und beim Zurechtkommen in der Kultur führen. Eine Art Schockzustand tritt ein, ein Kulturschock.

Erstmals wurde der Begriff in diesem Sinne 1960 von dem US-amerikanischen Anthropologen Kalvero Oberg verwendet. Oberg bezeichnete damit den U-förmigen Gefühlsverlauf vom Ankommen in einer fremden Kultur bis zur Integration und insbesondere die Krise nach der Euphoriephase4 nach dem Ankommen: „anxiety that results from losing all of our familiar signs and symbols of social intercourse.” (Oberg, 1960: 177 In: Maletzky: 776).

Dem Phasenmodell des Kulturschocks zufolge erlebt eine Person bei der Ankunft in einer neuen Kultur zunächst größtenteils positive Gefühle: Alles ist neu und aufregend (Honeymoon-Phase). Mit der Zeit jedoch holt einen der Alltag ein, die neuen und aufregenden Dinge sind nicht mehr so neu und aufregend und es tauchen mehr und mehr Dinge auf, die mit der eigenen Kultur bzw. dem eigenen Verhalten und Verständnis nicht einher gehen. „Im Kontakt mit Menschen aus einer fremden Kultur wird man permanent mit deren kulturellen Besonderheiten konfrontiert. Unterschiedliche Wertesysteme und Verhaltensweisen prallen aufeinander.“ (Kumbier et al.: 175).

Somit kommt es zu einer persönlichen Krise, die meist von vielen negativen Gefühlen begleitet wird. Welche das im Einzelnen sind, war Teil der Untersuchung, die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführt wurde.5

Meistens folgt auf diese Krise eine Erholungsphase, das heißt eine Gewöhnung und Anpassung an die fremdkulturellen Regeln und Werte. Somit neutralisieren sich die Gefühle wieder.

Bis zu diesem Punkt definierte Oberg die Kurve. Da auch beim Wiedereintritt in die eigene Kultur ein kleiner Kulturschock (re-entry shock) erlebt wird, auf den wiederum eine Anpassungsphase bis zur Wiedereingewöhnung folgt, wurde die U-Kurve später zur W-Kurve erweitert.

Eine wichtige Rolle wird die Thematik Selbst- und Fremdbild in dieser Arbeit spielen. Zwei umfangreiche Fragen beschäftigen sich damit, wie die Probanden ihre eigene Kultur sehen und wie sie die mexikanische Kultur sehen. Mit Selbstbild ist im Allgemeinen gemeint, wie jede Person sich selbst wahrnimmt, ihr Äußeres als auch ihre Einstellungen, Charaktermerkmale etc. Das Fremdbild bezeichnet, wie eine Person ihr Gegenüber wahrnimmt, sowohl äußerlich als auch innerlich.

In dieser Arbeit soll es unter anderem auch um das kulturelle Selbstbild gehen. Das heißt, nicht die persönliche Wahrnehmung der eigenen Person wird hier betrachtet, sondern die individuelle Wahrnehmung der eigenen Kultur6. Das gleiche gilt für das Fremdbild: Es soll das kulturelle Fremdbild, das die Deutschen von der mexikanischen Kultur haben, untersucht werden, ebenso wie das kulturelle Selbstbild der Mexikaner.

Das persönliche wie auch das kulturelle Selbstbild werden von dem Fremdbild anderer beeinflusst. In dieser Arbeit soll auch untersucht werden, inwiefern sich das kulturelle und das persönliche Selbstbild mit steigender Aufenthaltsdauer verändert. „Das eigene Selbstbild ist aus einer Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur erwachsen. Es ist entstanden durch die Positionierung in der eigenen Kultur und durch die Rückmeldungen des sozialen Umfeldes. Da die Rückmeldungen im neuen Umfeld von den bisher gewohnten abweichen, wird das bisherige Selbstbild nicht mehr bestätigt. Das Selbstbild stimmt nicht mehr mit dem Bild der anderen überein. Da das Fremdbild jedoch in hohem Maße auch das eigene Selbstbild beeinflusst, können veränderte Rückmeldungen in einem neuen kulturellen Umfeld das eigene Selbstkonzept in Frage stellen und somit zu einer Verunsicherung der eigenen Identität führen (Layes, 2003).“ (Kumbier et al., 2009: 176).

3.2 Kulturelle Merkmale versus Stereotypisierung

Damit die Vielfalt an Informationen, die tagtäglich auf jeden Einzelnen einwirkt, überhaupt verarbeitet werden kann, muss eine Reduktion der Komplexität stattfinden. Dabei hilft unter anderem ein kultureller Filter, durch den die Umwelt wahrgenommen und interpretiert wird. Treffen Angehörige verschiedener Kulturen aufeinander, helfen ihnen Stereotype bei der Komplexitätsreduktion bzw. bei der Wahrnehmung und Interpretation des Unbekannten. Allgemein kann man Stereotypisierung kurz als die Zuschreibung von Eigenschaften zu einer bestimmten Personengruppe (vgl.: Nazarkiewicz, 2002: 2) definieren, wobei es hier lediglich um Stereotypisierung von Nationalkulturen gehen soll, nicht um Stereotypisierung gewisser Subkulturen oder religiöser Gruppen oder ähnliches.

„Das führt zwar immer wieder zu Verzerrungen, aber ermöglicht erst die Orientierung in neuen Situationen.“ (Thomas et al. 1, 2003: 21). Auch Kulturstandards erfüllen die Funktion von Stereotypen: Sie kategorisieren kulturelle Eigenschaften, um Orientierung zu ermöglichen (vgl.: ebd.).

Was unterscheidet wissenschaftliche Kategorisierung von Stereotypisierung und „wann sind Stereotype notwendige allgemeine Kategorisierungsleistungen, die dem Prozess der Informationsverarbeitung und der Orientierung dienen; in welchen Situationen werden sie zu übergeneralisierten abwertenden (Vor-)Urteilen und verhindern ein Einfühlen in die konstruierte Gruppe?“ (Nazarkiewicz, 2002: 1).

3.2.1 Unterscheidung zwischen Stereotypisierung und kultureller Kategorisierung

Kulturelle Kategorisierungen, zum Beispiel in Form von Kulturstandards, ähneln den Stereotypen insofern, als dass sie durch Verallgemeinerung zu kategorischen Eigenschaften für eine bestimmte Personengruppe kommen.

Der wesentliche Unterschied zwischen Stereotypisierung und wissenschaftlicher Kategorisierung liegt jedoch darin, dass zur wissenschaftlichen Kategorisierung eine Vielzahl von Fällen empirisch und vor allem von Kulturangehörigen untersucht wird: „sie [werden] nicht einfach aus kulturdivergenten Bemerkungen, Meinungen und Einstellungen anderer über die deutsche Kultur herausgearbeitet […], die gewissen Wahrnehmungsverzerrungen unterliegen und oft nur allgemeine und abstrakte Eindrücke wiedergeben, sondern [werden] aus real und alltäglich erlebten Handlungs situationen von Deutschen erklärt […].“ (Schroll- Machl, 2007: 34).

Kulturelle Stereotype sind demnach Einstellungen oder Äußerungen über eine bestimmte Kultur von Kultur fremden. Daraus ergeben sich vielerlei Konsequenzen, die den Unterschied zwischen Stereotypen und wissenschaftlichen Kategorisierungen markieren: Kulturfremde kennen die Fremdkultur bei weitem nicht so gut wie Personen, die in der Kultur beheimatet sind. Außerdem beschreiben und erklären Kulturfremde die von ihnen beobachteten Merkmale und Eigenarten der fremden Kultur mit ihren eigenkulturellen Regeln und Erklärungsmustern. Diese müssen nicht mit denen der Fremdkultur übereinstimmen, wodurch es zu Fehlinterpretationen, Missverständnissen und vor allem auch zu „falschen“ Verallgemeinerungen kommt.

Um diese Effekte zu vermeiden, werden wissenschaftliche Kategorien für eine Kultur nur von Personen erarbeitet, die in der Kultur beheimatet sind. Als Grundlage für die Erstellung der Kategorien dient eine Vielzahl von gesammelten Alltagssituationen, die von mehreren Personen analysiert werden. Nach diesem langwierigen Prozess generalisieren die Personen hieraus Kulturkategorien. „Kulturstandards sind kategoriale Bestimmungen und erfüllen deshalb die Funktion von Stereotypen. Sie unterscheiden sich aber von Vorurteilen gegenüber einer anderen Kultur, weil sie nicht vereinfachte, unreflektierte Bemerkungen, Meinungen und Einstellungen über eine Zielkultur widerspiegeln, sondern aus der systematischen Analyse realer und alltäglich erlebter Handlungssituationen heraus konstruiert werden.“ (Thomas et al. 1, 2003: 21).

3.2.2 Entstehung von Stereotypen

Weil keine zwei Kulturen über genau die gleichen Werte verfügen, treffen bei einer interkulturellen Kommunikation früher oder später verschiedene Vorstellungen und Einstellungen basierend auf tief verwurzelten, kulturell geprägten Normen und Werten aufeinander. Jeder Mensch geht zunächst davon aus, dass seine Werte oder Normen richtig sind, sonst würde er schließlich andere vertreten (vgl.: Singer, 1998: 37). Merkt ein Kommunikationsteilnehmer, dass seine Normen und Werte von seinem Gegenüber nicht oder zumindest nicht in gleichem Maße geteilt werden, kann es zu einem Konflikt kommen. Häufig lassen die anderen fremdkulturellen Werte des Gegenübers das Gefühl entstehen, er würde gar nicht über die eigenkulturellen Werte verfügen oder diese gar zurückweisen (vgl.: Kumbier et al., 2009: 64). Dadurch entsteht das Gefühl einer Bedrohung der eigenen Werte und somit des (kulturellen) Selbstbildes (vgl.: a.a.O.: 81).

„Soweit das Wahrnehmen, Deuten und Verhalten eigenkulturell genährt ist, kann es die Fremdartigkeit anderer Verhaltensmuster zwar mehr oder minder irritiert konstatieren, aber 16 nicht unbedingt zutreffend erklären und verstehen. Die Erklärungsversuche, die dennoch unternommen werden, passen lediglich zu den Maßstäben und Routinen der eigenen Kultur, müssen aber keineswegs stimmen, also die fremdkulturelle Wirklichkeit adäquat abbilden.“ (Kumbier et al., 2009: 66).

Da jede kulturfremde Person zunächst nur über ihre eigenkulturellen Maßstäbe verfügt - sofern sie kein Wissen bzw. nur ungenügendes Wissen über die fremde Kultur hat - muss sie zwangsläufig alles Handeln und Sprechen unseres Gegenübers mit ihren eigenkulturellen Maßstäben, Werten und Normen erklären. Somit unterstellt sie dem Verhalten ihres Gegenübers gewisse Ursachen: sie attribuiert (vgl.: Thomas et al. 2, 2003: 44). Das Suchen - und Finden - von Ursachen für ein Geschehnis bzw. das Handeln des Gegenübers liegt in der Natur des Menschen: „Moreover, humans are disposed to search for the causes of events: Individuals do not merely register events, but they attempt to explain why they happened.” (Försterling, 2001: 1). Aber es wird nicht nur nach Ursachen gesucht, diese werden auch bewertet (vgl.: Roth, 2004: 42). Da jede Person, wie bereits gesagt, prinzipiell davon ausgeht, dass sie selbst richtig liegt, fällt diese Bewertung bei von ihrem Verhalten abweichenden Verhalten des anderen oft negativ aus. Falls sie selbst einmal wider ihrer eigenen Überzeugungen oder „schlecht“ handelt, schreibt sie dies äußeren Umständen zu, die sie dazu „gezwungen haben“, so zu handeln. Bei der Attribution von fremdem Verhalten ist es genau andersherum - und das gilt für jede Kommunikation, interkulturell oder nicht: Anstatt nach situationalen Faktoren für das scheinbar negative, also von der Norm abweichende Verhalten zu suchen, werden sofort (schlechte) Persönlichkeitseigenschaften als Ursache für das Verhalten angenommen (vgl.: ebd.). Es wird ein fundamentaler Attributionsfehler begangen.

Durch die vorgefertigten Stereotype wird unsere Wahrnehmung verzerrt und selektiv, sodass wir diese sogar in unähnlichen Interaktionen bestätigt sehen (vgl.: Kumbier et al., 2009: 62). Individuelle Unterschiede zwischen Angehörigen der Fremdkultur verschwimmen: „Für uns sind DIE ANDEREN „ganz anders“ und überdies untereinander ziemlich gleich.“ (a.a.O.: 34). Stereotype müssen aber nicht immer negativ behaftet sein. Sie können durchaus positive Verallgemeinerungen über eine Kultur beinhalten, wie zum Beispiel „Allgemein sind die viel kommunikativer, die reden viel mehr miteinander.“7 oder auch wertfreie Aussagen wie „Mama ist [hier] ja eigentlich die Königin.“8 Dennoch können auch diese positiven oder wertfreien Stereotype zu Fehlinterpretationen und eventuellen Missverständnissen beitragen.

Stereotype wirken sich vor allem dann negativ aus, wenn sie sich zu Vorurteilen verfestigen. Vorurteile gehen aus Stereotypen hervor, spiegeln also ein Urteil über eine bestimmte Menschengruppe wider, sind somit übergeneralisiert und - als Erweiterung der Stereotype - veränderungsresistent: „Vorurteile sind negative oder ablehnende Einstellungen einem Menschen oder einer Menschengruppe gegenüber, wobei dieser Gruppe infolge stereotyper Vorstellungen bestimmte Eigenschaften von vornherein zugeschrieben werden, die sich aufgrund von Starrheit und gefühlsmäßiger Ladung selbst bei widersprechender Erfahrung schwer korrigieren lassen. (Davis 1964, S. 53)“ (IDA-NRW)

3.2.3 Umgang mit Stereotypen

Adrian Holliday et al. sind nicht wie Thomas et al. (vgl.: Thomas et al. 1, 2003: 21) der Meinung, Stereotypisierung sei etwas Natürliches, Unvermeidbares, das dabei hilft, das Unbekannte einzuordnen: „One reason is that we do not behave sufficiently rationally in intercultural dealings to be able to work objectively with such templates. A major reason is that stereotypes are often infected by prejudice, which in turn leads to otherization.” (Holliday et al., 2004: 23). So können vorgefertigte Stereotype bzw. vermeintliche Kenntnis über kulturelle Merkmale einfache, (vor)schnelle und vor allem falsche Erklärungen für das Verhalten einer Person aus einer anderen Kultur erzeugen: Eine Studentin erzählte in der im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Gruppendiskussion davon, dass sie einen Mexikaner nach dem Weg fragte und eine falsche Auskunft erhielt. Daraufhin schlussfolgert eine Freundin: „Ja, aba is ja mit dem Neinsagen nich so, ne?“9 Diese Bemerkung wurde von den anderen als Erklärung akzeptiert und auch für die Erklärung anderer Phänomene herangezogen.10

Außerdem können Stereotypen über bestimmte Eigenschaften einer Kultur weitere Stereotypisierungen bzw. Verallgemeinerungen nach sich ziehen: So zog ein Austauschstudent, der für ein Semester in Mexiko studierte, aus seinen negativen Erfahrungen mit Fragen zu Uhrzeit und Weg in Mexiko die Schlussfolgerung: „Das wichtigste: glaub einem Mexikaner nie weder was Uhrzeit noch den Weg angeht “ (Wolff, 2005: 11). Ein anderer deutscher Austauschstudent aus der gleichen Universität hat offensichtlich schon Kontakt mit Kulturstandards und -dimensionen gemacht und zieht daraus seine Schlüsse über die Mexikaner: „Mexicans are very high context, which means, that they never really directly say what they mean, time for them is not as rigid and they are often unpunctual or just do not show up.“ (Wolff, 2005: 13).

(Vermeintliche) Kenntnis über Kulturmerkmale und vor allem die unreflektierte und eindimensionale Anwendung dieser können Stereotype durchaus herbeiführen oder nähren. Holliday et al. lehnt daher das Nutzen von Stereotypen zum Zurechtfinden in anderen Kulturen aus den oben genannten Gründen generell ab. Stattdessen schlagen sie ein Konzept vor, dass sie Thick Description11 nennen, welches die Komplexität der (Hinter-)Gründe einer sozialen Handlung beachtet. Dieser Ansatz enthält folgende Elemente, welche zusammen die komplexen Perspektiven einer Handlung wiedergeben sollen:

- „Juxtap-sition of the unexpected
- Complex many-layered, many-faceted society
- Where we come from
- Complex representation - unexpected people, artefacts and instances” (Holliday et al., 2004: 8)

In einer interkulturellen Situation sollen alle vier genannten Facetten zur Beschreibung und Erklärung der Handlungen des Gegenübers herangezogen werden. Besonders wichtig ist die Komplexität der anderen Kultur zu achten, damit die Unterschiede innerhalb einer Kultur sowie persönliche Merkmale der Person nicht verschwimmen. „Respond to people according to how you find them rather than according to what you have heard about them. [...] Avoid easy answers about how people are.“ (a.a.O., 2004: 10).

Auch Alexander Thomas zeigt in dem „Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation“ Verhaltensmöglichkeiten auf, wobei er diese in vier mögliche Typen gliedert, die hierarchisch geordnet sind:

- „ Dominanzkonzept: Die eigenkulturellen Werte und Normen werden fremden
ulturen gegenüber als überlegen angesehen. Eigenes soll sich gegen Fremdeinflüsse durchsetzen und das Interaktionsgeschehen dominieren. [...]
- Assimilationskonzept: Die fremdkulturellen Werte und Normen werden bereitwillig übernommen und in das eigene Handeln integriert. Die Anpassungstendenzen an die fremde Kultur können so stark werden, dass ein Verlust der eigenen kulturellen Identität erfolgt und ein völliges Aufgehen in der Fremdkultur versucht wird. [...]
- Divergenzkonzept: Werte und Normen beider Kulturen werden als bedeutsam
und effektiv angesehen. Viele Elemente sind allerdings inkompatibel und führen in der Anwendung zu ständigen Widersprüchen. Da eine Integration nicht gelingt, kommt es zu unauflösbaren Divergenzen und ständigen Schwankungen zwischen dem eigenkulturellen und dem fremdkulturellen Orientierungssystem. Besonders in der Anfangsphase der Bildung interkultureller Formen der Zusammenarbeit sind solche Prozesse zu beobachten. [...]
- Synthesekonzept: Den Partnern gelingt es, bedeutsame Elemente beider
Kulturen zu einer neuen Qualität (Gesamtheit) zu verschmelzen. Das Resultat besteht dann nicht mehr in der Bevorzugung einer der beiden Kulturen, sondern in einer aus den Ressourcen beider Kulturen gewonnenen Neudefinition und Neuorganisation wichtiger Elemente, die dann für beide Partner normbildend werden. So können unter günstigen Bedingungen kulturelle Synergieeffekte entstehen.“

(Thomas et al. 2, 2003: 48)

Das ausgewogenste und somit idealste dieser Verhaltensweisen ist das Synthesekonzept. Die Frage ist, wie kann man dieses erreichen, wo doch die Bildung von Stereotypen und deren Auswirkung auf die Wahrnehmung unvermeidbar ist?

Nazarkiewicz und Thomas et al. sind der Meinung, es sei entscheidend, wie die Stereotype kommuniziert werden (vgl.: Nazarkiewicz, 2002: 2) und wie sehr man sich ihrer bewusst ist (vgl.: Thomas et al. 1, 2003: 21).

Das Wissen über kulturelle Merkmale des Gegenübers kann durchaus hilfreich sein. Vor allem Wissen um die eigene kulturelle Prägung kann zu erfolgreicher interkultureller Kommunikation beitragen.

„Die eigene Kultur ist eben nicht per se überlegen. Diese Einsicht fällt häufig schwerer als man denkt, da die eigene Kultur ein natürlicher Bezugsrahmen ist. Wichtig ist, eine Balance zu finden.“ (Kumbier et al., 2009: 144). Da man das eigene Bewertungssystem nicht einfach ablegen kann, reicht das bloße Wissen um das Anderssein der Anderen, das heißt, um deren kulturelle Merkmale meist nicht aus. Für das interkulturelle Lernen ist es besonders wichtig, sich der eigenen kulturellen Prägung bewusst zu werden und „die eigene Bewertungsgrundlage zu reflektieren“ (vgl.: Nazarkiewicz, 2002: 11).

Gelingt dies und es kommt eine Kommunikation zustande, werden früher oder später Gemeinsamkeiten entdeckt: „I will remain „I“ until somehow you and I communicate and discover that together we form a „we“.“ (Singer, 1998: 57). Breitenbach beschreibt dieses „we“ als dritte Kultur, die beide Kommunikationspartner zusammen entwickeln (vgl.: Thomas et al. 2, 2003: 44). In dieser dritten Kultur werden die Merkmale beider Kulturen vereint und gleichsam wertgeschätzt. Es kommt zur Synergie im Sinne des oben genannten Synergiekonzeptes. „Eigenes und Fremdes müssen unter den Bedingungen interkultureller Zusammenarbeit aufeinander abgestimmt werden. Dieser Abstimmungsprozess erfordert eine Distanzierung vom Gewohnten und Althergebrachten und einen Perspektivwechsel in Bezug auf die Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen des eigenen Orientierungssystems. Neue Möglichkeiten müssen erkannt und genutzt, aber neue Handlungsbarrieren auch anerkannt und geachtet werden.“ (Thomas et al. 2, 2003: 54).

3.3 Wissenschaftliche Ansätze: Kulturstandards und -dimensionen und Kommunikationsmodelle

Da „interkulturelle Kommunikation“ ein interdisziplinäres Fach (vgl.: Behrens, 2007: 1) ist, werden in dieser Arbeit Modelle, Analyse- und Auswertungstechniken und Ergebnisse von Studien und Ansätzen aus verschiedenen Disziplinen Einfluss finden, unter anderem aus der Anthropologie, Psychologie und der Linguistik.

In einer der im Rahmen dieser Arbeit durchgeführten Gruppendiskussionen wurde angeprangert, dass die Mexikaner immer so laut seien, und Rücksichtnehmen auf andere könnten sie auch nicht.12 Diese Aussagen werden vermutlich auch Teil ihrer Beschreibung der Mexikaner sein, wenn sie zurück nach Deutschland kommen und gefragt werden: „Wie sind die Mexikaner denn so?“ Was machen die Studenten hier, wenn sie solche Aussagen formulieren? Erstens leiten sie bestimmte mexikanische Verhaltensmuster aus ihren Erfahrungen mit Mexikanern ab und zweitens kleiden sie diese in Begriffe, die ihnen und dem Fragenden verständlich sind (vgl.: Thomas et al. 2, 2003: 60). Genau das gleiche Vorgehen wenden Wissenschaftler zur Untersuchung von Kulturstandards an: Es „wird der Versuch unternommen, ein bestimmtes Verhalten auf ein zugrunde liegendes, kulturelles Merkmal zurückzuführen.“ (ebd.). Kulturdimensionen untersuchen, „ob bestimmte Kulturstandards auf bestimmte Grunddimensionen menschlichen Verhaltens zurückgeführt und dort lokalisiert werden können.“ (ebd.).

Kulturstandards und Kulturdimensionen stellten die Grundlage für die Erstellung des Fragebogens und der Gruppendiskussion dar und werden in die Analyse und die Auswertung einfließen, zur Erklärungen beitragen oder den Ergebnissen kontrastiv gegenüber gestellt werden.

Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, werden die einzelnen Modelle nur vorgestellt und nicht diskutiert werden.

3.3.1 Kulturdimensionen

Kulturdimensionen sind durch die Existenz zweier entgegengesetzter Extrempole gekennzeichnet. Es können nicht beide gleichzeitig existieren, sondern die jeweilige Kultur wird auf einer Skala zwischen beiden Polen eingeordnet.

Die wohl bekannteste und auch umfangreichste Studie zu Kulturdimensionen führte 1980 Geert Hofstede durch: Er erforschte innerhalb des Großkonzerns IBM mithilfe eines Fragebogens in über 50 Ländern kulturelle Eigenschaften und leitete daraus zunächst vier Kulturdimensionen ab, die er später auf fünf erweiterte: power distance, collectivism versus individualism, femininity versus masculinity, uncertainty avoidance und die fünfte: long-term versus short-term orientation. Für letztere liegen nur Daten zu 39 Ländern vor, Mexiko ist nicht unter ihnen (vgl.: Hofstede et al., 2005: 211).

Power distance13 beschreibt den Grad der Akzeptanz von ungleich verteilter Macht innerhalb einer Institution oder Organisation durch die am wenigsten mächtige Person. Deutschland belegt hier 63 - 65 und Mexiko Rang 10 - 11 von 74 (vgl.: a.a.O.: 43f.). Demnach herrscht in Mexiko eine deutlich größere Machtdistanz als in Deutschland.

In der Dimension Collectivism versus Individualism meint Kollektivismus in einer Gesellschaft, dass die Personen von Geburt an sehr stark in die Gemeinschaft eingebunden werden und dieser zu unbedingter Loyalität verpflichtet sind. In individualistischen Gesellschaften hingegen sind die Beziehungen zwischen Personen eher locker und auf Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit wird Wert gelegt. Auch hier besteht Hofstede zufolge ein deutlicher Unterschied zwischen Deutschland und Mexiko: Deutschland ist hier auf Rang 18, Mexiko auf 46 - 48 des Individualismus-Index. Demzufolge ist die deutsche Kultur sehr viel individualistischer eingestellt als die mexikanische. Dies wurde auch in der Onlineumfrage untersucht.

Femininity versus masculinity: In maskulinen Gesellschaften sind die Rollen von Mann und Frau klar definiert: Männer bestimmen, sie sollen hart bzw. widerstandsfähig sein und sich auf materielle Dinge konzentrieren; Frauen sind weicher und bescheidener und konzentrieren sich auf Dinge, die die Lebensqualität erhöhen. In femininen Gesellschaften überlappen diese Rollen, auch Männer können weich und bescheiden sein, ebenso wie Frauen bestimmend und durchsetzungsfähig. Hier gibt es kaum einen Unterschied zwischen den beiden untersuchten Kulturen: Mexiko liegt auf Rang 8, Deutschland auf Rang 11 - 13 (vgl.: Hofstede et al., 2005: 120).

Uncertainty avoidance (von schwach zu stark) beschreibt den Grad der Unsicherheitsvermeidung, der beim Auftreten von unbekannten oder doppeldeutigen Situationen in einer Gesellschaft vorherrscht. Sowohl Mexiko als auch Deutschland befinden sich hier in den mittleren Rängen, Mexiko allerdings in der ersten Hälfte (Rang 26 - 27), Deutschland in der zweiten (Rang 43 von 74). Demnach herrscht in Mexiko eine schwächere Unsicherheitsvermeidung als in Deutschland. Dies zeigt sich auch an den zahlreichen Regelungen in Deutschland, deren Bedeutung für die deutsche Kultur auch in den weiter unten aufgeführten Kulturstandards dargestellt ist.

Long-term versus short-term orientation beschreibt die Einstellung zu Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit und was aus dieser resultiert: long-term orientierte Kulturen sind eher zukunftsorientiert, ausdauernd und sparsam. Short-term orientierte Gesellschaften hingegen sind eher in der Gegenwart und in der Vergangenheit verhaftet, sie sind traditionsliebend, vermeiden Gesichtsverlust und bemühen sich um die Erfüllung von sozialen Verpflichtungen. Diese Dimension wurde nur in 39 Ländern untersucht. Mexiko war nicht unter ihnen. Deutschland war hier auf Rang 31 von 39, also eher gegenwartsorientiert. Auch dies wurde in der Onlineumfrage im Vergleich zu Mexiko untersucht.

Der Anthropologe Edward T. Hall hat sich hauptsächlich mit der Bedeutung von Zeit, Raum und der Informationsdichte von Botschaften in unterschiedlichen Kulturen auseinander gesetzt. Hierbei ist er zu zwei grundlegenden Kulturdimensionen und einem Kulturaspekt, den er jedoch nicht als Dimension aufspannt, gekommen: Monochronism versus Polychronism, High Context versus Low Context und Proxemics. Ersteres beschreibt die Art und Weise, wie Menschen Aufgaben erledigen, Termine machen und einhalten, ihren Tag organisieren etc. In einer monochronen Kultur neigen die in dieser Kultur Beheimateten dazu, Aufgaben nacheinander zu erledigen, ihren Tag gut zeitlich durchzustrukturieren und viel zu organisieren und zu planen. In polychronen Kulturen dagegen werden Aufgaben häufig gleichzeitig erledigt, das Beenden von Aufgaben und die Zuwendung zum Menschen sind wichtiger als das Einhalten von Zeitplänen und Verabredungen und Termine werden nicht so ernst genommen (vgl.: Hall, 1983: 46). Ihm zufolge sind die lateinamerikanischen Länder, wie Mexiko, eher polychron organisiert und die nordeuropäischen und auch Deutschland eher monochron (vgl.: ebd.). High Context versus Low Context beschreibt, wie viel von dem Gemeinten tatsächlich ausgesprochen wird bzw. wie viel implizit in der Mitteilung beinhaltet ist, ohne dass es explizit gesagt wird (= hoher Kontext) (vgl.: a.a.O.: 61). Der Grad an Explizitheit ist von Kultur zu Kultur verschieden. Dies kann in interkulturellen Begegnungen zu Verständnisproblemen führen. So ist zum Beispiel die mexikanische Kultur im Vergleich zur deutschen weniger explizit (vgl.: a.a.O.: 62ff.). Dies zeigt sich in einer gewissen Indirektheit, deren Untersuchung einen Teil dieser Arbeit ausmacht.

Proxemics meint das Nutzen von Raum und wie die Personen einer Kultur damit umgehen (vgl.: a.a.O.: 153), also zum Beispiel wie nah sie einander beim Sprechen stehen oder wie oft und wie sie sich beim Kommunizieren berühren. Ist bei einem Dialog in der eigenen Kultur ein Abstand von einem halben Meter zu der anderen Person angemessen, in der Fremdkultur aber nur die Hälfte, werden beide Personen beim Gespräch versuchen, den für sie angenehmen Körperabstand herzustellen. Sobald einer der beiden Personen dies gelungen ist, wird sich die andere unwohl fühlen, da der Abstand für sie wiederum nicht angemessen ist und wird versuchen, diesen zu ändern.

Ebenso wie Hofstede untersuchte auch Fons Trompenaars kulturelle Eigenschaften innerhalb von Wirtschaftsunternehmen in unterschiedlichen Kulturen. Trompenaars jedoch bezog seine Ergebnisse nur auf die Unternehmenskulturen und generalisierte sie nicht (direkt) für Nationalkulturen (vgl.: Trompenaars et al., 1997: 2).

Dennoch werden seine Kulturdimensionen häufig als nationale Kulturdimensionen - außerhalb von Unternehmen - gebraucht und haben sich als solche bewährt und sollen daher an dieser Stelle vorgestellt werden.

Trompenaars kam nach fünfzehn Jahren Feld- und Forschungsarbeit und interkulturellen Trainings in über 20 Ländern und Untersuchungen in 50 Ländern (vgl.: a.a.O.: 1) auf sieben Kulturdimensionen, die er in drei Kategorien einordnete: solche, die Beziehung zu anderen Personen beschreiben, zeitbezogene und umweltbezogene (vgl.: a.a.O.: 8). Fünf der sieben fallen in die erste Kategorie. Trompenaars ordnet die Länder nicht in die jeweiligen Dimensionen ein, so wie Hofstede es tut, sondern gibt lediglich deren Position in den einzelnen Antworten an.

Die Dimension Universalism versus particularism hat die Extrempole Regelgebundenheit versus Einzelfall- und Personengebundenheit. Inwieweit wird an festgeschriebenen Regeln und Gesetzen festgehalten oder werden Ausnahmen gemacht aufgrund von Situation oder Person? Hierzu untersucht Trompenaars anhand einiger Fragen, ob die Befragten im Zweifelsfall für ihre Freunde lügen würden oder nicht. Bei den beiden Fragen, wo die Position von Mexiko und Deutschland angegeben ist, würden die mexikanischen Befragten eher ihrem Freund zuliebe die Unwahrheit sagen als die Deutschen (vgl.: Trompenaars et al., 1997: 35 und 37).

Individualism versus communitarianism: Diese Dimension ist gleichzusetzen mit Hofstedes Individualism versus Collectivism. Sie beschreibt, ob sich die Personen eher als Einzelpersonen oder als Teil einer Gruppe wahrnehmen. Bei den Fragen hierzu war die Verteilung von Deutschland und Mexiko nicht überall gleich: Die deutschen Befragten bevorzugten es eher, ihr individuelles Potential zu steigern und individuell für ihre Leistungen belohnt zu werden als die mexikanischen Befragten (vgl.: a.a.O.: 51 und 55). Auf die Frage jedoch, ob bei einem Fehler eines Teammitgliedes das Mitglied oder das Team verantwortlich gemacht werden sollten, antworteten deutlich mehr mexikanische Probanden individualistisch, der einzelne solle bestraft werden, nicht das Team.

Neutral versus emotional: Inwieweit ist das Zeigen von Emotionen in der Kultur zugelassen bzw. akzeptiert? Bei der Frage danach, ob die Befragten öffentlich Emotionen zeigen würden, antworteten die Befragten beider Kulturen mittig, wobei die deutschen Befragten noch eher Emotionen zeigen würden als die Mexikaner (vgl.: a.a.O.: 70).

Specific versus diffuse: Mit dieser Dimension wird die Trennung von Privatem und Beruflichem beschrieben. Geht man mit Geschäftspartnern vor Vertragsabschluss ausgiebig essen und baut erst eine persönliche Beziehung auf oder spielt sich alles nur auf „beruflicher Basis“ ab? Hier antworteten deutlich mehr deutsche Befragte, sie würden ihrem Chef nicht helfen, wenn er sie bitten würde, sein Haus zu streichen (vgl.: a.a.O.: 88). Achievement versus ascription: Bekomme ich einen Status oder einen guten Arbeitsplatz, wegen dem, was ich bin oder gemacht oder studiert habe oder weil ich aus der richtigen Familie komme und an der richtigen Universität studiert habe? Muss ich mir einen Status erarbeiten oder bekomme ich ihn zugeschrieben? Der Aussage hier, man solle sich selbst treu bleiben, auch wenn man nichts erreicht, stimmten mehr Mexikaner zu als Deutsche. Die andere Aussage, Respekt hänge von dem familiären Hintergrund ab, lehnen mehr mexikanische Befragte ab als deutsche. Das ist vor allem daher interessant, da der mexikanischen Kultur eine hohe Familienorientierung zugesprochen wird, wie sich im Laufe dieser Arbeit zeigen wird.

Trompenaars Kulturaspekt zum Umgang mit der Zeit (Attitudes to time) umfasst zwei Aspekte: Zum einen beschreibt er die Vergangenheits-, Gegenwarts- oder Zukunftsorientierung der jeweiligen Kultur und zum anderen, ob Zeit als gradlinige Linie wahrgenommen wird oder als Zyklus, der Vergangenheit und Zukunft miteinander verbindet. Leider gibt es in den hierzu gestellten Fragen keine Angaben zu Mexiko. Attitudes to environment, das Verhalten gegenüber der Umwelt, beschreibt, ob der Mensch die Natur bzw. Umwelt beeinflusst oder andersherum. Haben wir Macht über die Umwelt oder bestimmt unsere Umwelt uns? Auf die Frage, ob es sinnvoll ist, zu versuchen, die Umwelt zu beeinflussen oder ob man ihr seinen freien Lauf lassen sollte, antworteten die Befragten beider Nationen mittig, allerdings tendierten die Mexikaner eher zu der Aussage, es sei sinnvoll, die Natur zu beeinflussen.

Neben der Erforschung von Kulturdimensionen ist für diese Arbeit noch ein anderes von ihm untersuchtes Feld interessant: das Kommunikationsverhalten. Trompenaars stellte fest, dass Personen aus unterschiedlichen Kulturen nicht nur verschiedene Sprachen sprechen, sondern auch das Turntaking unterschiedlich behandelt wird14: So warten Personen aus angelsächsischen Kulturen bis ihr Gegenüber ausgesprochen hat und ergreifen dann das Wort, während sich in lateinamerikanischen Kulturen die Personen nicht ganz ausreden lassen, sondern ihrem Gegenüber ins Wort fallen (vgl.: Trompenaars et al., 1997: 74f.). Auch wenn seine Einteilung in angelsächsische, lateinamerikanischen und orientalische Kulturen sehr grob ist, ist die Idee des unterschiedlichen Turntakings in den dieser Arbeit zugrunde liegenden Onlinefragebogen eingegangen.

Der französische Kulturforscher Jacques Demorgon stellte ebenfalls etliche Kulturdimensionen auf. Das Besondere an seinem Modell ist, dass er die Kulturdimensionen in einen theoretischen Rahmen bettet, welcher dazu beitragen soll, dass bei der Analyse und Erklärung von interkultureller Kommunikation nicht nur kulturelle Erklärungen gesucht werden. Drei Filter sollen dies verhindern:

1. Ebene: Auf welcher Ebene findet das Verhalten der Person statt, auf der Individualebene, der Kleingruppenebene, der Subkulturebene oder der nationalkulturellen Ebene? Verhält sich diese Person, wie sie sich verhält aufgrund ihrer persönlichen Eigenschaften, aufgrund gewisser subkultureller Ebenen, zum Beispiel ihrer Schichtzugehörigkeit oder handelt es sich tatsächlich um ein nationalkulturelles Merkmal?
2. Lebensbereich: Spielt sich das Verhalten im Privaten oder auf beruflicher Ebene ab, mit der Familie oder mit Freunden?
3. Geschichte: Welche momentanen oder vergangenen gesellschaftlichen Ereignisse könnten das Verhalten beeinflussen? Wäre unter anderen gesellschaftlichen Gegebenheiten das Verhalten anders?

(Vgl.: Thomas et al. 2, 2003: 67)

Vergleicht man diese drei Filter mit dem Person-Situation-Kultur-Dreieck könnte man den ersten Filter, die Ebene, mit der Person gleichsetzen, welche die Persönlichkeit oder eventuelle Subkulturen oder Kleingruppen beinhaltet. Den zweiten Filter, Lebensbereich, könnte man als Situation interpretieren. Einzig die Geschichte bleibt in dem altbekannten Dreieck unbeachtet.

Demorgon versucht mit seinen Kulturdimensionen, „das gesamte Spektrum möglicher menschlicher Handlungsweisen abzudecken“ (a.a.O.: 65). Seine Kulturdimensionen sind zahlreicher als die von Hofstede und Trompenaars. Für diese Arbeit sollen jedoch die bisher genannten Dimensionen sowie die hier genannten Filter von Demorgon ausreichen.

Allen hier beschriebenen Ansätzen ist die Annahme von Nationalkulturen und gewissen innerhalb dieser Nationalkulturen allgemein gültigen Kulturdimensionen gemein. Da sie sich alle untereinander mehr oder weniger stark unterscheiden und alle in gewissen Umfeldern Anwendung finden, ist die Erstellung eines Modells mit universeller Gültigkeit bisher offenbar nicht gelungen. Unbestreitbar bleibt dennoch die Wichtigkeit, die Kulturdimensionen in der Analyse und Erforschung von interkultureller Kommunikation und vor allem auch in interkulturellen Trainings einnehmen.

3.3.2 Kulturstandards

Kulturstandards spannen im Gegenteil zu Kulturdimensionen keine Dimension zwischen zwei Extrempunkten auf. Sie geben vielmehr ein kulturelles Muster wider, das einem bestimmten Verhalten zugrunde liegt (vgl.: Thomas et al. 2, 2003: 60). Sie sind stets in einem zeitlichen Kontext zu sehen und folgen dem sozialen Wandel in einer Gesellschaft (vgl.: Thomas et al. 1, 2003: 21). „Kulturstandards können als „Denkwerkzeuge“ zur Selbst- und Fremdreflexion in interkulturellen Lernprozessen dienen. Sie müssen einer weiteren Differenzierung immer offen stehen, um einer Person als Individuum und nicht ausschließlich als Kulturträger wirklich gerecht werden zu können. Sie sind eher aufzufassen als begründete Fragen, die eine Person an eine interkulturelle Begegnungssituation stellen kann, um sie in ihrer Komplexität angemessen einschätzen und angemessen handeln zu können.“ (a.a.O.:22).

Auch ihre Entstehung unterscheidet sich signifikant von der der Kulturdimensionen, welche durch empirische Untersuchungen, meist mithilfe von Fragebögen, und darauf folgenden logischen Überlegungen gewonnen werden. Kulturstandards in der interkulturellen Psychologie werden durch die Analyse von kritischen Ereignissen generiert (vgl.: Schroll- Machl, 2007: 32): Wie bereits gesagt, werden die eigenen kulturellen Merkmale erst dann deutlich, wenn wir auf andere Ansichten, Werte und Normen treffen, die unseren widersprechen. Derartige Erfahrungen werden in der Kulturstandardforschung gesammelt oder künstlich erzeugt und erlebbar gemacht und daraufhin von Kulturangehörigen im Hinblick auf die eigenen Kulturmerkmale erklärt und kategorisiert (vgl.: Schroll-Machl, 2007: 33). „Kulturstandards stellen nun die Summation und Abstraktion von Erklärungen für eine Menge derartiger Kritischer Ereignisse dar. Sie unterscheiden sich auch deutlich von Stereotypen und Vorurteilen, weil sie nicht einfach aus kulturdivergenten Bemerkungen, Meinungen und Einstellungen anderer über die deutsche Kultur herausgearbeitet werden, die gewissen Wahrnehmungsverzerrungen unterliegen und oft nur allgemeine und abstrakte Eindrücke wiedergeben, sondern aus real und alltäglich erlebten Handlungs situationen, die von Deutschen erklärt werden.“ (a.a.O.: 34).

Aus zahlreichen Forschungen und Gegenüberstellungen der deutschen mit anderen Kulturen wurden sechs deutsche Kulturstandards generiert, die hier mit einigen Schlagwörtern knapp erläutert werden:

- Sachorientierung: direkt, zielorientiert, persönlicher Besitz hat hohen Wert
- Wertschätzung von Strukturen und Regeln: ordnungsliebend, klare Regeln und Strukturen bevorzugt Voraussetzung für Erfolg und Qualität, viel Planung, Perfektionismus
- Regelorientierte, internalisierte Kontrolle: Disziplin und Gerechtigkeit wichtig, Selbstständigkeit schon bei Kindern, Zuverlässigkeit, Moral
- Zeitplanung: Planung von Öffnungszeiten, Arbeitszeiten und Freizeit, Wichtigkeit von Terminen, Zeitmanagement Vorraussetzung für Professionalität
- Trennung von Persönlichkeits- und Lebensbereichen: im Privaten beziehungsorientiert, emotional und informell - im Beruflichen sachorientiert, rational und formell
- Direktheit der Kommunikation/ schwacher Kontext: sagen explizit und direkt, was sie meinen, Ehrlichkeit wichtig (Direktheit ist Ausdruck von Ehrlichkeit), schrecken nicht vor Konflikten und Kritik zurück (Vgl.: a.a.O.: 34 und 47 - 185)

Als mexikanische Kulturstandards gelten folgende:

- Sympathieorientierung: Vertrauensverhältnisse sehr wichtig - auch in geschäftlichen Zusammenhängen, zwischenmenschliche Beziehungen sollen harmonisch sein
- Gesicht wahren: Konfliktvermeidung, Harmoniestreben, Höflichkeit
- Kollektivismus: Gemeinschaft und Familie sehr wichtig
- Hierarchieorientierung: starkes Machtgefälle
- Repräsentationsorientierung: Erscheinung nach außen hin extrem wichtig, Statussymbole, Trennung zwischen öffentlichem und privatem Leben
- Gegenwartsorientierung: Leben und Fühlen im Jetzt, kaum langfristige Planung
- Polychrones Zeitverständnis: Erledigen von mehreren Dingen gleichzeitig, Einhalten von Termin nicht so wichtig
- Flexibilität und Spontaneität: flexibler Umgang mit Regeln, Improvisationstalent

(Vgl.: Ferres, et al., 2005 : 132f.)

Schon beim bloßen Lesen der deutschen und mexikanischen Kulturstandards entdeckt man etliche Unterschiede und sogar Gegensätze. Diese werden bei der Auswertung der erhobenen Daten in Kapitel 5 aufgegriffen.

3.3.3 Kommunikationsmodelle - Friedemann Schulz von Thun interkulturell

Zwei Kommunikationsmodelle aus der Psychologie sollen ebenfalls Eingang in diese Arbeit finden: Das Wertequadrat und die vier Seiten einer Nachricht von Friedemann Schulz von Thun. Die Diplompsychologin Dagmar Kumbier greift seine Ansätze in ihrem Buch „Interkulturelle Kommunikation: Methoden, Modelle, Beispiele“ auf und bezieht sie auf die interkulturelle Kommunikation. Schulz von Thun zufolge hat jede Nachricht vier Seiten: Sachaussage, Appell, Beziehung und Selbstkundgabe15 (siehe auch: Rez et al. In: Kumbier et al., 2009: 52f.). Jeder Sender sendet seine Botschaft verankert (schwerpunktmäßig) in einer der vier Seiten, das heißt, er versteht seine eigene Nachricht entweder mehr als Sachaussage oder als Appell usw. So kann ein Beifahrer die Aussage „Die Ampel ist rot.“ entweder als Sachaussage („Die Ampel ist rot.“), als Appell („Vorsicht, die Ampel ist rot, du musst anhalten!“), auf Beziehungsebene („Du bist mir wichtig, ich bin besorgt um dich/ uns.“ oder auch „Ich halte dich nicht für fähig genug, dass du die rote Ampel gesehen hast.“) oder als Selbstkundgabe („ Ich habe gesehen, dass die Ampel rot ist.“) meinen. Probleme bei der Kommunikation zwischen Personen aus der gleichen Kultur entstehen primär dadurch, dass die Botschaft auf einer anderen Ebene aufgenommen wird als von dem Sender gemeint. So kann der Sender im oben genannten Beispiel seine Aussage rein informativ gemeint haben und sein Gegenüber, der Fahrer oder die Fahrerin kann die Aussage auf Beziehungsebene („Ich halte dich für unfähig.“) und somit als persönlichen Angriff auffassen. An den zwei möglichen Aussagen auf der Beziehungsebene ist bereits ersichtlich, dass auch auf der gleichen Ebene Verständnisunterschiede auftreten können. Diese sind noch größer, wenn die Kommunikation zwischen zwei Personen aus unterschiedlichen Kulturen stattfindet: So kann zum Beispiel die Aussage eines Mexikaners „Wir sehen uns morgen um 3 Uhr nachmittags.“ bereits auf der Sachebene von einem Deutschen unterschiedlich verstanden werden. So wäre diese Botschaft für einen Deutschen eine ziemlich klare Zusage und mit Sicherheit wäre er am nächsten Tag um drei am verabredeten Ort. Für den Mexikaner jedoch stellt diese Aussage möglicherweise erst einmal eine Idee, ein durchaus mögliches, aber keinesfalls festes Vorhaben dar.16

Ein weiterer Ansatz von Friedemann Schulz von Thun, der an späterer Stelle dieser Arbeit zu Rate gezogen werden soll, ist das Wertequadrat. Das Modell stammt ursprünglich von dem Psychologen und Philosophen Paul Helwig (1893 - 1963) und wurde von Schulz von Thun für die zwischenmenschliche Kommunikation ausgebaut (vgl.: Schulz-von-Thun.de: Wertequadrat). Seine Grundannahme lautet: „Jeder Wert (jede Tugend, jedes Leitprinzip, jede menschliche Qualität) kann nur dann zu einer konstruktiven Wirkung gelangen, wenn er sich in ausgehaltener Spannung zu einem positiven Gegenwert, einer „Schwesterntugend“ befindet. Statt von ausgehaltener Spannung lässt sich auch von Balance sprechen. Ohne diese Balance verkommt ein Wert zu seiner entwerteten Übertreibung.“ (ebd.).

Somit enthält das Wertequadrat im oberen Bereich zwei Gegenwerte, die sich gegenseitig jedoch nicht ausschließen, sondern vielmehr ergänzen (vgl.: Kumbier et al., 2009: 15), zum Beispiel Individualismus und Kollektivismus, und im unteren Bereich ist die jeweilige Entartung des oberen Wertes zu finden, zum Beispiel totalitäre Selbstlosigkeit und Egozentrismus.17

Bei interkultureller Kommunikation besteht die Gefahr darin, beim Auftreten unterschiedlicher Werte im oberen Bereich des Wertequadrates, die eigene Kultur im oberen Bereich anzuordnen und die andere Kultur im unteren Bereich, im „Keller der Entartung“ (vgl.: ebd.). So kann zum Beispiel ein „verlässlicher Deutscher“ die Spontaneität der Mexikaner als Unzuverlässigkeit und andersherum der „spontane Mexikaner“ die Verlässlichkeit des Deutschen als Rigidität abstempeln.18

[...]


1 Vgl.: 1. Axiom von Paul Watzlawick zur Kommunikationstheorie

2 Vgl.: Person-Situation-Kultur-Dreieck

3 Der Hofstedesche Ansatz war und ist großer Kritik ausgesetzt. Vor allem die Verallgemeinerung von den von ihm untersuchten unternehmensinternen kulturellen Unterschieden zu nationalen Merkmalen sowie der Rückschluss von einigen wenigen Fragen auf kulturelle Dimensionen werden kritisiert (siehe auch Behrens, 2007). Dennoch ist seine Arbeit einzigartig in ihrer Größenordnung und ist vermutlich auch aufgrund ihrer Einfachheit und Übersichtlichkeit Grundlage vieler wissenschaftlicher Arbeiten. Seine Ergebnisse wurden (u.a.) bei den World Values Survey und European Values Study verwendet, die in kurzen Abständen Untersuchungen in Ländern auf der ganzen Welt durchführen. Aufgrund der Popularität soll sein Ansatz auch in dieser Magisterarbeit nicht fehlen.

4 Siehe Anhang 9, Grafik zum Phasenverlauf des Kulturschocks (W-Modell): 250

5 Zur Auswertung siehe Kapitel 5

6 Siehe Anhang 1, Der Onlinefragebogen: Frage 9 und 10: 3f.

7 Siehe Anhang 5.1, Deutsche Gruppendiskussion: 42 Mexikaner sind kommunikativer, lebhafter, Absatz 1: 187

8 Siehe Anhang 5.1, Deutsche Gruppendiskussion: 50 Rolle der Mama, Absatz 5: 196

9 Siehe Anhang 5.1, Deutsche Gruppendiskussion: 08 Nach dem Weg fragen, Absatz 8: 159

10 Siehe Anhang 5.1, Deutsche Gruppendiskussion: 33 Nicht-Nein-Sagen-Können und unechte Einladungen: 177 18

11 Grafik siehe Anhang 7, Grafik aus Holliday et al.: 249

12 Siehe Anhang 5.1, Deutsche Gruppendiskussion: 34 Lärm - Lautstärke 1: 180

13 Die hier aufgeführten Erklärungen sind dem Glossar in Hofstede, 2005: 399 - 404 entnommen und frei wiedergegeben.

14 Grafische Darstellung des unterschiedlichen Turntakings siehe Anhang 10, Grafiken zum Turntaking, Trompenaars: 247

15 Grafische Veranschaulichung siehe Anhang 6, Grafiken zu Modellen von Friedemann Schulz von Thun : Die vier Seiten einer Nachricht: 246

16 Ein weiteres Beispiel, dem Buch von Dagmar Kumbier entnommen, zum unterschiedlichen Verstehen der vier Seiten einer Nachricht ist im Anhang 6.2: 246 grafisch dargestellt.

17 Grafische Darstellung, siehe Anhang 6.1: 244

18 Grafische Darstellung, siehe Anhang 6.1: 245

Ende der Leseprobe aus 394 Seiten

Details

Titel
Interkulturelle Probleme von Deutschen in Mexiko
Untertitel
Eine qualitative Untersuchung
Hochschule
Universität Hildesheim (Stiftung)
Veranstaltung
Internationales Informationsmanagement
Note
2,7
Autor
Jahr
2010
Seiten
394
Katalognummer
V215838
ISBN (eBook)
9783656444756
ISBN (Buch)
9783656445289
Dateigröße
4799 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
interkulturelle, probleme, deutschen, mexiko, eine, untersuchung
Arbeit zitieren
Magister Sara Müller (Autor:in), 2010, Interkulturelle Probleme von Deutschen in Mexiko, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/215838

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