Die Rolle der Religion für russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler


Dossier / Travail, 2020

16 Pages


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Russlanddeutsche Migration
2.1 Historische Grundzüge Russlanddeutscher Migration
2.2 Russlanddeutsche und die Religion
2.3 Die Sonderrolle der Mennoniten

3. Zusammenfassung und Fazit

4. Quellenverzeichnis

5. Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Sie ist das Opium des Volkes“. Karl Marx Einstellung über die Religion prägte die Ideologie des Kommunismus. Die Volksgruppe der Russlanddeutschen erlebte diese Ideologie am eigenen Körper. Sie wurde spürbar durch die antikirchliche Politik der Sowjetunion geprägt. In der folgenden Seminararbeit soll die Rolle der Religion für die Russlanddeutschen Aussiedler- und Spätaussiedler erörtert werden. Berechtigung für das Forschungsinteresse bietet vor allem die zeitliche Nähe der größten Ausreisewelle russlanddeutscher Aussiedler seit Mitte der 1980er Jahre und die mangelnde Literatur aus der historischen Perspektive. In einem ersten Schritt sollen Grundlagen der russlanddeutschen Migration seit dem Manifest der Zarin Katharina II. bis zur massenhaften Ausreisebewegung in den 1990er Jahren erläutert werden. Grundlegende Literatur ist hierbei György Dalos „Geschichte der Russlanddeutschen“ und der Sammelband „Aussiedler- und Minderheitenpolitik in Deutschland. Bilanz und Perspektiven“. Im darauffolgenden Schritt soll die Rolle der Religion im historischen Kontext geklärt werden. Spielte die Religion wirklich eine so starke Rolle bei der Migration der Aussiedler? Quellen sind hierbei beispielsweise das Manifest der Zarin Katharinas, welches die russlanddeutsche Migration ins russische Zarenreich einleitete, ein russlanddeutsches christliches Lied oder Statistiken. In einem nächsten Schritt wird die Religiosität der gesonderten Gruppe der Mennoniten betrachtet und erörtert. Vor allem der in der Forschung oft thematisierte Aspekt der sozialen Segregation wird besprochen und auf das Thema bezogen. Forschungsliteratur sind hierbei die Monographie „Religion als Ressource und Restriktion im Integrationsprozess: Eine Fallstudie zu Biographien freikirchlicher Russlanddeutscher“ von Frederik Elwert, Walter Vogelsangs Aufsatz „Religiöse Segregation und soziale Distanzierung - dargestellt am Beispiel einer Baptistengemeinde zugewanderter Spätaussiedler“ oder Vladimir Ilyins Aufsatz „Religiosität als Faktor für die Immigrationspraxis ethnischer Deutscher in die Bundesrepublik Deutschland“ In einem letzten Schritt sollen die Forschungsergebnisse zusammengefasst werden und die Unterschiede der Rolle von Religion und Glaube innerhalb der Volksgruppe der Russlanddeutschen hervorgehoben werden.

2. Russlanddeutsche Migration

2.1 Historische Grundzüge Russlanddeutscher Migration

Als die Einwanderungszahlen von russlanddeutschen Aussiedlern in Deutschland Mitte der 1980er Jahre mit Beginn von Glasnost und der Perestroika anfingen rapide zu steigen und 1994 ihren Höhepunkt mit 213.214 Eingewanderten erreichten1, wurde sichtbar, dass der offizielle Slogan der deutschen Aussiedlerpolitik: „ als Deutsche unter Deutschen leben“, welcher auch die Erwartungen vieler Aussiedler widerspiegelte, nicht so einfach durchzuführen war, wie erhofft. Aussiedler sollten nicht als Fremde nach Deutschland kommen, sondern unter gleichen Bedingungen leben wie jeder Bürger der Bundesrepublik.2 Bei der Einreise und der folgenden Integration wurden allerdings neben Gemeinsamkeiten auch Unterschiede zwischen der bestehenden deutschen Bevölkerung und der großen Masse an Aussiedlern sichtbar. Um diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten erkennen und verstehen zu können muss man der Frage nachgehen weshalb diese Menschen ab Mitte der 1980er Jahre in Strömen nach Deutschland migrierten und wieso ethnische Deutsche überhaupt in das russische Zarenreich und die ehemalige Sowjetunion wanderten.

Obwohl es bereits im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit deutsche Bürger in Russland gab3, begann die Masseneinwanderung der Deutschen ins Zarenreich mit dem Manifest der Zarin Katharina II. von 1763, das sich „formal an alle immigrationswilligen Ausländer“4 wendete. Adressiert war allerdings primär die deutsche Bevölkerung, die mit zahlreichen Zugeständnissen, wie einer 30-jährigen Steuerfreiheit oder der Erlaubnis mit ihren Waren zu handeln, von der Kolonisierung überzeugt werden sollten5. So stieg die Zahl der deutschstämmigen Kolonisten zwischen 1788 und 1857 im Gebiet um die Stadt Saratow an der Wolga von 18.639 auf 112.845.6 Der ungarische Historiker György Dalos zitiert, um den rasanten Anstieg der Kolonistenzahlen zu erklären, zeitgenössische Fachmänner.

Demnach sind „Weite der Ländereien, Freiheit bei der Ausübung verschiedener nützlicher Gewerbe, Fleiß, guter Zustand der Sittlichkeit, wohlsorgende Verwaltung und Ruhe eines friedlichen Lebens“7 ausschlaggebend für die Bevölkerungsexplosion. Insgesamt stieg die Zahl der Sowjetdeutschen auf eine Zahl von etwa 1.936.000, was aus einer offiziellen Volkszählung von 1979 hervorging.8.

Die Einreise der Deutschstämmigen aus Russland nach Deutschland bedurfte einigen Rahmenbedingungen. Grundlegend ist Artikel 116 des Grundgesetzes, welcher Flüchtlinge oder Vertriebene allen anderen Deutschen gleichstellt, sobald sie als deutsche Volkszugehörige oder als Angehörige von Deutschstämmigen eingereist sind. Ergänzt wurde dieser Artikel durch das Bundesvertriebenengesetz vom 19. Mai 1953. Dieses begründete den Anspruch auf Aufnahme eines Aussiedlers, der aus dem Ostblock geflohen ist, solange er als deutscher Staatsangehöriger oder als deutscher Volkszugehöriger gilt. Darunter fällt die Bekennung zum deutschen Volkstum und dem dazugehörigen Bekenntnis zu beispielsweise Sprache oder Kultur. Das im Juli 1990 verabschiedete Aussiedleraufnahmegesetz war eine Reaktion auf die steigenden Aussiedlerzahlen und legte fest, dass das Aufnahmeverfahren nun vom Herkunftsland aus geregelt werden musste. Aufnahmeanträge, die Ausreisewillige in der Sowjetunion ausfüllten, wurden dann vom Bundesverwaltungsamt geprüft. Folgen der Einführung des Aussiedleraufnahmeverfahrens waren ab 1990 eine sinkende Einreisezahl mit gleichzeitiger Steigerung der Einreiseanträge. Mit dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz endete die Nachkriegszeit und gleichzeitig wurde die Unterscheidung zwischen Aussiedler und Spätaussiedler geregelt. Unter Letztere fielen diejenigen Aussiedler, die nach dem 31.Dezember 1992 ihr Herkunftsland verließen. Außerdem wurden eine Steuerung und Begrenzung der Aussiedleraufnahmen auf 226.000 Personen pro Jahr eingeführt.9 Die Migration der Spätaussiedler erfolgte in den 90er-Jahren häufig als Kettenmigration. Neuankommende ließen sich dort nieder, wo bereits Verwandte oder Bekannte lebten.10 Insgesamt reisten auf diesem Wege in den 90er Jahren, der Zeit mit der größten Aussiedler- und Spätaussiedlerwanderungen, ungefähr 1,8 Millionen Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland ein.11

Die Gründe für den Wunsch einer Ausreise nach Deutschland, in das Land ihrer Vorfahren, waren für die Russlanddeutschen sehr vielfältig. Außer offensichtlichen wirtschaftlichen Beweggründen, die Russlanddeutsche vor dem Hintergrund der schwachen Wirtschaft und Perspektive in der Zeit von Glasnost und Perestroika zur Ausreise drängten, waren vor allem weit in die Vergangenheit reichende Faktoren, sowie weltpolitische Veränderungen im Ostblock und der damit einhergehenden allmählichen Lockerung der Ausreisebestimmungen, verantwortlich für die Emigrationsstimmung.12 Als einer dieser weit in die Vergangenheit reichenden Faktoren kann die ständige Diskriminierung der deutschstämmigen Bevölkerung in dem Zarenreich und der späteren Sowjetunion gesehen werden. Beispiele hierfür sind die Pogrome gegen alles Deutsche in Moskau im Jahre 1915.13 Ein weiteres späteres Beispiel war die alltägliche Diskriminierung der russlanddeutschen Dorfbevölkerung durch Verwendung von negativ konnotierten Wörtern wie „Kulak“, womit in Sowjetrussland etwas wohlhabendere Bauern oder die „dörfliche Bourgeoisie“, wie Dalos es formuliert, gemeint waren.14 Des Weiteren ausschlaggebend war der allgemeine Kollaborationsvorwurf mit Hitlerdeutschland, den die Sowjetführung um Stalin 1941 zusammen mit der massenhaften Deportation der sowjetdeutschen Bevölkerung nach Sibirien, in den Altai und nach Zentralasien verkündete und diese damit der Allgemeinschuld bezichtigte. Im Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Union der SSSR über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen vom 28. August 1941 lässt sich unter anderem lesen, dass „unter der [.] deutschen Bevölkerung Tausende und aber Tausende Diversanten und Spione“15 wohnen würden. Außerdem wird der deutschen Bevölkerung vorgeworfen, dass keiner von ihnen „die Sowjetbehörden in Kenntnis gesetzt“16 habe. Ein Grund, auf den die Ausreisestimmung der Russlanddeutschen zurückzuführen ist und der mit der Deportation zusammenhängt, ist die mehrmals enttäuschte Hoffnung auf eine Rückkehr in die ehemalige Wolgarepublik, oder die Gründung einer eigenen Autonomie nach dem Zweiten Weltkrieg. So reisten 1965 zwei Delegationen, bestehend aus russlanddeutschen Interessenvertretern, nach Moskau und forderten eine Wiederherstellung der Wolgarepublik. Die Gespräche mit hohen Mitgliedern der Kommunistischen Partei blieben allerdings ohne Ergebnis. So geht aus dem aufgezeichneten Gespräch der Vertreter mit dem Vorsitzenden des Obersten Sowjets Anastas Mikojan heraus, dass die Wiederherstellung keine Option sei. Er sagte den Delegierten nur Hilfe bei der Schaffung deutscher Mittelschulen und deutscher Literatur zu.17 Im Mai 1979 gab es schließlich den Beschluss der Schaffung einer deutschen Autonomie in Nordkasachstan, welche allerdings aufgrund von Protesten der kasachischen Bevölkerung vor Ort scheiterte.18 Schließlich gab es 1989 erneut russlanddeutsche Bestrebungen einer Wiederherstellung der Wolgaautonomie zu erreichen, welche erneut von russischen Protesten und aufgrund Ablehnung seitens der lokalen Machthabern, nicht zustande kam.19 Ein weiterer wichtiger Faktor, der die Aussiedler zur Migration nach Deutschland bewegte, war die deutsche Sprache. Nach Jürgen Hensen ist die Sprache „ein wesentlicher Faktor der Ich- und der Wir-Identität und zugleich als wichtigste Kommunikationsform [...] Integrationsvoraussetzung“20. In der Sowjetunion konnte man zwischen 1970 und 1979 eine sinkende Zahl von 66,8 auf 57% derer erkennen, die Deutsch als ihre Muttersprache angaben.21 Die Zahl der Russlanddeutschen, die nach 1955 geboren wurden und angeben sich gut auf Deutsch verständigen zu können, lag bei einer Umfrage sogar bei nur 6,7%.22 Daher kann der Wunsch nach Erhaltung der deutschen Sprache, als Stellvertreter für Tradition und Erinnerung, als ein weiterer Grund gesehen werden. Trotz diesem prozentualen Rückgang der deutschen Sprachkompetenz unter den ethnischen Deutschen, merken Rainer Münz und Rainer Ohliger an, dass trotz einer klar erkennbaren Russifizierung keine komplette Assimilation bei den Russlanddeutschen in der Sowjetunion stattfand. Dies lasse sich an der religiösen Divergenz zur russischen Bevölkerung erkennen. Die meisten Russlanddeutschen blieben während der Sowjetunion größtenteils lutherisch, römisch-katholisch, oder gehörten Freikirchen wie den Mennoniten oder Pfingstlern an, während die russische Bevölkerung der russisch-orthodoxen Kirche angehörte oder atheistisch war.23 Das ist bemerkenswert und nennenswert, da Russlanddeutsche jahrelang unter der antikirchlichen Propaganda und Politik der Sowjetführung litten und trotzdem den, für Russlanddeutsche charakteristischen Konfessionen treu blieben, obwohl sie mit Repressionen und Unterdrückung zu rechnen hatten. György Dalos beschreibt die Politik der Sowjetführung aussagekräftig als „Krieg gegen Gott“24. Vor dem Hintergrund dieser schwierigen Lage, geprägt von der Deportation in Gebiete fern der Heimat, der politischen Verfolgung von Geistlichen, dem Verbot und Verurteilung von Glauben in der Sowjetunion, soll im Folgenden die Rolle der Religion für die Russlanddeutschen erörtert werden.

2.2 Russlanddeutsche und die Religion

Die wichtige Rolle der Religion für die Russlanddeutsche lässt sich schon an den Gründen für die massenhafte Auswanderung in Folge des Manifests der Zarin Katharina erkennen. So wurde den Siedlern sowohl Freiheit bei der Religionsausübung als auch die „Freyheit, Kirchen und Glocken- Türme zu bauen und dabey nöthige Anzahl Priester und Kirchendiener zu unterhalten“25 zugesagt. Die Russlanddeutschen erlebten in ihrer Geschichte Zeiten der Glaubensfreiheit und der Anerkennung, aber auch eine Zeit der christlichen Verfolgung ab den 1920er Jahren. Die Religion spielte sowohl im Zarenreich, als auch in der späteren Sowjetunion eine wichtige Rolle bei der Kultur- und Nationalitätsbewahrung der Russlanddeutschen. So waren deutschsprachige Gottesdienste oft der kulturelle Faden in das Land der Vorfahren.26 Vladimir Ilyin beschreibt das Verhältnis zwischen der ethnisch deutschen Bevölkerung zur Religion als ein wechselwirksames: „Auf der einen Seite drängte die Sorge um die Reproduktion der Ethnizität die Deutschen zu >ihrer< Religion; auf der anderen Seite forderte die Angst um die Erhaltung des >wahren Glaubens< die Reproduktion der deutschen Ethnizität.“27. Einfluss auf das Verhältnis zwischen Russlanddeutschen und der Religion nahm außerdem die antireligiöse Politik der Sowjetführung. Hierfür gibt es mehrere Beispiele. So stand bereits in der Verfassung der 1924 gegründeten Wolgarepublik, dass „Mönche, Bedienstete der Kirchen und religiöser Kulte“28 weder wählen noch gewählt werden durften. Der Geistliche kristallisierte sich langsam als Hauptgegner des atheistischen Regimes heraus. Im Zuge dessen wurde die Massenorganisation der Bund der Gottlosen gegründet, um einen Kulturkampf gegen alle Konfessionen voranzutreiben.29 Die antikirchliche Politik wurde zu dieser Zeit andernorts bereits rigoros durchgesetzt. So lässt sich in einem Erlass der Kommunistischen Partei der Autonomen Sowjetrepublik Turkestan aus dem Jahre 1924 bereits ein Verbot von religiösen Versammlungen von unter 18-Jährigen und der Lehre des Gesetzes Gottes für deutsche Geistliche erkennen.30 Der Krieg gegen Gott ist beispielsweise auch in der Eröffnung des ersten Krematoriums in Moskau 1926 erkennen. Die Feuerbestattung sollte Glauben an körperliche Auferstehung zerstören. Da kommt es fast paradox daher, dass gleichzeitig Lenin einbalsamiert wurde und am Roten Platz der Bevölkerung offen aufgebahrt wurde.31 Die Kampagne Angriff auf die Religion erreichte schließlich 1929 die Wolgarepublik. Im Zuge dieser wurden zum Beispiel die Glocken der lutherischen Kirche in Marxstadt entfernt und der örtlichen Traktorenfabrik zur Einschmelzung bereitgestellt. In der Kirche wurde an Heiligabend von örtlichen Parteikadern ein Kulturpalast eröffnet. Die Kampagne gipfelte schließlich in öffentlichen Prozessen von lutherischen und katholischen Priestern und Laien.32 Die starke Verfolgung gegen die „deutschen Kirchen“33 drängte die Kirche laut Ilyin in den Untergrund und führte zur Entstehung illegaler Kirchen im privaten Raum. Diese Gebetshäuser entwickelten sich zu Zentren kulturellen und geistlichen Widerstands. Der Migrationsbeauftragte der evangelischen Kirche Rheinland-Pfalz spricht der Existenz von Untergrundkirchen eine große Rolle bei der Identitässtiftung zu und spricht davon, dass die deportierten Deutschen nur wegen dieser Untergrundreligiosität überlebten.34 Die Kirchen verstärkten durch die Nutzung deutschsprachiger Bibeln und Liedbücher, neben dem Glauben auch die deutsche Sprachkompetenz und Kultur.35 Generell fand in den Kolonien und der Sowjetunion ein religiöser Transformationsprozess statt, der sich, aufgrund des Mangels an ausgebildeten Priestern und Predigern, durch eine ausgeprägte Laienreligiosiät mit starker Bibelnähe auszeichnete.36 Generell lässt sich außerdem sagen, dass die starke Religiosität der Russlanddeutschen besonders in den ländlichen Gebieten vorherrschte. In urbanen Gebieten lebende Russlanddeutsche waren einer stärkeren Assimilation ausgesetzt, was unter anderem zu Mischehen mit Einheimischen führte und zum Verlust der deutschen Sprachkompetenz beitrug. Auf die Frage nach der Rolle der Religion für ethnische Minderheiten formuliert der Theologe Alfons Nossol die These, dass die Konfessionalität neben der Sprache ein wesentlicher Faktor für die kulturelle Identität der Minderheit ist. Außerdem erklärt er das Heimatgefühl einer Minderheit als emotionale Identifizierung mit etwas aus der Kindheit Vertrauten. Darunter fallen regionale Sitten, Traditionen und Feste, aber auch Kirchen oder Friedhöfe. Zum Schluss hält Nossol noch fest, dass sich die identitätsstiftende Kraft der Konfessionalität und des Glaubens am stärksten entfaltet in Zeiten des jahrhundertelangen Verlustes der nationalen Autonomie.37 Das lässt sich, vor dem Hintergrund der antireligiösen Politik der Sowjetunion und der Deportation 1941 sehr gut auf die Russlanddeutschen beziehen. Die starke Verbindung zwischen dem Wunsch nach einer Heimat und der starken Religiosität der Russlanddeutschen lässt sich an einem Wolgadeutschen Lied erkennen, in dem es heißt: „Jesu geh voran auf der Lebensbahn, [...] führ uns an der Hand bis ins Vaterland.“38 Den Zweiten Weltkrieg und die Deportation sieht Alena Petrova ebenfalls als Zäsur in der Geschichte der Religiosität der Russlanddeutschen. So zerfielen die vorkriegszeitlichen Siedlungen und Kolonien mit einheitlichen Konfessionen im Zuge der Deportation und wurden über die ganze Sowjetunion verteilt. Danach war eine freie Religionsausübung im kommunistischen Land nicht mehr möglich. Sie spricht dem Zelebrieren christlicher Feiertage, ähnlich wie Nossol, ebenfalls identitätsstiftende Funktionen zu. Diese werden aber nicht primär als christliche Feiertage, sondern als deutsche Feiertage gefeiert. Sie sind Teil des Brauchtums und dienen der Abgrenzung gegenüber anderen Ethnien und Religionen.39 Daraus lässt sich bereits eine Tendenz der aktuellen Forschung erkennen. Diese folgt der Annahme, dass die Mehrheit der russlanddeutschen Aussiedler, die ab den 80er Jahren nach Deutschland einreisten, wenig Bezug zur Religion hat, da sie durch die religionskritische Gesellschaftspolitik geprägt war. Die mehrheitliche Religionsferne zeichne sich vor allem bei den Aussiedlern aus, die den Landeskirchen angehören.40 Dabei nimmt die Religion trotzdem Einfluss auf die Einreisepraxis in die Bundesrepublik. So war im bereits genannten Bundesvertriebenengesetz von 1953 festgehalten, dass man zum deutschen Volkstum zählt, wenn man sich zu Sprache, Erziehung und Kultur bekennt, worunter man auch ein Bekenntnis zur Religion versteht. In diesem Zuge wurde bei der Einreise sowohl die Religionszugehörigkeit als auch religiöses Wissen, beispielsweise in Form von Fragen über religiöse Feste getestet.41 Elwert zitiert hierzu Ilyin, welcher sagt, dass die Zurechnung zu einer Konfession bei der Einreise eine mehrheitliche „nutzenorientientierte Handlungsstrategie“ sei. Dies relativiere die hohen Zahlen der Russlanddeutschen, die bei der Einreise nach Deutschland Angehörige einer Kirche waren.42 So gaben bei einer Umfrage von Gerald Gredinger nur 8,4% der Aussiedler und Spätaussiedler an, aus religiösen Gründen migriert zu sein. Dem entgegen stehen 47,5% die als Hauptgrund den Wunsch an, „als Deutscher und Deutschen leben“.43 Die ältere Forschung stand der Frage noch anders gegenüber: So schrieb Johannes Reimer 1989 zum Beispiel, dass der Wunsch nach Glaubensfreiheit eine starke Triebkraft für die Auswanderungswünsche bildete und dies der Hauptgrund für die Mehrheit der Aussiedler sei.44 Auch wenn die Zahl derer, die Glauben als wichtigsten Grund für die Aussiedlung nennen niedrig ist, spielten Kirchen durch karitative Aktionen bei der Integration eine wichtige und helfende Rolle.45 Trotz der geringen Religionsnähe, von vor allem jungen Aussiedlern, ziehe es auch Menschen aus religionsfernen Familien aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland in die Kirchen. Sie bieten Halt und Schutz und helfen vor allem älteren Menschen bei der Bewältigung von der Angst vor dem Tod.46 Generell bietet die Kirche in Zeiten vom Leben in einer ungewohnten Umgebung einen sozialen Raum, der über den Gottesdienst hinausgeht, und dabei hilft Kontakte zu knüpfen und Menschen mit ähnlichen Geschichten kennenzulernen.

[...]


1 Vgl. Elwert, Frederik, Religion als Ressource und Restriktion im Integrationsprozess: Eine Fallstudie zu Biographien freikirchlicher Russlanddeutscher, Wiesbaden 2015, S. 90.

2 Vgl. Panagiotidis, Jannis, Germanizing Germans: Co-ethnic Immigration and Name Change in West Germany, 1953-1989 in: Journal of Contemporary History 50 (4) (2015), S.854-874, hier: S. 863f.

3 Vgl. Reimer, Johannes, Aussiedler sind Anders. Rußlanddeutsche unter uns, Wuppertal und Kassel 1989, S. 13f.

4 Dalos, György, Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart, München 2014, S. 15.

5 Vgl. Ebd.

6 Vgl. Ebd. S. 23.

7 Ebd. S. 23.

8 Vgl. Ebd. S. 247.

9 Vgl. Hensen, Jürgen, Zur Geschichte der Aussiedler- und Spätaussiedleraufnahme, in: Bergner, Christoph (Hrsg.), Aussiedler- und Minderheitenpolitik in Deutschland. Bilanz und Perspektiven, München 2009, S. 47-62, hier: S. 48-54.

10 Vgl. Elwert, Religion, S. 108.

11 Vgl. Dalos, Geschichte, S. 290.

12 Vgl. Hensen, Aussiedler- und Spätaussiedleraufnahme S. 50.

13 Vgl. Dalos, Geschichte, S. 59.

14 Vgl. Ebd. S. 139f.

15 Ebd. S. 177.

16 Ebd. S. 177.

17 Vgl. Ebd. S. 235.

18 Vgl. Ebd. S. 252f.

19 Vgl. Ebd. S. 275-278.

20 Hensen, Aussiedler-, und Spätaussiedleraufnahme, S. 56.

21 Vgl. Dalos, Geschichte, S. 249.

22 Vgl. Hilkes, Peter, Sehnsucht nach der Wolgarepublik, in: Damals 1 (2015), S.10-13, hier: S. 13.

23 Vgl. Münz, Rainer/ Ohliger, Rainer, Long-Distance Citizens. Ethnic Germans and Their Immigration to Germany, in: Schuck, Peter/ Münz, Rainer (Hrsg.),Paths to inclusion. The Integration of Migrants in the United States and Germany, New York 1998, S.155-201, hier: S. 163.

24 Dalos, Geschichte, S. 134.

25 Stumpp, Karl, Die Auswanderung aus Deuschland nach Russland in den Jahren 1763 bis 1862, o. O., 1995, S. 16.

26 Vgl. Ilyin, Vladimir, Religiosität als Faktor für die Immigrationspraxis ethnischer Deutscher in die Bundesrepublik Deutschland, in: Ipsen-Peitzmeier, Sabine/ Kaiser, Markus (Hrsg.), Zuhause Fremd: Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland, Bielefeld 2006, S.275-306, hier S. 282f.

27 Ebd. S. 281.

28 Dalos, Geschichte, S. 129.

29 Vgl. Ebd.

30 Vgl. Ebd. S. 130.

31 Vgl. Ebd. S. 135.

32 Vgl. Ebd. S. 137f.

33 Ilyin, Religiosität, S. 282.

34 Vogelsang, Waldemar, Religiöse Segregation und soziale Distanzierung- dargestellt m Beispiel einer Baptistengemeinde zugewanderter Spätaussiedler, in: Ipsen-Peitzmeier, Sabine/ Kaiser, Markus (Hrsg.), Zuhause Fremd: Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland, Bielefeld 2006, S. 151-172, hier: S. 165.

35 Vgl. Ilyin, S. 282.

36 Vgl. Elwert, Religion, S. 82.

37 Vgl. Nossol, Alfons, Kulturelle Identität und Konfessionalität, in: Bergner, Christoph (Hrsg.), Aussiedler- und Minderheitenpolitik in Deutschland. Bilanz und Perspektiven, München 2009, S.101-109, hier S. 102f.

38 Wolga Gesangbuch, Sammlung christlicher Lieder für die öffentliche und häusliche Andacht, Chicago 1942, S. 339.

39 Vgl. Petrova, Alena, Zur kulturellen Identität der Russlanddeutschen, in: Heidelberger Dokumente, Universitätsbibliothek Heidelberg (18.01.2003), URL: https://archiv.ub.uni- heidelberg.de/volltextserver/4192/ (abgerufen am 14.02.2020), S. 13f.

40 Vgl. Elwert, Religion, S. 22f.

41 Vgl. Ilyin, Religiosiät, S. 283.

42 Vgl. Elwert, Religion, S. 119.

43 Vgl. Gerdinger, Gerald, Die Bedeutung der Religion für den Identifikations- und Migrationsprozess der Russlanddeutschen, in: Kaiser, Markus/ Schönhuth, Michael (Hrsg.), Zuhause? Fremd?: Migrations- und Beheimatungsstrategien zwischen Deutschland und Eurasien, Bielefeld 2015, S. 91-105, hier: S. 99.

44 Vgl. Reimer, Aussiedler, S. 64f.

45 Vgl. Hensen, Aussiedler- und Spätaussiedleraufnahme, S. 51.

46 Vgl. Ilyin, Religiosität, S. 286.

Fin de l'extrait de 16 pages

Résumé des informations

Titre
Die Rolle der Religion für russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler
Université
University of Cologne
Auteur
Année
2020
Pages
16
N° de catalogue
V540561
ISBN (ebook)
9783346179630
ISBN (Livre)
9783346179647
Langue
allemand
Mots clés
aussiedler, religion, rolle, spät-
Citation du texte
Phillip Dreiling (Auteur), 2020, Die Rolle der Religion für russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/540561

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